"Den Amerikanern hat jede Strategie gefehlt"

"Das Land belohnt keine Besatzer, schon seit Jahrhunderten nicht", sagt Buchautor und Afghanistan-Kenner Ahmed Rashid.
"Das Land belohnt keine Besatzer, schon seit Jahrhunderten nicht", sagt Buchautor und Afghanistan-Kenner Ahmed Rashid.

Der Westen zieht nach 20 Jahren aus Afghanistan ab, doch der Konflikt bleibt - und die Taliban sind stark wie lange nicht. Und jetzt? Der renommierte Taliban-Experte Ahmed Rashid spricht im Interview mit Tobias Matern über Fehler des Westens und die künftige Rolle der Taliban in Afghanistan.

Von Tobias Matern

Der Westen verlässt Afghanistan - haben die USA und ihre Verbündeten ihre Ziele erreicht?

Ahmed Rashid: Sie haben das Ziel erreicht, den internationalen Terror zurückzudrängen, aber sie haben weder Frieden noch Stabilität nach Afghanistan gebracht. Das Land belohnt keine Besatzer, schon seit Jahrhunderten nicht. Den Taliban hat es genützt, dass sie einen sicheren Hafen hatten, der ihnen in den 1990er-Jahren half, in Kabul an die Macht zu kommen, und der ihnen nach ihrem Sturz 2001 erlaubte, wieder so stark zu werden.

Sie spielen auf das Nachbarland Pakistan an. Die Regierung in Islamabad betont immer wieder, ihr Einfluss auf die Taliban sei nicht so massiv, wie vom Westen behauptet.

Rashid: Da würde ich widersprechen. Die ganze Führungsebene der Taliban lebt dort, sie sind mit Frauen von dort verheiratet, ihre Kinder gehen dort zur Schule, viele ihrer Kinder haben Universitätsabschlüsse und arbeiten dort. Wenn die Taliban aus Afghanistan nach Pakistan kommen, gehen sie direkt in die Stadt Quetta, um sich dort mit ihren Führern abzustimmen.

Die Taliban haben Afghanistan von 1996 bis 2001 mit harter Hand regiert. Haben sie sich im Vergleich zu damals verändert?

Rashid: Sie haben sich modernisiert, allerdings trifft das nicht auf ihre Kriegsstrategie zu. Und sie setzen nach wie vor darauf, ein islamisches Rechtssystem zu etablieren, was die anderen Afghanen aber nicht akzeptieren werden.

20 Jahre war der Westen in Afghanistan, das Land ist nach wie vor nicht sicher. Was ist schiefgelaufen?

Rashid: Den Amerikanern hat jede Strategie gefehlt. Sie haben weder einen eindeutigen militärischen, wirtschaftlichen noch politischen Plan verfolgt. Durch den Krieg im Irak (begonnen im Jahr 2003; Anm. d. Red.) ist dann die amerikanische Führungsrolle in Afghanistan geschmälert worden, die Planungen waren den Vereinten Nationen überlassen. Ich glaube aber, die Fehler des Westens gehen weiter zurück, sie haben in den 1990er-Jahren die Taliban ignoriert und nicht als Gefahr gesehen. Sie haben damals keinerlei Annäherung gesucht. Als die Taliban dann 1996 Kabul eingenommen haben, hatte sich die internationale Gemeinschaft von Afghanistan vollständig abgewendet.

Mit welchen Folgen?

Rashid: Die regionalen Mächte durften ihre bevorzugten Fraktionen im Land bewaffnen und mit Geld versorgen. Viele Länder traten auf den Plan - Iran, Pakistan, Russland, die zentralasiatischen Staaten, es entstand ein Gerangel um Afghanistan. Nach dem Sturz der Taliban 2001 hat der Westen dann den Fehler gemacht, anstatt die Hand nach den Taliban auszustrecken, sie zu ignorieren und beiseitezuschieben. Da hat Pakistan es als sein strategisches Interesse definiert, die Taliban wiederzubeleben.

Pakistans Premier Imran Khan trifft sich mit Taliban-Führern. (Foto: Pakistan Prime minister office/AFP)
Afghanistan als Hinterhof pakistanischer Interessen: Die Regierung in Islamabad betont immer wieder, ihr Einfluss auf die Taliban sei nicht so groß, wie vom Westen behauptet. Für den Afghanistan-Experten Ahmed Rashid besteht jedoch kein Zweifel daran, dass Pakistan die Taliban als eine wichtige Karte im geopolitischen Spiel am Hindukusch betrachtet.

Die Taliban haben dem Westen militärisch die Stirn geboten und diplomatisch überrascht, indem sie mit den Amerikanern einen Abzug vereinbart haben.

Rashid: Sie haben dazugelernt. Die Taliban haben zum Beispiel den Umgang mit den Medien verbessert, die sie in den 1990er-Jahren noch komplett verboten haben. Jetzt nutzen sie die Medien für ihre Zwecke. Sie treten deutlich kultivierter auf. Sie haben die Möglichkeit bekommen zu reisen, andere Länder zu besuchen, Allianzen zu schmieden. Alle Mitglieder der internationalen Gemeinschaft und auch die regionalen Mächte haben aber die klare Position, dass die Vision der Taliban, wieder ein Islamisches Emirat nach ihren Regeln zu errichten, nicht akzeptabel ist.

Die Taliban betonen bislang vor allem, was sie nicht wollen, zum Beispiel wollen sie nicht die Macht mit der Kabuler Regierung teilen.

Rashid: Das ist einer der Gründe, warum die Gespräche zwischen Taliban und afghanischer Regierung kollabiert sind. Wir wissen immer noch nicht genau, was die Taliban wollen. Ihre Kommentare zur Zukunft Afghanistans sind rätselhaft. Bislang sprechen sie sich vehement gegen Wahlen aus und sagen, der Islam erlaube dies nicht. Dabei erkennen sie wohl eher, dass sie nicht besonders beliebt in Afghanistan sind.

Interview: Tobias Matern

© Süddeutsche Zeitung 2021

Der britisch-pakistanische Journalist und Buchautor Ahmed Rashid gilt als einer der besten Kenner der Lage in Afghanistan und Pakistan. Für seine kritische Berichterstattung wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Er ist Autor des Buches "Sturz ins Chaos: Afghanistan, Pakistan und die Rückkehr der Taliban".

 

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