
Zwei Jahrzehnte am HindukuschUSA und NATO lassen Afghanistan im Krieg zurück
Joe Biden zog am 14. April 2021 einen Schlussstrich unter Amerikas längsten Krieg:
"Ich bin inzwischen der vierte US-Präsident, der die amerikanische Truppenpräsenz in Afghanistan zu verantworten hat: zwei Republikaner, zwei Demokraten. Ich werde die Verantwortung nicht an einen fünften weitergeben."
Biden hielt seine Ansprache im Treaty Room des Weißen Hauses. Im gleichen Zimmer hatte George W. Bush am 7. Oktober 2001 den US-geführten Angriff auf Afghanistan verkündet:
"Auf meinen Befehl hin hat das Militär der Vereinigten Staaten von Amerika mit Angriffen auf Ausbildungslager der Terroristen von Al-Kaida und militärische Einrichtungen des Taliban-Regimes in Afghanistan begonnen. Diese sorgfältigen, gezielten Aktionen sollen unterbinden, dass Terroristen Afghanistan als Operationsbasis benutzen, und sie sollen die militärischen Fähigkeiten des Taliban-Regimes treffen."
Zwischen diesen beiden Aussagen liegen 20 Jahre Wiederaufbau, Krieg und Terror.
Warum griffen die USA und ihre Verbündeten Afghanistan an?
Am Anfang stand die Vergeltung. Die USA machten den damaligen Al-Kaida-Führer Osama bin Laden für die Anschläge vom 11. September 2001 auf New York und Washington verantwortlich, durch die 2977 Menschen getötet wurden.
Die westliche Verteidigungsallianz NATO rief nur einen Tag nach den Anschlägen in den USA zum ersten Mal in ihrer Geschichte den Bündnisfall aus. Danach ist ein Angriff auf ein Mitgliedsland ein Angriff auf alle Mitglieder.
Am selben Tag verabschiedete der UN-Sicherheitsrat die Resolution 1368. Sie verurteilte den Terror von New York und Washington und bekräftigte das Recht auf individuelle oder kollektive Selbstverteidigung. Am 7. Oktober 2001 flogen die USA und Großbritannien die ersten Luftangriffe auf Afghanistan.

Warum blieben die US-geführten NATO-Truppen zwei Jahrzehnte im Land?
Darauf gibt es keine einfache Antwort. Wichtigstes US-amerikanisches Ziel war die Jagd auf Osama bin Laden und Al-Kaida. Doch ein klares Ausstiegsszenario gab es zu keinem Zeitpunkt.
Die Truppen blieben, als die USA 2003 einen weiteren Krieg im Irak begannen. Und sie blieben, nachdem US-Spezialkräfte am 2. Mai 2011 Osama bin Laden getötet hatten - allerdings nicht in Afghanistan, sondern im Nachbarland Pakistan. Dort hatte bin Laden offenbar jahrelang unbehelligt gelebt.
"Wir haben bin Laden vor einem Jahrzehnt Gerechtigkeit widerfahren lassen und sind danach ein weiteres Jahrzehnt in Afghanistan geblieben. Unsere Gründe zu bleiben, sind in dieser Zeit immer unklarer geworden", gab Joe Biden am 14. April 2021 bei seiner Ansprache im Treaty Room zu. "Amerikanische Truppen sollten nicht als Verhandlungsmasse zwischen den Kriegsparteien in anderen Ländern eingesetzt werden", betonte der Präsident.
Der Rückzug ist auch das Eingeständnis eigenen Versagens: Um Al-Kaida in Afghanistan auszuschalten, waren die USA und ihre Verbündeten von Anfang an Partnerschaften mit mächtigen afghanischen Warlords wie Mohammed Fahim und Abdul Rashid Dostum eingegangen. Beide wurden afghanische Vizepräsidenten, obwohl ihnen Kriegsverbrechen vorgeworfen werden.
Denn als die US-Koalition angriff, hatte Afghanistan bereits zwei Jahrzehnte Krieg hinter sich: die sowjetische Besatzung von 1979 bis 1989 und den direkt folgenden Bürgerkrieg, der bis heute ungelöst ist. Gegen die Rote Armee hatten die Warlords gemeinsam - auch mit US-Waffen - Widerstand geleistet. Doch danach konnten sie sich nicht auf eine gemeinsame Zukunft einigen. Ihr brutaler, rücksichtsloser Machtkampf zerstörte die Hauptstadt Kabul und führte zur Machtergreifung der Taliban.
Der Westen nahm auf diese Vorgeschichte keine Rücksicht. Die Gegner der Taliban wurden zu Partnern. USA und NATO investierten viel Geld, um ein neues, demokratisches Afghanistan aufzubauen. Verhandlungen mit den Islamisten lehnten die USA jahrelang strikt ab. Die Saat für neue Gewalt, neuen Terror und ausufernde Korruption war gelegt.
Das alles hat den Staatsaufbau erschwert, zu dem sich die internationale Gemeinschaft nach der Flucht der Taliban im Dezember 2001 entschloss. Die Fundamentalisten zogen sich nach Pakistan und ins afghanisch-pakistanische Grenzgebiet zurück. Von dort aus schlugen sie zurück. Erst vereinzelt, dann immer systematischer.
Die NATO-Mission wurde über die Jahre immer größer. Zwischenzeitlich waren fast 50 Nationen daran beteiligt. Doch aus einem Mandat, das eigentlich dem Schutz der Bevölkerung und dem Wiederaufbau dienen sollte, wurde ein Kampfeinsatz.
Der Afghanistan-Experte Ibraheem Bahiss, der auch die International Crisis Group berät, bringt es in einem Satz so auf den Punkt: "Wenn man die herrschenden Machthaber stürzt und durch die unterschiedlichsten Akteure ersetzt, die widersprüchliche Prioritäten und Ziele haben, dann scheint es kaum eine andere Wahl zu geben, als sich zu engagieren, um das Land vor dem Auseinanderfallen zu bewahren."
Doch nach zwei Jahrzehnten hat die US-Regierung entschieden, dass von Afghanistan, selbst wenn es zerfällt, keine so große Bedrohung mehr ausgeht, dass dort weiter Truppen stationiert sein müssten. Im Mittelpunkt amerikanischer Sicherheitsinteressen steht heute vor allem die Rivalität mit China.

Wie hoch ist die Zahl der Opfer?
Afghanistan zählt zu den tödlichsten Konflikten der Welt. Die UN-Mission in Afghanistan dokumentiert die Zahl der zivilen Opfer erst seit 2009. Danach wurden bis Ende 2020 fast 111.000 Zivilisten getötet oder verletzt. Für die meisten zivilen Opfer sind die Taliban und andere extremistische Gruppen verantwortlich. Doch auch die internationalen Truppen haben den Tod von vielen Zivilisten zu verantworten - vor allem durch den Beschuss afghanischer Dörfer mit Kampflugzeugen und Drohnen.
Die US-Armee verlor 2442 Soldaten, die Bundeswehr 59. Wie viele afghanische Soldaten und Polizisten getötet wurden, ist nicht bekannt. Die Zahl wird schon seit einigen Jahren aus Sicherheitsgründen geheim gehalten. Doch im Januar 2019 erklärte Präsident Ashraf Ghani beim Weltwirtschaftsgipfel in Davos, dass seit seinem Amtsantritt 2014 mehr als 45.000 afghanische Sicherheitskräfte ihr Leben verloren hätten.
Über die Zahl der getöteten Taliban-Kämpfer und anderer Extremisten liegen ebenfalls keine gesicherten Erkenntnisse vor. Nach Berechnungen des Costs of War Project der Brown University in Rhode Island und gemessen an aktuellen Medienberichten erscheinen deutlich mehr als 50.000 Tote realistisch.