Abgleiten in Krieg und Chaos

Die Invasion der Sowjetunion in Afghanistan 1979 und ihre zehnjährige Herrschaft über das Land haben dessen Abstieg in Armut und Gesetzlosigkeit eingeleitet. Die Menschen haben den Glauben an Institutionen verloren, vertrauen tendenziell nur noch Personen vom eigenen Stamm. Von Nawid Paigham

Von Nawid Paigham

Vier Jahrzehnte Bürgerkrieg und schlechte Regierungsführung – verschlimmert durch ausländische Interventionen – haben Afghanistan zu einem gescheiterten Staat gemacht. Das Land ist von Armut, Korruption und Gesetzlosigkeit geplagt. Die traumatisierte Bevölkerung hat mit täglicher Not, dürftigen staatlichen Diensten und grassierender Unsicherheit zu kämpfen.

Die Ursprünge der gescheiterten Staatlichkeit in Afghanistan liegen weit in der Vergangenheit. Der heutige schlechte Zustand des Landes hängt jedoch direkt mit der sowjetischen Invasion vor rund 40 Jahren, Ende Dezember 1979, zusammen. Sie folgte auf einen Putsch und sollte ein Machtvakuum füllen, führte jedoch zu einem zehnjährigen sowjetischen Protektorat und leitete den sowjetisch-afghanischen Krieg der 1980er Jahre ein. Die USA beobachteten die sowjetische Übernahme misstrauisch, da sie befürchteten, die Sowjetunion werde Afghanistan als Tor zum indischen Subkontinent und zum Nahen Osten nutzen.

Afghanistan als Schlachtfeld eines Stellvertreterkrieges

Afghanistan wurde so in den 1980ern zum Schlachtfeld eines Stellvertreterkrieges zwischen den beiden Supermächten des Kalten Krieges. Die USA intervenierten nicht direkt, unterstützten aber islamistische Fundamentalisten, die sich der von der Sowjetunion kontrollierten Regierung widersetzten.

Als sich die Sowjetunion 1989 aus Afghanistan zurückzog, waren Afghanistans Probleme noch lange nicht gelöst. Tatsächlich eskalierten sie weiter. Die Rote Armee hinterließ ein Machtvakuum ohne funktionierende Regierung. Niemand konnte Recht und Ordnung garantieren oder die Landesgrenzen verteidigen. Ein Land, das einst friedlich mit seinen Nachbarn handelte, wurde zu einem internationalen Zentrum für religiöse Extremisten.

1992 übernahmen die vom Westen unterstützten islamistischen Mudschaheddin (Dschihadisten) die Hauptstadt Kabul. Bis 1996 hatten die Taliban, eine Splittergruppe der Mudschaheddin, einen Großteil des Landes erobert. Weit davon entfernt, den erhofften Frieden und die erhoffte Ordnung zu bringen, begründete der Aufstieg der Taliban zur Macht ein neues schwarzes Kapitel der afghanischen Geschichte. Es folgten fünf Jahre harter totalitärer Herrschaft der Fundamentalisten.

Nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001 in den USA entriss Washington den Taliban gewaltsam die Macht. Dennoch kontrollieren die Islamisten noch immer einen Großteil des Landes. Sie kämpfen weiter gegen die afghanische Regierung, und weiterhin sterben Zivilisten. Die Trump-Administration hat in diesem Jahr ein Friedensabkommen mit den Taliban geschlossen, aber die Menschen in Afghanistan sind nicht sehr zuversichtlich, was dessen Erfolg betrifft. Es fehlen Vereinbarungen zur künftigen Machtteilung, zu Rechtsstaatlichkeit und Frauenrechten.

Die Opferzahlen der Kämpfe sind erschütternd. In den Jahren nach dem Krieg wurden zwischen 6,5 und 15 Prozent der Afghanen getötet, rund 20 Prozent wurden verwundet, und etwa 33 Prozent flohen aus dem Land. Unter den Geflohenen waren die am besten ausgebildeten Menschen des Landes.

Ruinierte Wirtschaft

Der lange und blutige Konflikt hat die afghanische Wirtschaft und Gesellschaft zerrissen. In ihrem Bericht von 2019 bezeichnete die US-Aufsichtsbehörde für den Wiederaufbau Afghanistans (Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction – SIGAR) das Land aufgrund einer Beurteilung von Wirtschaft, Rechtsstaatlichkeit und Sicherheitsbedingungen als „gescheiterten Staat“.

Afghanistan fehlt es noch immer an einer starken und verantwortlichen Regierung, die auf eigenen Beinen stehen kann. Die vergangenen 40 Jahre des Konflikts haben zum Zusammenbruch der Institutionen und zu einer erheblichen Schwächung des Rechtsstaats geführt. Das Vertrauen der Afghanen in ihre Machthaber hat stark nachgelassen. Kann ein Staat das Gesetz nicht durchsetzen, stehen die Menschen vor einer grausigen Wahl: Entweder sie nehmen das Gesetz selbst in die Hand, oder sie wenden sich zu ihrem Schutz an Mafia-ähnliche Milizen. In jedem Fall folgt Chaos.

Auch die afghanische Wirtschaft ist ruiniert. Infrastruktur und Kommunikationssysteme sind kaputt. Lebensmittel und medizinische Versorgung sind knapp, ebenso wie Strom und fließendes Wasser.

Laut der Datenbank World Economic Outlook des Internationalen Währungsfonds vom Oktober 2019 entspricht das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Afghanistan nur der Kaufkraft von 513 Dollar. Damit rangiert Afghanistan in diesem wichtigen Wohlstandsindikator auf Platz 177 von 186 Ländern, direkt hinter Sierra Leone und Togo.

Außerdem sind die Aussichten für den Wiederaufbau des Landes schlecht. Es fehlt an Fähigkeiten und Führung. Viele gebildete Afghanen haben das Land verlassen und sind nicht zurückgekehrt. Durch die massive Flucht aus den Konfliktgebieten entstand die bis zum Syrienkrieg größte Flüchtlingspopulation der Welt.

Gegeneinander aufgestachelt

Diejenigen, die im Land geblieben sind, sind von den Jahren des Krieges traumatisiert und schlecht gerüstet, um das Land wiederaufzubauen. Die meisten Afghanen waren vor dem sowjetisch-afghanischen Krieg Analphabeten, und die langen Kriegsjahre haben die Bildung erschwert. Viele junge Menschen, die unter der sowjetischen Besatzung aufgewachsen sind, kennen nichts als Krieg und wurden seither von machthungrigen Führern gegeneinander aufgestachelt.

Das alles hatte massive psychologische Folgen für die afghanische Bevölkerung. Nach der Intervention hätten die Afghanen Zeit gebraucht, um zu trauern, körperlich und geistig gesund zu werden und ihre Städte, Dörfer und Häuser langsam wieder aufzubauen. Diese Zeit bekamen sie nicht. Erschwerend kommt hinzu, dass den Menschen in den von Islamisten kontrollierten Gebieten die wenigen einfachen Traditionen und Glücksquellen, die sie noch haben, wie Musik und Tanz, verboten sind.

Die Menschen können nicht gesund werden, weil Krieg und Zerstörung weitergehen. Ihnen fehlt es an einer effektiven Regierung, die ihre Bedürfnisse angesichts von Verlust, Trauer und Wut versteht. Ausländische Mächte, die in Afghanistan intervenierten, waren der Aufgabe auch nicht gewachsen. Die Regierungen, die sie unterstützten und finanzierten, waren schwach. Afghanen sind immer weniger bereit, Gesetze zu befolgen und Verantwortung zu übernehmen.

Abgesehen von einer Tendenz zur Gesetzlosigkeit haben die jahrzehntelangen Konflikte Ansätze von Kriegslust und Aggression in einem einst friedlichen Volk gefördert. Es gibt Widerstand gegen Veränderungen. Obwohl in Kabul einige Modernisierungen stattfinden, halten die meisten Menschen an ihren traditionellen Lebensweisen fest. Im Gegensatz zu anderen Bindungen schaffen Stammesidentitäten immer noch ein Gefühl gegenseitigen Vertrauens.

Nach innen gerichtet

Das Land richtet sich mehr nach innen. Während in den 1960ern und 1970ern Touristen willkommen waren, werden Ausländer heute mit Argwohn betrachtet. Diese Haltung wurde während des sowjetisch-afghanischen Krieges von Führern auf beiden Seiten gefördert. Beide wollten die ausländischen Mächte, die ihre Rivalen unterstützten, diskreditieren. Langfristig wurden dadurch fremdenfeindliche Gefühle verstärkt.

Taliban-Kämpfer in Herat; Foto: picture-alliance/AP Photo/A. Khan
Afghanistans heimliche Regenten: Trotz jahrzehntelanger westlicher Interventionen am Hindukusch ist die Macht der radikalislamischen Taliban ungebrochen. Ende Februar unterzeichneten die USA mit den Taliban in Qatar ein Abkommen, das die Islamisten zu Friedensverhandlungen mit Kabul verpflichtete. Das wollten die Islamisten bisher nicht. Für sie war die Kabuler Regierung nur ein Vasall der Amerikaner.

Das Verhältnis der Afghanen zu ihrer Religion hat sich verändert. Vor dem Krieg praktizierten sie den Islam auf soziokulturelle Weise und nicht als politische Bewegung. Die sowjetische Besatzung und der darauffolgende Stellvertreterkrieg machten Religion zu einem politisch bestimmenden Faktor.

Traditionsverbundene Afghanen lehnten die antireligiöse sowjetische Propaganda ab. Viele radikalisierten sich. Gemeinsam mit ihren Verbündeten Pakistan und Saudi-Arabien förderten die USA den Trend zu religiös begründeten Kämpfen. Eine auf Glauben basierte Ideologie ist offensichtlich in Pakistan und Saudi-Arabien mächtig. Islamistische Extremisten, die die Sowjets bekämpften, erhielten enorme finanzielle und militärische Unterstützung.

Auch die Sowjets und ihre afghanischen Stellvertreter begünstigten diesen Trend. Die sogenannten afghanischen Neukommunisten versuchten, gesellschaftliche Veränderungen zu erzwingen, ohne die religiösen und kulturellen Empfindlichkeiten der Menschen zu berücksichtigen. Unterstützt von den Sowjets, setzten sie harte Methoden ein, um antireligiöse Reformen durchzusetzen. Das machte viele Afghanen empfänglich für die islamistische Botschaft des religiös begründeten Widerstands.

Ein Land zerfällt nicht in einem Jahr oder gar in einem Jahrzehnt. Es verschlechtert sich langsam über die Jahrzehnte hinweg. Das ist leider in Afghanistan geschehen. Ebenso bedauerlich ist, dass es möglicherweise noch Jahrzehnte dauern wird, bis der massive Schaden behoben ist.

Nawid Paigham

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Der Autor ist Politik- und Wirtschaftsanalyst.