Auf dem Weg zu einer zeitgemäßen Türkeipolitik

Im Garten der Sommerresidenz der deutschen Botschaft wurde Döner aus Berlin serviert. Der Bundespräsident und der Berliner Gastronom Keles
"Döner-Diplomatie": Im Garten der Sommerresidenz der deutschen Botschaft schneidet Steinmeier Fleisch von einem eigens aus Berlin eingeflogenen Dönerspieß. Auf dem Bild sind der Bundespräsident und der Berliner Gastronom Arif Keles zu sehen. (Foto: Bernd von Jutrczenka/picture alliance/dpa)

Die politisch-diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei sind von Dissens geprägt, doch die zahlreichen Brandherde in Nahost lassen beide Länder näher zusammenrücken. Der kluge Balanceakt des Bundespräsidenten bei seiner Türkeireise bietet einen Ansatz für eine pragmatische Türkeipolitik.

Kommentar von Yasar Aydin

Erst im siebten Jahr seiner Amtszeit hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Türkei besucht – viel zu spät, meinen viele in der Türkei. Der Besuch sei eine unnötige Aufwertung von Präsident Erdoğan, kritisieren dagegen Türkei-Skeptiker in Deutschland.

Der dreitägige Staatsbesuch steht in der Kontinuität deutsch-türkischer Besuchsdiplomatie. So reiste Bundeskanzler Olaf Scholz bereits im März 2022 zu einem Antrittsbesuch in die Türkei, Außenministerin Annalena Baerbock im Juli 2022.  
Der Besuch des Bundesministers für Wirtschaft und Klimaschutz, Robert Habeck, Ende Oktober 2023 in Ankara, der erste eines deutschen Wirtschaftsministers seit dem Arbeitsbesuch von Peter Altmaier 2018, blieb jedoch ohne die erhoffte positive Signalwirkung. Weitere Kooperationsformate konnten nicht vereinbart werden.  

Bundespräsident Steinmeier hat seine Türkei-Reise im historischen Bahnhof Sirkeci in Istanbul begonnen, von wo die Gastarbeiter vor 63 Jahre nach Deutschland aufbrachen.
Bundespräsident Steinmeier hat seine Türkei-Reise im historischen Bahnhof Sirkeci in Istanbul begonnen, von wo die "Gastarbeiter" vor 63 Jahre nach Deutschland aufbrachen. (Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa/picture alliance)

Zwischen Charmeofffensive und Kritik

Zuletzt zeigte sich bei dem außerordentlich kurzen Arbeitsbesuch des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan im November 2023, wie groß die politischen Spannungen zwischen Berlin und Ankara sind.

Der Staatsbesuch Steinmeiers verlief jedoch weniger frostig, der befürchteter Eklat blieb aus – nicht zuletzt dank der geschickten Gratwanderung des Bundespräsidenten zwischen Charmeoffensive und Kritik. Seine “Döner-Diplomatie” wird noch lange in der kollektiven Erinnerung bleiben – weniger als kreatives Glanzstück, sondern vor allem wegen der Aufmerksamkeit, die ihr gewidmet wurde. 

Es war kluge Public Diplomacy, den Auftakt der Türkeireise auf den Bahnhof Sirkeci zu verlegen. Hier setzten sich nach Abschluss des Anwerbeabkommens mit der Türkei 1961 Hunderttausende junge Männer und Frauen in den Zug nach Deutschland. 

Der Bundespräsident wollte damit den Anteil der türkischen Migrantinnen und Migranten am deutschen Wirtschaftswunder würdigen und ihre Zugehörigkeit zu Deutschland unterstreichen. So hatte er auch türkischstämmige Politiker, Künstlerinnen und Kulturschaffende in seiner Türkei-Delegation mitgenommen. 

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In Istanbul traf der Bundespräsident auch den Oberbürgermeister der Stadt, Ekrem İmamoğlu, der bei den jüngsten Kommunalwahlen sein Amt verteidigen konnte, sowie Vertreter der türkischen Opposition und der Zivilgesellschaft. 

Er begegnete Menschen, die bei den Gezi-Park-Protesten von 2013 in Istanbul verletzt worden waren, sprach mit dem Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk, der wegen seiner Ansichten bereits mehrfach vor Gericht gestellt worden ist, und mit Özgür Özel, dem neuen Vorsitzenden der oppositionellen Partei CHP, die bei den Kommunalwahlen im März die stärkste politische Kraft wurde. 

Bindekraft Wirtschaft

Steinmeiers Kulturdiplomatie war auch ein Signal an die deutsche Mehrheitsgesellschaft, denn die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und der Türkei ist in Deutschland so unpopulär wie nie zuvor. Das stellt eine weitere Herausforderung für die bilateralen Beziehungen dar. Inzwischen ist ein erheblicher Teil der türkischen Bevölkerung mit der als bedingungslos empfundenen Unterstützung Deutschlands für Israel unzufrieden.

Dies wurde vor dem Sirkeci-Bahnhofs von jungen Protestierenden durch Schmäh-Parolen zum Ausdruck gebracht. Unmut herrscht auch über die Flüchtlingspolitik der EU, für die auch Deutschland verantwortlich gemacht wird. 

Ein signifikanter Teil der türkischen Bevölkerung lehnt das EU-Türkei-Flüchtlingsabkommen mit der Begründung ab, dass die Türkei dadurch zu einem Auffangbecken für Flüchtlingsströme degradiert werde. Auch Steinmeiers Tagesvisite in Gaziantep und seine Würdigung der türkischen Leistung bei der Integration der Syrerinnen und Syrer wird daran nicht viel ändern. 

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (r.) und Ekrem Imamoglu, der Oberbürgermeister von Istanbul, im Bahnhof Sirkeci.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (r.) und Ekrem Imamoglu, der Oberbürgermeister von Istanbul, im Bahnhof Sirkeci (Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa/picture alliance)

Türkische Diaspora: eine starke Brücke

Die große und lebendige türkische Diaspora in Deutschland, die etwa drei Millionen Menschen zählt, ist ein gesellschaftlich wichtiger Faktor und bildet mit ihren familiären und anderen Bindungen eine starke Brücke zwischen Deutschland und der Türkei. Aber nicht nur wegen dieser transnationalen Verflechtungen, sondern auch wegen der wirtschaftlichen und geopolitischen Bedeutung des Landes sowie seiner militärischen Stärke, die es für die NATO so wertvoll macht, muss Deutschland der Türkei eine größere Aufmerksamkeit schenken. 

Deutschland braucht die Türkei - etwa als Partner bei der Steuerung von Migrationsbewegungen und als Vermittler gegenüber Russland im Ukraine-Krieg. Als Regionalmacht trägt die Türkei dazu bei, Russlands Einflussstreben in der Schwarzmeerregion, im östlichen Mittelmeer, auf dem Balkan und im Südkaukasus einzudämmen.  

Die Türkei bildet ein Gegengewicht zum Iran, indem sie Aserbaidschan unterstützt, gute Beziehungen zu Georgien pflegt, sich vorsichtig an Armenien annähert und ihre wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zum Irak zu vertieft. Kurzum: Berlin braucht Ankara als Kooperationspartner bei der Bewältigung unzähliger globaler und regionaler Herausforderungen. 

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (l.) und der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan in Ankara.
Am Ende ein Lächeln: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (l.) mit dem türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan in Ankara (Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa/picture alliance)

Auch ökonomisch ist die Türkei ein attraktiver Partner für Deutschland, auch wenn ihre Wirtschaft vor enormen Herausforderungen steht: Bei der Bekämpfung von Inflation, die aktuell im jährlichen Durchschnitt bei 67 Prozent liegt, bei der Stabilisierung des Wechselkurses und der Gewinnung von ausländischen Direktinvestitionen wie Kapitalzufuhr. Aufgrund der vielfältigen wirtschaftlichen Verflechtungen würde eine Wachstumskrise in der Türkei auch Deutschland treffen.  

Die deutsche Wirtschaft läuft ebenfalls nicht rund: Das Bruttoinlandsprodukt und die Exporte stagnieren, die Dekarbonisierung der Produktion gefährdet die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie. Mehr noch: Die Energiesicherheit und der Wettbewerb mit China um internationale Marktanteile für Maschinen, Investitionsgütern, Elektroautos und Hochgeschwindigkeitszügen erfordern eine enorme Kraftanstrengung.  

Seit Jahren steigt das deutsch-türkische Handelsvolumen. Es erreichte im Jahr 2022 mit insgesamt 51,6 Milliarden Euro einen Rekordwert. Die türkischen Exporte nach Deutschland beliefen sich auf 24,6 Milliarden Euro, was einer Steigerung gegenüber dem Vorjahr um ein Viertel entspricht. Deutschland ist mit einem Anteil von 8,3 Prozent an den Gesamtexporten der Türkei der größte Exportpartner des Landes sowie nach Russland und China sein drittgrößter Importpartner. 

Wichtiger Wirtschaftsfaktor

Einen bedeutenden Anteil an den türkischen Wareneinfuhren aus Deutschland haben High-Tech-Produkte, Kraftfahrzeuge, Maschinen sowie chemische Erzeugnisse. Zu den türkischen Exportgütern nach Deutschland gehören Textilien, Lederartikel, Kraftfahrzeuge und verschiedene Automobilkomponenten, zunehmend aber auch Nahrungsmittel und Maschinen. 

Die Türkei zieht aus Deutschland Direktinvestitionen in Milliardenhöhe an. Das Investitionsvolumen seit 1980 beläuft sich auf rund 16 Milliarden US-Dollar. Derzeit sind über 8.100 Betriebe mit deutscher Beteiligung bzw. türkische Unternehmen mit deutschem Kapitalanteil in der Türkei aktiv. 

Sie beschäftigen mehr als 100.000 Menschen in der Türkei. Ein Großteil der Investitionen sind langfristige Neuinvestitionen, durch die Hunderttausende Arbeitsplätze geschaffen werden.

All dies zeigt: Die Türkei ist für Deutschland ein wichtiger Lieferant von industriellen Fertigerzeugnissen wie Inputprodukten – zahlreiche türkische Firmen und Produktionsstätten sind integraler Bestandteil deutscher Wertschöpfungs- und Lieferketten – ein wichtiger Absatzmarkt und lukratives Investitionsfeld. 

Dass Finanzminister Christian Lindner der Steinmeier-Delegation angehörte und im kommenden Monat der türkische Finanzminister Mehmet Simsek nach Berlin kommt, ist ein weiterer Beleg für die Bedeutung und auch das Interesse an der Wirtschaftskooperation. 

Diplomatische Spannungen

Dass die politisch-diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei trotz dieser weitreichenden wirtschaftlichen Verflechtung und vielfachen Kooperationen seit Jahren nicht rund laufen, liegt an den vielfältigen Differenzen etwa in der Ägäis- und Zypernfrage, im Umgang mit Russland und im Gaza-Konflikt. 

Im Streit zwischen Griechenland und der Türkei um die Hoheitsgewässer und die Aufrüstung der Ägäis-Inseln durch Griechenland zeigt Berlin mehr Verständnis für Athen, in der Zypernfrage stellt sich Berlin gegen die von Ankara favorisierte Zwei-Staaten-Lösung und im Gaza-Konflikt unterstützt Berlin Israel, während Ankara sich auf die Seite der Hamas schlägt. Unzufrieden ist Berlin auch damit, dass Ankara die Sanktionen gegen Russland nicht mitträgt. 

Als weiterer Stolperstein in den bilateralen Beziehungen erweisen sich der autoritär-undemokratische Politikstil und die oft sprunghaften Verhandlungsmethoden Erdoğans, der im politischen Berlin als einer der schwierigsten Gesprächspartner gilt. Dass er die politischen Freiheiten einschränkte, das Parlament entmachtete, die Medien und die Justiz gleichschaltete, was dazu geführt hat, dass viele Kritiker inhaftiert wurden, stieß in Deutschland auf Kritik und erzeugte diplomatische Spannungen. 

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Dennoch: So wenig es Deutschland gefällt, dass die türkische Regierung einen autoritären Kurs eingeschlagen hat, so sehr ist es auf ein funktionierendes Verhältnis zur Türkei angewiesen. Das abrupte Auf und Ab schadet den nationalen Interessen beider Staaten und lässt Kooperationspotenziale für wirtschaftliche Zusammenarbeit und zur Lösung von Konflikten ungenutzt. 

Deutschland muss den Spagat schaffen, einerseits den Handel, die diplomatischen Beziehungen und die strategische Zusammenarbeit mit der Türkei aufrechtzuerhalten und andererseits dem autoritären Kurs Ankaras entgegenzutreten. 

Steinmeier gelang diese Gratwanderung, indem er einerseits auf Opposition und Zivilgesellschaft zuging und die Botschaft vermittelte, dass Deutschland für eine Demokratisierung der Türkei eintritt, andererseits aber auch den Dialog mit Präsident Erdogan suchte.  

Dies wäre ein guter Ansatz für eine pragmatische, an Interessenausgleich orientierte und normativ keineswegs blinde Türkeipolitik. Sie sollte Empathie für türkische Sicherheitsinteressen in einer von Kriegen und Konflikten geprägten Region vorbringen und gleichzeitig Rücksichtnahme auf deutsche historische Befindlichkeiten einfordern. 

Dazu gehört aber auch, die Türkei nicht als geopolitischen Rivalen etwa auf dem Balkan oder im Nahen Osten zu sehen. Ein Beispiel für diese Sichtweise bietet Christoph Heusgen, Sicherheitsberater der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel, der in seinem Buch "Führung und Verantwortung. Angela Merkels Außenpolitik und Deutschlands künftige Rolle in der Welt" (Siedler Verlag, 2023) die Türkei in einem Atemzug mit Russland, China und Saudi-Arabien nennt.  

Fest steht: Eine Dynamisierung der deutsch-türkischen Beziehungen ist vor allem über die wirtschaftliche und neuerdings auch über die kommunale Zusammenarbeit zu erreichen. 

Yasar Aydin  

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