Das Trauma der türkischen Opposition

Seit der Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen verharrt die türkische Opposition in Grabenkämpfen. Viele Anhänger leiden noch unter den Anspannungen des Wahlkampfes. Präsident Erdoğan und die regierende AKP nehmen derweil die Kommunalwahlen im Jahr 2024 ins Visier. Aus Istanbul informiert Ayşe Karabat

Von Ayşe Karabat

„Unsere Jugend, unser Leben, unsere Träume, unsere Zukunft – alles weg“, so lautete ein Tweet vom 28. Mai, dem Tag der Stichwahl um das Präsidentenamt in der Türkei, die Recep Tayyip Erdoğan erneut für sich entscheiden konnte. Unter den Anhängern der Opposition – immerhin mehr als die Hälfte der Bevölkerung – hat sich eine Form der Enttäuschung entwickelt, die einige Experten als „Post-Election Stress“ bezeichnen.

Nach Ansicht des Politikwissenschaftlers Mete Kaan Kaynar leiden die Wähler  der Opposition unter einem „politischen Trauma“: Die Hoffnungen auf einen politischen Wandel waren vor den Wahlen sehr groß, umso enttäuschter waren die Anhänger nach der Niederlage ihres Kandidaten. Anders als in Europa sind Wahlen in der Türkei praktisch die einzige Möglichkeit der politischen Partizipation. Politische Parteien stehen im Zentrum allen politischen Handelns. Das fördert traumatische Erfahrungen“, sagt Kaan Kaynar.

Die Anhänger der Opposition – so sehen es Beobachter der türkischen Politik – müssen wieder Hoffnung schöpfen, um dieses Trauma zu überwinden. Vor allem mit Blick auf die anstehenden Kommunalwahlen im März 2024. Doch die einst hoffnungsvolle türkische Opposition ist seit dem Debakel bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen verstummt.

Engagiert bis zur Erschöpfung

Es gab zwei Oppositionsbündnisse: Das „Bündnis der Nation“ unter Führung des Präsidentschaftskandidaten Kemal Kılıçdaroğlu und das „Bündnis für Arbeit und Freiheit“ unter Führung der pro-kurdischen Yeşil Sol Parti (Grüne Linke Partei). Letzteres Bündnis unterstützte Kılıçdaroğlu bei seiner Präsidentschaftskandidatur.

CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu bei einer Pressekonferenz (Foto: picture-alliance)
Unbeirrbar: Laut einer Umfrage vom Juli 2023 wollen mehr als 60 Prozent der Wähler, die für den CHP-Vorsitzenden und oppositionellen Präsidentschaftskandidaten Kemal Kılıçdaroğlu gestimmt haben, dass er zurücktritt. Kılıçdaroğlu lehnt dies ab. Im Gegenteil: Er hat mehrfach erklärt, auch bei den Kommunalwahlen 2024 die Verantwortung für die Führung seiner Partei und der Opposition übernehmen zu wollen

Das Bündnis der Nation umfasst sechs Parteien. Die beiden größten Parteien in  diesem Bündnis waren Kılıçdaroğlus sozialdemokratisch geprägte Republikanische Volkspartei (CHP) und die säkulare nationalkonservative Gute Partei (İyi Parti / IYI) unter Führung von Meral Akşener. Weitere Bündnispartner waren die gemäßigt religiöse Glückseligkeitspartei (Saadet Partisi) und drei Mitte-Rechts-Parteien: die Demokratische Partei, die Partei für Demokratie und Wohlstand und die Zukunftspartei.

Bei der Stichwahl im Mai erhielt Kılıçdaroğlu 48 Prozent der Stimmen. Doch laut einer Umfrage vom Juli fordern inzwischen mehr als 60 Prozent seiner Wähler seinen Rücktritt – was Kılıçdaroğlu ablehnt. Im Gegenteil: Er hat mehrfach erklärt, auch bei den Kommunalwahlen 2024 die Verantwortung für die Führung seiner Partei und der Opposition übernehmen zu wollen.

Erdoğans AKP versucht derweil, das Amt des Oberbürgermeisters von Istanbul zurückzuerobern, das seit 2019 Ekrem İmamoğlu von der CHP innehat.

Kommt das Bündnis für die Kommunalwahlen wieder zusammen?

İmamoğlu wurde 2019 mit  Unterstützung der anderen Oppositionsparteien zum Oberbürgermeister gewählt. Auch in anderen Großstädten wie der Hauptstadt Ankara übernahm die Opposition damals die Führung. Bei den nächsten Kommunalwahlen wollen die Oppositionsparteien jedoch mit eigenen Kandidaten antreten.

Die Grüne Linke Partei hat dies bereits offiziell erklärt. Die Gute Partei (IYI) und auch Teile der CHP begrüßen dies. Sie sind der Meinung, dass die Beteiligung der Grünen Linken Partei am Bündnis der Opposition geschadet hat. Die regierende AKP und ihr Verbündeter, die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), hätten dies genutzt, um die Stimmen der türkischen Nationalisten zu konsolidieren.

Anhänger Kilicdaroglus bei einer Kundgebung im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2023 (Foto: ABACA/picture-alliance)
„Unsere Jugend, unser Leben, unsere Träume, unsere Zukunft – alles weg.“ Die Hoffnungen auf einen politischen Wandel waren vor den Wahlen sehr groß, umso enttäuschter waren die Anhänger nach der Niederlage ihres Kandidaten. „Anders als in Europa sind Wahlen in der Türkei praktisch die einzige Möglichkeit der politischen Partizipation. Politische Parteien stehen im Zentrum allen politischen Handelns“, sagt der Politikwissenschaftler Mete Kaan Kaynar. „Das fördert traumatische Erfahrungen“, so Kaan Kaynar.

Auch in der CHP gibt es Stimmen, die den anderen Parteien des Bündnisses der Nation vorwerfen, ihre Parteiorganisationen im Wahlkampf nicht ausreichend mobilisiert zu haben.

Kritisiert wird auch, dass kleine Mitte-Rechts-Parteien, die über die CHP-Listen zur Wahl angetreten waren, 38 Sitze im 600 Sitze umfassenden Parlament erringen konnten. Dies sei weit über ihrem tatsächlichen Stimmenanteil.

Die CHP und die IYI-Partei waren in letzter Zeit oft zerstritten. Einige CHP-Anhänger sehen in der IYI-Partei den Hauptgrund für das Scheitern des Bündnisses. Die Partei hatte sich vor den Wahlen kurzzeitig aus dem Bündnis zurückgezogen und öffentlich die Kandidatur von Kılıçdaroğlu mit der Begründung kritisiert, dieser sei „nicht ausreichend qualifiziert, um zu gewinnen“.

Die IYI-Partei hält dagegen, sie habe die Qualifikation Kılıçdaroğlus richtig eingeschätzt. Am 25. Juni verkündete die Vorsitzende Akşener auf der Parteikonferenz verärgert den erneuten Bruch mit dem Bündnis der Nation. Außerdem kündigte sie an, dass die IYI-Partei unabhängig zu den Kommunalwahlen antreten werde.

Darüber hinaus wurde bekannt, dass der Abgeordnete İdris Nebi Hatipoğlu vorgeschlagen habe, bei den Kommunalwahlen mit dem Bündnis aus AKP und MHP zusammenzuarbeiten. Die MHP wiederum lud die IYI-Partei zu einer Zusammenarbeit der Nationalisten bei den Kommunalwahlen ein. Offiziell bestreitet die IYI-Parteiführung jedoch nach wie vor jede Absicht zur Zusammenarbeit mit dem Regierungsbündnis.

Richtiger Weg, falscher Kandidat?

Trotz der Zerwürfnisse innerhalb des Oppositionsbündnisses hält Kılıçdaroğlu daran fest, dass die Zusammenarbeit mit den rechtskonservativen Parteien der richtige Weg zur Ablösung der Regierung gewesen sei. Einige Experten wie Osman Sert, Forschungsdirektor am Ankara Institut, teilen die Ansicht, dass die Idee einer geeinten Opposition die richtige Strategie war. Allerdings sei Kılıçdaroğlu der falsche Kandidat gewesen.

Bürgermeister von Istanbul und großer Hoffnungsträger der türkischen Opposition Ekrem Imamoglu (Foto: BELGA/dpa/picture-alliance)
Mehr Hoffnung auf 'Wandel' mit İmamoğlu? Osman Sert, Forschungsdirektor am Ankara Institut, stimmt zu, dass die Idee einer vereinten Opposition die richtige Strategie sei. Allerdings sei Kılıçdaroğlu der falsche Kandidat gewesen. „Er konnte die Massen nicht davon überzeugen, dass er einen Wandel herbeiführen würde. Er konnte ihr Vertrauen nicht gewinnen“, so Sert. Die einzige Möglichkeit, den derzeitigen Kurs der türkischen Politik zu ändern, sieht er in einem Wechsel der Akteure. Das sehen auch einige CHP-Politiker so. In der Partei wird diskutiert, Kılıçdaroğlu durch Ekrem İmamoğlu zu ersetzen, der lange Zeit als die 'große Hoffnung' der Opposition galt.

„Er konnte die Massen nicht davon überzeugen, dass er einen Wandel herbeiführen würde. Er konnte ihr Vertrauen nicht gewinnen“, so Sert im Interview mit Qantara.de. Die einzige Möglichkeit, den derzeitigen Kurs der türkischen Politik zu ändern, sieht er in einem Wechsel der Akteure.

Das sehen auch einige CHP-Politiker so. In der Partei wird diskutiert, Kılıçdaroğlu durch Ekrem İmamoğlu zu ersetzen, der in der Partei eine Bewegung unter dem Motto der „Transformation“ auf den Weg gebracht hat. İmamoğlu hat sich dazu bisher nur vage geäußert.

Er steht vor einem Dilemma. İmamoğlu hat Chancen, als Oberbürgermeister von Istanbul wiedergewählt zu werden. Sollte er jedoch für den Vorsitz der CHP kandidieren und verlieren, hätte er beides verloren. Stellt die Opposition einen anderen Bürgermeisterkandidaten auf, könnte sie Istanbul in einem voraussichtlich harten Wahlkampf verlieren.

İmamoğlu trägt die ganze Last dieser Entscheidungen. Sollte er in Istanbul erneut gewinnen, wäre er der Politiker, der Erdoğan zweimal geschlagen hat, was seine Popularität bei den Wählern der Opposition steigern dürfte. Er selbst ist sich der Stimmung unter den Wählern der Opposition durchaus bewusst, wie er in seiner Rede am 15. August zu erkennen gab, als er seine erneute Kandidatur für das Amt des Oberbürgermeisters von Istanbul ankündigte.

„Die größte Gefahr für unsere Demokratie sind schwindende Hoffnung und fehlendes Vertrauen in unserem Land. Das müssen wir ändern“, sagte er.

Ayşe Karabat

© Qantara.de 2023

Übersetzt aus dem Englischen von Gaby Lammers

 

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