"Die Opposition riskiert ihre Glaubwürdigkeit“

Da weder der amtierende Präsident Erdoğan noch sein Herausforderer Kılıçdaroğlu im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit erreicht haben, findet in der Türkei am 28. Mai eine Stichwahl statt. Warum waren viele vom Ergebnis des ersten Wahlgangs so überrascht? Wie ist der Rechtsruck zu bewerten? Darüber sprach Ceyda Nurtsch mit dem türkischen Politologen Berk Esen.

Von Ceyda Nurtsch

Der Ausgang des ersten Wahlgangs kam für viele Beobachter ziemlich unerwartet. Warum lagen die bisherigen Prognosen so daneben?

Berk Esen: Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen sehen wir, dass Umfragen nicht nur in der Türkei, sondern auch in anderen populistisch und autoritär regierten Ländern immer wieder falsch liegen. Beispielsweise vor der Wahl von Donald Trump in den USA, bei Bolsonaro in Brasilien oder bei Orbán in Ungarn. Und sogar beim Brexit 2016. Hier lässt sich ein Trend erkennen. Zum einen werden vor allem Wähler in ländlichen Gebieten nicht richtig eingeschätzt, zum anderen geben Wähler ihre Präferenz für einen autoritären oder populistischen Kandidaten oft nur ungern zu. Die Türkei ist also kein Einzelfall.

Auch in der Türkei gehen viele Meinungsforschungsinstitute nicht ihrer eigentlichen Aufgabe nach. Viele stehen täglich vor den Fernsehkameras und liefern statt Umfragen politische Strategien für bestimmte Parteien.

Hinzu kommt, dass kurz vor der Wahl noch rund 10 Prozent der Wähler unentschlossen waren. Viele davon dürften ehemalige AKP-Wähler sein, die in letzter Minute noch für Erdoğan gestimmt haben. Nicht weil sie seine Politik unterstützen, sondern weil sie Kılıçdaroğlu ablehnen.

Die Wahlen in der Türkei sind weder fair noch frei

War die Wahlkampfstrategie der Opposition falsch und was hat die Strategie der AKP so erfolgreich gemacht?

Esen: Wir müssen uns immer vor Augen halten, dass in der Türkei ein autoritäres System herrscht und dass diese Wahlen nicht unter fairen Bedingungen stattgefunden haben. Die Regierung verbreitet ihre Botschaft über die von ihr kontrollierten Medien im ganzen Land. Sie setzt öffentliche Gelder für den Wahlkampf ein und wird von großen Teilen der Bürokratie unterstützt. Die Bedingungen waren von Anfang an unfair, unabhängig davon, wen die Opposition als Kandidaten aufgestellt hätte.

Schicksalstag: Am 14. Mai wählen Türkinnen und Türken ein neues Parlament und einen neuen Präsidenten (Foto: Umit Turhan Coskun/NurPhoto/picture alliance)
Schicksalstag: Am 14. Mai wählen Türkinnen und Türken ein neues Parlament und einen neuen Präsidenten (Foto: Umit Turhan Coskun/NurPhoto/picture alliance)

Gleichzeitig war die siegessichere Rhetorik der Opposition unklug. Man sollte nicht mit überzogenen Erwartungen in eine Wahl gehen und dann enttäuscht auf ein Ergebnis blicken, das objektiv gesehen gar nicht so schlecht ist. Außerdem glaube ich, dass die Opposition, insbesonders Kılıçdaroğlu und sein Team, die Strategie der Regierung nicht richtig gelesen haben. Offenbar ging man davon aus, dass angesichts der anhaltenden wirtschaftlichen Talfahrt und des eklatanten Versagens der Regierung bei der Erdbebenkatastrophe jeder, der gegen die Regierung antrat, fast zwangsläufig gewinnen würde. Diese Erwartung war falsch.

Präsident Erdoğan ist nach wie vor bei vielen Menschen beliebt. Zudem hat er strategische Schritte unternommen, um verlorene Wähler zurückzugewinnen. Etwa durch die Wohnungsbaukampagne TOKİ, die Erhöhung des Mindestlohns und der Renten, die Einstellung von 100.000 Beamten sowie Steuererleichterungen für Kleinunternehmen. Damit konnte er die Auswirkungen der Wirtschaftskrise für seine Wählerschaft etwas abmildern. Vor allem in ländlichen Gebieten konnte er so seine Stimmen konsolidieren – flankiert von seiner Diffamierungskampagne gegen die Opposition.

Die Opposition hat die Botschaft von Einheit verbreitet. Darin sehe ich kein Problem. Aber mit einem anderen Kandidaten hätte sie wahrscheinlich mehr Erfolg gehabt. Zudem hat sie ihren Wahlkampf vor allem in den sozialen Medien geführt. Damit hat sie aber weder AKP- noch MHP-Wähler oder Wechselwähler erreicht. Und sie hat sich nicht intensiv um die Menschen in den Straßen, Stadtteilen und Dörfern bemüht. Aber wie gesagt: Wenn man bei einem Fußballspiel eine Mannschaft mit neun Spielern und eine mit elf Spielern hat, wundert man sich nicht, dass die größere Mannschaft gewinnt.

Nationalismus und Rechtsruck entscheiden Wahl

Der dritte Präsidentschaftskandidat, Sinan Oğan vom ultranationalistischen Wahlbündnis Ata, erhielt fünf Prozent der Stimmen. Er sagte Erdoğan jüngst seine Unterstützung zu. Wer hat ihn gewählt und was passiert mit diesen Stimmen?

Esen: Etwa zwei Prozent dieser Stimmen entfallen auf Ultranationalisten. Der Rest sind Wähler, die sowohl Erdoğan als auch Kılıçdaroğlu ablehnen. Wähler, die der Diskussionen um die beiden überdrüssig sind und die Opposition dafür abstrafen, dass sie keine neuen Gesichter präsentiert. Wir haben es also mit einer Art Protestwahl zu tun. Ein Drittel der Wähler des Bündnisses wird wahrscheinlich nicht erneut zur Wahl gehen. Die restlichen zwei Drittel werden sich etwa zu gleichen Teilen auf die beiden verbleibenden Kandidaten verteilen. Ich glaube nicht, dass von dort eine große Unterstützung für die Opposition zu erwarten ist.

 

 

Die „Grüne und linke Zukunftspartei“ (YSP), unter deren Dach Kandidaten der pro-kurdischen HDP antraten, hat viele Stimmen verloren, auch in mehrheitlich von Kurden bewohnten Gebieten. Woran liegt das?

Esen: Man darf nicht vergessen, dass die HDP seit den Parlamentswahlen im Juni 2015 von der Regierung systematisch unterdrückt und angegriffen wird. Es ist nicht verwunderlich, dass eine so geschwächte Partei an Unterstützung verliert, zumal viele ihrer Vertreter inhaftiert wurden, wie zum Beispiel Selahattin Demirtaş. Die Gründe für den Stimmenverlust müssen genauer untersucht werden. Ein Teil der Wähler dürfte zur Türkischen Arbeiterpartei (TİP) abgewandert sein. Kurden aus der Mittelschicht dürften bei diesen Wahlen strategisch für die CHP gestimmt haben. Zudem könnte der Einsatz von Sicherheitskräften in diesen Regionen zur Manipulation bei der Stimmabgabe und der Stimmauszählung geführt haben.

Vor der Stichwahl schlägt Kılıçdaroğlu nun eine betont nationalistische Rhetorik an. Was steckt hinter diesem Kurswechsel? Wird er damit Erfolg haben?

Esen: Ich halte das für eher unglücklich und glaube nicht, dass sich die Wählerinnen und Wähler von diesem kurzfristigen Kurswechsel wesentlich beeindrucken lassen. Beide Kandidaten sind schon lange in der türkischen Politik. Die meisten Wähler haben ihr Urteil über sie längst gefällt. Diese Form der Rhetorik führt allenfalls dazu, dass in Südostanatolien, wo die Wahlbeteiligung ohnehin am niedrigsten war, noch weniger YSP-Wähler zu den Urnen gehen.

Wenn Kılıçdaroğlu die Wahlen verliert, verliert er dadurch auch seine moralische Glaubwürdigkeit. Aber auf Glaubwürdigkeit hat er am Anfang gesetzt, um ein gutes Klima im Lande zu erzeugen und die Opposition gegen ein autoritäres Regime zu vereinen. Jetzt betreibt er eine Angstpolitik.

Es stimmt, dass Flüchtlinge in der Türkei ein wichtiges Thema sind. Doch zur Lösung der damit verbundenen Herausforderungen braucht es einen rationalen politischen Plan. Den hat die Opposition jedoch nicht. Hier liegt vieles im Argen. Das gilt aber auch für Erdoğan, vielleicht sogar noch mehr. Aber für die Wähler sind Erdoğan und sein Bündnis die Gewinner. Die Strategie des Teams um Kılıçdaroğlu zielt meines Erachtens darauf ab, als starker Zweiter aus den Wahlen hervorzugehen und nach den Wahlen als gestärkter Oppositionsführer weiterzumachen. Es sind nur noch zehn Monate bis zu den Kommunalwahlen im März 2024. Wenn die Opposition diese Wahlen verliert, wird es zunächst viele Diskussionen und Streitereien geben, aber dann beginnt auch schon der nächste Wahlkampf. Da sehe ich eine größere Chance für sie. 

Der türkische Politikwissenschaftler Berk Esen. (Foto: Berk Esen)
Berk Esen ist Dozent für Politikwissenschaft an der Sabancı-Universität in Istanbul. Seine Forschungsschwerpunkte sind u. a. Politik in der Türkei und in Lateinamerika, autoritäre Regime und Parteipolitik.

Zuletzt wurde viel über die Theorie diskutiert, dass Erdoğan im Falle seiner Wiederwahl einen gemäßigteren politischen Kurs einschlagen würde. Was halten Sie davon?

Esen: Ich halte das für völlig falsch. Es ist unmöglich, dass diese Regierung den einmal eingeschlagenen undemokratischen Weg wieder zugunsten der Demokratie verlässt, ohne dass es zu einem Führungswechsel kommt, der die Politik grundlegend verändert. Die Frage ist eher, ob die Regierung noch autoritärer vorgehen wird.

Wenn sich etwas ändert, dann vielleicht in der Wirtschaftspolitik. Denn so wie bisher kann es nicht weitergehen. Wirtschaftsanalysten sagen, dass wir bald in eine schwere Wirtschaftskrise schlittern werden. Der Umgang mit der Krise wird zeigen, ob mit einer noch härteren Gangart zu rechnen ist.

Was erwarten Sie für die Zukunft?

Esen: Ich glaube, dass die Struktur dieses autoritären Regimes viel schwächer ist, als es scheint. Zudem wird Präsident Erdoğan älter. Er hat offensichtlich nicht mehr denselben Einfluss und dieselbe Energie wie früher. Gleiches gilt für seinen Verbündeten Devlet Bahçeli. Hinzu kommt, dass die AKP-Regierung die Versprechen nicht einhalten kann, die Erdoğan für den Wiederaufbau der Erdbebenregion gemacht hat. Angesichts all dieser Faktoren glaube ich nicht, dass die Regierung überhaupt in der Lage ist, einen noch härteren Kurs einzuschlagen.

Entscheidend ist aber, was die Opposition tut. Wenn die von mir genannten Kritikpunkte nicht angegangen werden, werden wir es nach den Wahlen neben einer strukturell stark geschwächten Regierung auch mit einer in ihrer Glaubwürdigkeit geschwächten Opposition zu tun haben. Das ist besorgniserregend. Wir leiden unter einem starken Braindrain. Die Erfolgreichen verlassen das Land. Diejenigen, die bleiben, engagieren sich nicht aktiv in der Politik. Das fördert die Korruption. Die Regierung ist tief darin verstrickt, aber auch die Opposition ist nicht ganz frei davon. Diese Strukturen müssen sich ändern.

Interview: Ceyda Nurtsch

© Qantara.de 2023

 

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