Warum lasst ihr mich zurück?

Fast 3400 Menschen aus Afghanistan haben über das 2013 eingerichtete Aufnahmeprogramm für ehemalige Ortskräfte und ihre Familien bisher in Deutschland eine neue Heimat gefunden. Wie das Bundesinnenministerium auf Anfrage mitteilte, sind über die Jahre auf diesem Weg 3394 Menschen nach Deutschland eingereist: 798 ehemalige Ortskräfte mit insgesamt 2596 Angehörigen.
Fast 3400 Menschen aus Afghanistan haben über das 2013 eingerichtete Aufnahmeprogramm für ehemalige Ortskräfte und ihre Familien bisher in Deutschland eine neue Heimat gefunden. Wie das Bundesinnenministerium auf Anfrage mitteilte, sind über die Jahre auf diesem Weg 3394 Menschen nach Deutschland eingereist: 798 ehemalige Ortskräfte mit insgesamt 2596 Angehörigen.

Ich bedauere sehr, dass ich für die Bundeswehr gearbeitet habe. Wenn die Taliban an meine Tür klopfen, hoffe ich, dass sie mich gleich erschießen. Gastbeitrag von Ahmad Jawid Sultani

Von Ahmad Jawid Sultani

Am Dienstag, um kurz vor Mitternacht, stand ich im Tower des Flughafens von Masar-i-Scharif. Von dort oben beobachtete ich, wie die letzten Bundeswehrsoldaten in Flugzeuge stiegen, um Afghanistan für immer zu verlassen. Ich war in diesem Moment extrem traurig. Mir ging immer wieder ein Gedanke durch den Kopf, als ich die Rücklichter der Bundeswehrmaschine sah: "Hey Freunde, warum lasst ihr mich zurück?"

Mein Name ist Ahmad Jawid Sultani, ich bin in Masar-i-Scharif geboren und 31 Jahre alt. Ich habe von 2009 bis 2018 für die Bundeswehr als Übersetzer gearbeitet, und nun fürchte ich um mein Leben. Die Taliban stehen vor den Toren von Masar-i-Scharif. Die Zugangsstraßen sind blockiert, überall sind Kämpfe. Der letzte Ausweg aus der Stadt ist der über den Flughafen, die Deutschen haben ihn genutzt.

Im Jahr 2009 hatte ich gerade ein Zertifikat in einem Englisch-Sprachkurs bekommen, und ich hatte den Wunsch, meinen Teil zu Frieden und Stabilität in meinem Land beizutragen. Ich wollte gerne mit den deutschen Truppen zusammenarbeiten. Obwohl meine Familie absolut dagegen war, habe ich mich bei ihnen im Camp Marmal beworben.

Der Bewerbungsprozess hat drei Monate gedauert, als ich dann den Anruf der Deutschen bekam, haben sie mir gesagt: "Wir gehen überall zusammen hin, was uns passiert, passiert auch dir. Wir bekämpfen zusammen den Terrorismus, wir gehen überall hin, wo die Aufständischen sein könnten, und du bist ganz vorne dabei." Das hat mich erst verängstigt. Ich bat um 24 Stunden Bedenkzeit und habe dann zugesagt, weil ich den Deutschen vertraut habe - und mein Vater mir auch gesagt hat, dass wir Afghanen gute Beziehungen mit Deutschland haben, die Deutschen seien alte Freunde unseres Landes.

Deutschland, ISAF, NATO, Einsatzort Faisabad - Bundeswehrsoldat vor Ort (Archivbild); Foto: picture-alliance/dpa/M. Gambarini
Unterstützer, Helfer, kultureller Berater – fast zehn Jahre lang: "Ich habe in dieser Zeit viele kritische Situationen erlebt. Einmal sind wir bei einer Flussüberquerung in der Provinz Baghlan stecken geblieben, weil eines der Dingo-Fahrzeuge Probleme hatte. Wir mussten zwei Tage ausharren und hatten Angst, weil das Terrain von den Aufständischen vermint worden war. Ich war auch an Fußpatrouillen an vorderster Front beteiligt, da war jede Minute von Angst begleitet," schreibt Sultani.

Es wäre furchtbar, wenn sie mich zur Schau stellen würden

Heute bedauere ich sehr, dass ich für die Bundeswehr gearbeitet habe. In den Augen der Taliban habe ich mit dem Feind gearbeitet, und auch in der Nachbarschaft gibt es Gerüchte über mich, dass ich ein Spion gewesen sein könnte oder mit den Deutschen Schweinefleisch gegessen hätte, dass ich kein guter Muslim sei. Meine Nachbarn sagen nun zu mir: "Weißt du nicht, dass die Taliban vor der Stadt stehen? Du wirst ihr erstes Ziel sein, in ihren Augen bist du ein Verräter." Manchmal denke ich daran, dass die Taliban, sobald sie in die Stadt eingedrungen sind, zu unseren Häusern kommen und an die Türen von uns Übersetzern klopfen werden. Für den Fall hoffe ich, dass sie mich gleich erschießen. Es wäre furchtbar, wenn sie mich foltern und zur Schau stellen würden, um anderen eine öffentliche Lektion zu erteilen.Schon während ich für die Deutschen gearbeitet habe, gab es Anrufe und auch Briefe, in denen mir mit dem Tod gedroht wurde. Ich habe den Deutschen im Camp Marmal acht solcher Vorfälle gemeldet. Das wurde immer geprüft und nach einigen Tagen hieß es: Antrag abgelehnt, die Gefahrenlage ist nicht eindeutig. Ich frage mich, welche Beweise es braucht, um meine Gefahrenlage deutlich zu machen: Braucht es erst meinen toten Körper, um den Beweis zu haben, dass mein Leben in Gefahr ist? Letztlich habe ich dann sogar meinen Job verloren, weil es hieß, wenn du in Gefahr bist, ist es auch eine Gefahr für unsere Truppe. Wenn du mit den Soldaten unterwegs bist, weil die Aufständischen hinter dir her sind, ist das eine Gefahr. Das habe ich nicht verstanden, das Vorgehen der Deutschen hat mich verwirrt.

Wir waren Übersetzer, Unterstützer, kulturelle Berater

Ich habe eine Gruppe für Übersetzer und andere Arbeitskräfte gegründet, die für die Deutschen gearbeitet haben, und regelmäßig in den vergangenen Jahren mit ihnen vor dem Camp Marmal demonstriert, um auf unsere Lage aufmerksam zu machen. Wir wollten darauf hinweisen, dass wir Hilfe von den Deutschen benötigen. Die Sicherheitslage in Afghanistan hat sich vor allem seit 2014 sehr verschlechtert, als die internationalen Truppen die Verantwortung an die afghanischen Truppen übergeben haben.

Wir Übersetzer waren Unterstützer, Helfer, kulturelle Berater - Männer wie ich haben fast zehn Jahre mit den Nato-Truppen gearbeitet. Ich habe in dieser Zeit auch viele kritische Situationen erlebt. Einmal sind wir bei einer Flussüberquerung in der Provinz Baghlan stecken geblieben, weil eines der Dingo-Fahrzeuge Probleme hatte. Wir mussten zwei Tage ausharren und hatten Angst, weil das Terrain von den Aufständischen vermint worden war. Ich war auch an Fußpatrouillen an vorderster Front beteiligt, da war jede Minute von Angst begleitet. Ich habe mit 450 US-Dollar pro Monat angefangen, später wurde der Betrag auf 950 Dollar erhöht, das ist ein sehr gutes Gehalt.

 

 

 

Es heißt, wir sollen uns an die UN wenden

Viele der deutschen Soldaten, mit denen ich zusammengearbeitet habe, waren tapfer und freundlich. Sie haben auf Zivilisten wie mich aufgepasst. Aber nun fühlen wir uns im Stich gelassen. Die Deutschen haben gesagt, sie würden einen Antragsprozess für uns auf den Weg bringen, aber wir haben keine offiziellen Informationen dazu bekommen. Nun sind sie weg. Ich weiß auch nicht, ob die Deutschen überhaupt noch ein Konsulat in Masar-i-Scharif betreiben. Es hieß, wir sollten uns an die Internationale Organisation für Migration der Vereinten Nationen wenden, aber deren hochrangige Beamte sind bereits mit dem Flugzeug aus der Stadt geflüchtet, seit die Taliban auf allen Seiten der Stadt vorrücken.

Niemand von der deutschen Seite hat sich an uns gewandt. Ich habe aus den Medien erfahren, dass die Deutschen vor Kurzem die Zwei-Jahres-Regel geändert haben, dass also auch Übersetzer wie ich in den Auswahlprozess kommen sollten, deren Arbeitszeit für die Deutschen schon länger zurückliegt. Aber wir sind alle absolut im Unklaren: Wir wissen nicht, an wen wir uns wenden sollen. Nach Pakistan oder Iran zu fliehen, ist für mich keine Option, auch möchte ich keinem Schleuser Geld bezahlen, damit er versucht, meine Frau und mich nach Europa zu bringen.

Alle meine Optionen sind gerade sehr düster. Ich bin traurig, hoffnungslos und habe Angst. Ich fühle mich als Opfer eines Krieges, den auch die Deutschen in meinem Land geführt haben. Die Deutschen betonen, dass sie aus einem demokratischen, freien Land kommen, das die Menschenrechte achtet. Meine Bitte an die Deutschen ist, die Menschenrechte in diesem Fall über die Bürokratie zu stellen. Unser Leben ist in Gefahr, solange ihr noch von uns hört, trefft bitte die Entscheidung, uns zu retten. Wir haben Schulter an Schulter gekämpft. Wir waren Kollegen.

Ahmad Jawid Sultani

© Sueddeutsche Zeitung 2021

Ahmad Jawid Sultani, langjähriger Übersetzer für die Bundeswehr in Afghanistan, ist Vorsitzender der "Vereinigung deutscher Ortskräfte" (German Local Employees Union) in Masar-i-Scharif.

 

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