Kopftuch-Urteil: Kommerz schlägt Gott

Der Europäische Gerichtshof stärkt jene Unternehmen, die ihren muslimischen Mitarbeiterinnen Kopfbedeckungen verbieten - wenn auch kleine Kreuze und andere religiöse Zeichen tabu sind. Das ist gerade in Deutschland problematisch. Ein Kommentar von Wolfgang Janisch

Von Wolfgang Janisch

Der Streit um das Kopftuch währt nun schon zwei Jahrzehnte, ohne dass er sich einer klaren Lösung auch nur angenähert hätte. Bei den muslimischen Lehrerinnen drückte sich das Bundesverfassungsgericht 2003 zuerst um eine eindeutige Antwort herum, um dann zwölf Jahre später doch noch im Sinne der Religionsfreiheit zu entscheiden, pauschale Verbote religiöser Kleidung seien nicht zulässig.

Trotzdem wird etwa im Land Berlin nach wie vor heftig darum gestritten, wie liberal oder wie restriktiv ein Neutralitätsgesetz sein darf. Was angesichts der schwankenden Linie des Verfassungsgerichts nicht so verwunderlich ist. Danach dürfen zwar Lehrerinnen Kopftuch tragen, Rechtsreferendarinnen aber nicht.

Für das Kopftuch am Arbeitsplatz sowie für alle anderen religiösen Symbole hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) bereits 2017 eine unternehmensfreundliche Linie vorgegeben, die er nun bestätigt hat. Immerhin hat er einige Einschränkungen formuliert. Die Beweislast, dass so ein Verbot wegen geschäftlicher Nachteile "unbedingt erforderlich" ist, liegt beim Arbeitgeber. Das ist keine geringe Hürde. Zudem formuliert er eine Wenn-schon-denn-schon-Regel: Betriebe dürfen ein Verbot nicht auf "auffällige, großflächige Zeichen" religiöser Überzeugungen beschränken - denn dieses auffällige, großflächige Zeichen ist am Ende doch immer nur das Kopftuch.

Wer seinen Betrieb religionsfrei halten will, der muss nach dem Urteil auch die kleinen christlichen Kreuze beanstanden. Das dürfte den Verbotseifer bremsen.

Im Grundsatz aber bleibt der EuGH bei einer Abwägung, die sehr viel darüber aussagt, wie die Gewichte in der Gesellschaft verteilt sind. Das Unternehmen darf, im Dienste seiner wirtschaftlichen Interessen, eine betriebliche "Weltanschauung" der Neutralität durchsetzen und nach außen sichtbar machen. Die Arbeitnehmerin, die durch ein Stück Stoff oder ein Kreuz ihre religiös geprägte Weltanschauung vorzeigen möchte, darf das nicht, falls die Firma das verbietet. Kommerz schlägt Gott. Und Allah.

Wer dem Islam Sichtbarkeit verweigert, trifft auch die christliche Religion

Immerhin lässt der EuGH hier den nationalen Gerichten einen gewissen Spielraum - und zwar zur Stärkung der Religionsfreiheit. Sie sollten ihn nutzen. Verbote religiöser Symbole mögen neutral ummäntelt sein, sie meinen stets das Kopftuch. Wer es aus dem öffentlichen Raum verbannt, der diskriminiert damit muslimische Frauen.

Denn zumindest dies ist seit Langem klar: Ja, das Kopftuch kann für die Unterdrückung von Frauen in ihren Familien stehen - aber eben auch für das Gegenteil. Es kann Ausdruck eines religiösen Selbstbewusstseins sein, gerade auch bei jungen Frauen, die ihren Platz zwischen ihrer traditionellen Herkunft und einer modernen, individualistischen Gesellschaft suchen. Für diese Frauen sind Verbote Ausdruck paternalistischer Bevormundung. Der Integration dient das ganz sicher nicht, sondern der Ausgrenzung.

Für ein Land wie Deutschland ist dies aber nicht nur problematisch, weil Diskriminierung nicht in eine freie Gesellschaft passt. Die Bundesrepublik und ihr Grundgesetz setzen traditionell auf die Präsenz von Religion in der Gesellschaft, deutlich mehr, als stärker säkulare Länder wie Frankreich dies tun. Wer dem Islam diese Sichtbarkeit verweigern will, der sollte stets bedenken, dass er damit auch die christlichen Religionen trifft. Denn vor dem Grundgesetz sind alle Religionen gleich.

Wolfgang Janisch

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