"Wir wollen keine Hidjab-Prinzessinnen sein“

Muslimische Studentin während des Galaabends im Auswärtigen Amt Berlin zugunsten des Studiengangs "European Studies"
Muslimische Studentin während des Galaabends im Auswärtigen Amt Berlin zugunsten des Studiengangs "European Studies"

Unter Muslimen wird immer wieder das Bild von der Frau als "wohlverwahrter Hidjab-Prinzessin“ beschworen. Aber muslimische Frauen wollen längst mehr sein. Wie sie zwischen patriarchalen Idealen und den Stereotypen aus westlichen Kopftuchdebatten einen eigenen Zugang zu ihrer muslimischen Weiblichkeit finden können, beschreibt Karoline Roscher-Lagzouli in ihrem Essay.

Von Karoline Roscher-Lagzouli

Die ersten muslimischen Frauen der islamischen Geschichte waren keine wohlverwahrten Hidjab-Prinzessinnen, sie waren starke Frauen, die bis heute strahlen: Kriegerinnen, kluge Geschäftsfrauen, Gelehrte und Lehrerinnen der Männer.

Khadija war die Erste, die an den frischgebackenen, noch zweifelnden Propheten glaubte. Sie beruhigte ihn, als er zitternd unter seinen Decken versteckt in ihrem Haus lag und ermutigte ihn, sich seiner Bestimmung zu stellen.

Aischa, die junge Frau des Propheten, übermittelte mehr als 1200 Hadithe, lehrte den Männern den Islam und scheute sich nicht, ihre Auffassungen zu korrigieren, wenn es ihr nötig schien.

Hafsa bewahrte den Koran als Niederschrift auf und beendete damit, der Überlieferung zufolge, den Streit der Gefährten des Propheten nach dessen Tod über die korrekte Form, den Koran zu rezitieren.

Sie alle waren starke Frauen, die nicht nur selbstbestimmt für ihre Rechte eintraten, sondern die Überlieferung des Islam und die islamische Theologie maßgeblich mitbestimmten.  Sie wirkten in einer patriarchalen Umgebung, in deren Kontext die Lehren Mohammads vor allem auch in Bezug auf die Position der Frauen geradezu revolutionär erscheinen mussten.

Die Frauen der islamischen Frühgeschichte beteten selbstverständlich zusammen mit den Männern in einem Raum in den Moscheen. Trennwände oder nach Geschlechtern getrennte Eingänge kannten die Gebetshäuser damals nicht. Nach Meinung einiger klassischer Islamgelehrter, wie Ibn Hanbal (780 – 855) beispielsweise oder sogar Ibn Taymiya (1263 -1328), der als Wegbereiter der lebensabgewandten Salafis gilt, konnte eine Frau unter Umständen auch Vorbeterin, Imamin, für Männer sein. Bei der Mehrheit der heutigen Muslime stößt diese Ansicht gelinde gesagt auf Ablehnung und Unverständnis.

Der revolutionäre Geist scheint heute verloren

Die Handlungen und Aussagen des Propheten und seiner Gefährtinnen und Gefährten, die Sunna, werden uns heute von den altehrwürdigen Islam-Gelehrten als nachzuahmendes Vorbild gelehrt. Doch dabei scheint der revolutionäre Geist Mohammads heute verloren, unter dem Staub der Jahrhunderte begraben.

Frau im Hijab; Foto: picture-alliance/dpa/F.Ismail
Ein Stück Stoff wird zur Obsession. "Was wären die Islamkritiker und Aufklärer, die ach so edlen Befreierinnen der Frauen ohne das Kopftuch?“, fragt Caroline Roscher-Lagzouli in ihrem Essay. "Worüber könnten sie noch schreiben, hätte auch die letzte Uneinsichtige ihr Tuch endlich abgelegt?“ Für die selbsternannten Fürsprecherinnen und Fürsprecher der Musliminnen gebe es offensichtlich nur freie Musliminnen ohne oder unfreie mit Kopftuch. Individuelle, selbstbestimmte Entscheidungen in Sachen Kopfbedeckung sind nicht vorgesehen.

Was im Koran als Beginn eines Prozesses hin zu Gerechtigkeit und Gleichberechtigung  gelesen werden kann, wurde zu oft nicht weitergedacht, sondern von Männerängsten verschüttet. Die Anstöße sind in der Befürchtung untergegangen, auf irgendeine Weise mit Feminismus in einen Zusammenhang gebracht zu werden. Der Begriff Feminismus wird zuweilen als Schimpfwort gebraucht, um unbequeme muslimische Frauen, die für ein selbstbestimmtes muslimisches Frauenbild eintreten, zum Schweigen zu bringen. Dabei war Mohammad selbst vielleicht ein Feminist im gesellschaftlichen Kontext seiner Zeit.

Das Bild der “idealen Muslima“

Heute beschwören muslimische Männer in sogenannten „islamischen“ Ratgebern und besonders in den sozialen Medien das eher an die sittsame US-amerikanische Hausfrau der 1950er Jahre erinnernde Bild der „idealen Muslima“. Dabei sehen sie nicht, in welche toxischen Männerbilder sie sich selbst verstricken.

Sie sperren Frauen als wohlverwahrte Hidjab-Prinzessinnen in ihre goldenen Käfige. Der Hidjab wird dabei zum Beleg der Tugendhaftigkeit einer muslimischen Frau - je länger das Tuch, desto gläubiger die Frau, könnte man meinen, glaubte man den Motivationssprüchen und hübschen Bildchen von den niedlichen Hidjab-Prinzessinnen. Sie machen Frauen so zum Objekt, zum Juwel, das schmückt, aber keine eigenen Bedürfnisse kennt.

Retterin der "verlorenen Söhne im Westen“

Es gibt keinen Zwang im Glauben, aber die Frau darf sich kein Zweifeln, kein Wanken erlauben. Es darf keinen Riss in der Fassade der glücklichen muslimischen Frau geben, die immer lächelt, die gläubig und demütig vor ihrem Ehemann, ihrem Gott, sein soll. Das ist das Schicksal, das dir zugedacht ist, Schwester, willst du etwa die göttliche Ordnung leugnen?

Deutsche Boxerin Zeina Nassar; Foto: DW/A. Khassan
Der Hidjab als feministisches Statement: Muslimische Frauen wollen auch mit Hijab Skatebord fahren oder wie hier auf dem Bild die Boxerin Zeina Nassar, die als erste Deutsche mit dem Kopftuch in den Boxring stieg, ihren Sport ausüben. Sie wollen längst keine „wohlverwahrten Hidjab-Prinzesinnen“ in einem goldenen Käfig mehr sein, schreibt Karoline Roscher-Lagzouli, ein „Juwel“ zwar, aber ohne eigene Bedürfnisse.

Für die verlorenen muslimischen Söhne scheint das Kopftuch wohl ein letzter Halt in einer postkolonialen Welt zu sein, in der alte Männlichkeiten nichts mehr gelten. Daran klammern sie sich, während sie den westlichen Errungenschaften kaum mehr entgegenzusetzen haben als das Ideal der muslimischen Frau. Als Kontrast zur kalten Karriere-Frau des Westens soll sie die verlorene Heimat, unerfüllte Träume und Sehnsüchte ersetzen. Sie ist sanfter Engel, Heilerin der geheimen Wunden, Mutter und Balsam für verletzte Männlichkeit. Sie darf keine Fehler machen. Nähme sie das Kopftuch ab, dann würden ganze Welten fallen. Sie wollen einen letzten Rest von Macht spüren, indem sie ihre Identität als Frau, als Muslima, bestimmen, wo ihnen doch die eigene Identität längst abhandengekommen ist.

Das Kopftuch als Obsession

Dein Tuch und das Haar darunter gehören nicht dir. Sie gehören den Brüdern und auch den Debatten, die über deinen Kopf hinweg geführt werden. Im Koran wird die Kleidung der Frauen lediglich an zwei Stellen erwähnt. Es sind zwei Verse, die man zusammen mit einigen Überlieferungen aus der Zeit des Propheten und seiner Gefährtinnen und Gefährten als Aufforderung an muslimische Frauen zum Tragen einer Bedeckung verstehen kann und die von den klassischen islamischen Schulen in diesem Sinne interpretiert werden.



In einer vielleicht unendlich weisen Voraussicht, lässt der Allwissende jedoch offen, wie genau diese Bedeckung oder Kleidung aussehen soll. Auch die Überlieferungen aus der Zeit des Propheten, auf die wir nur durch im Staub der Jahrhunderte getrübte Männerbrillen schauen, geben nicht viel mehr Hinweise. Und doch wissen die weisen Männer anscheinend genau, wieviel oder wie wenig Stoff der Frau erlaubt ist.

Zwei kurze Erwähnungen im Koran und doch scheint es kein wichtigeres Thema als den Frauenkörper zu geben. Vom wütenden Internetprediger über selbsternannte Imaminnen bis hin zum Alice-Schwarzer-Feminismus: Der Schleier dominiert jede Vorstellung vom Frausein im Islam.

 



Der Traum von fallenden Schleiern

Wie die Situation von Musliminnen und Muslimen in Deutschland beurteilt wird, scheint ebenfalls vor allem am Frauenhaar zu hängen. Für die selbsternannten Fürsprecherinnen und Fürsprecher der Musliminnen gibt es offensichtlich nur freie Musliminnen ohne oder unfreie mit Kopftuch. Individuelle, selbstbestimmte Entscheidungen in Sachen Kopfbedeckung sind nicht vorgesehen. Auch hier werden muslimische Frauen zu unterdrückten Objekten degradiert, die es zu retten gilt.

Was wären die Islamkritiker und Aufklärer, die ach so edlen Befreierinnen der Frauen ohne das Kopftuch? Worüber könnten sie noch schreiben, hätte auch die letzte Uneinsichtige ihr Tuch endlich abgelegt? Sie träumen von fallenden Schleiern wie die Kolonialherren, die vielleicht als erste die "Befreiung vom Kopftuch“ als Instrument zur Unterwerfung ganzer Gesellschaften für sich entdeckten.

"Wir wollen mehr als Aldi-Tüten tragen“

Durch Selbstreflektion und kritisches Hinterfragen können muslimische Frauen neue, vom männlichen Diktat befreite Zugänge zu ihrer Religion finden. Musliminnen sind gefordert, ihre Lebensrealität und ihr Wirken zu überprüfen und an freiheitlichen Maßstäben, an der auf Gleichberechtigung und rationales Denken zielenden Offenbarung und am Handeln Mohammads zu messen. Denn sein Handeln kann im historischen Kontext betrachtet durchaus als feministisch und fortschrittlich beschrieben werden.

Karoline Roscher-Lagzouli; Foto:privat
Karoline Roscher-Lagzouli

Freiheit kann man nicht erzwingen. Freiheit entsteht auch nicht, indem Frauen ihr Haar zeigen. Patriarchale Strukturen hängen nicht an einem Stück Stoff oder einer Religion, wie der Blick in die Welt oder auch vor die eigene Haustür erkennen ließe, würden die selbsternannten Befreierinnen und Befreier ihre Fokussierung auf das sichtbare Frauenhaar überdenken.

Längst sind wir Frauen sichtbar und hörbar. Wir wollen mehr sein als Putzfrauen. Wir wollen mehr als Aldi-Tüten tragen und fünf Schritte hinter unserem bärtigen Ehemann hergehen. Wir wollen mehr sein, als es viele uns zugestehen. Und wir können mehr sein, als wir uns selbst manchmal zutrauen.

Skateboard fahren und mit bunten Tüchern tanzen

Die Welt verändert sich. Das Tuch bedeckt unser Haar, nicht unser Hirn. Mit oder ohne Hidjab, muslimische Frauen auf der ganzen Welt sind in Bewegung. Sie lassen traditionelle patriarchale Bilder hinter sich und wollen frei sein. Sie schreiben, forschen und erfinden sich neu. Hidjabi wird zum Lifestyle, Kopftuch zur Mode und neben einem spirituellen auch zum feministischen Statement. Wir wollen Skatebord fahren und mit bunten Tüchern tanzen. Wir geben uns nicht mehr still zufrieden mit den Erklärungen der Männer und lesen den Koran und die Schriften neu, und zwar selber. Wir sind laut und wütend, führen Revolutionen und zeigen euch den Mittelfinger, wenn ihr uns auf den Straßen beleidigt. Wir sind da und werden nicht wieder gehen.

Karoline Roscher-Lagzouli

© Qantara.de 2021    

Karoline Roscher-Lagzouli hat Islamwissenschaften studiert und arbeitet als Autorin.