Politprosa aus dem Gefängnis

Seit 2016 ist der ehemalige Vorsitzende der Oppositionspartei HDP in der Türkei inhaftiert. Seither hat er fünf Bücher publiziert. Mit der Geschichtensammlung "Kaltfront“ liegt nun das zweite davon auf Deutsch vor. Gerrit Wustmann hat es für Qantara.de gelesen.

Von Gerrit Wustmann

"Es ist nicht leicht, im Gefängnis zu schreiben, und was von Gefangenen literarisch produziert wird, findet leider oft nicht zum Leser“, schreibt Selahattin Demirtaş in der Danksagung seines Geschichtenbandes "Kaltfront“, der gerade in der Übersetzung von Gerhard Meier auf Deutsch erschienen ist. Es ist, nach "Morgengrauen“ (Deutsch Penguin Verlag 2017), das zweite von inzwischen fünf Büchern, die der Politiker und ehemalige Vorsitzende der oppositionellen Partei HDP seit seiner Inhaftierung im Jahr 2016 publiziert hat. Mit dem Schreiben hat er erst in der Haft angefangen.

Nun mag seine Aussage über die Gefängnisliteratur generell stimmen, aber die Türkei, so scheint es, bildet da eine Ausnahme. Schon im vergangenen Jahrhundert kam von dort eine Menge Gefängnisliteratur, und in den Jahren seit 2016 ist die Anzahl von im Gefängnis oder nach der Entlassung über das Gefängnis verfassten Büchern regelrecht explodiert. Daran lässt sich erst einmal der Status eines Landes ablesen, das sich von der Rechtsstaatlichkeit verabschiedet hat.

Denn während politische Häftlinge überproportional oft schreiben, nicht zuletzt, weil sich unter ihnen viele Journalisten und Schriftsteller finden, tun das tatsächliche Straftäter doch eher selten.

Ein Hauch Optimismus

Neben Demirtaş denke man an Can Dündar, Aslı Erdoğan, Deniz Yücel, Doğan Akhanlı oder Ahmet Altan, um nur mal die Prominentesten zu nennen, die seit 2016 in oder auf Veranlassung der Türkei in Haft waren oder sind und in der Folge Bücher geschrieben haben. Viele dieser Bücher wurden inzwischen ins Deutsche und in weitere Sprachen übersetzt.

Demirtas genießt weiterhin sehr hohe Popularitätswerte; Getty Images/AFP/Y. Akgulac
Seit November 2016 ist Selahattin Demirtas, ehemals einer der beiden Vorsitzenden der pro-kurdischen Partei HDP, in Haft. Erdogan wirft dem Politiker Terrorpropaganda, Mitgliedschaft in einer Terrorgruppe sowie Volksverhetzung und Aufstachelung zur Gewalt vor. "Demirtaş ist in Haft, weil seine Partei dem Staatspräsidenten gefährlich wurde und ihn 2015 die Mehrheit gekostet hat. Aus keinem anderen Grund", schreibt Gerrit Wustmann.



Die Stimmen, die das AKP-Regime verstummen lassen oder wenigstens einschüchtern will, haben heute mehr Aufmerksamkeit als je zuvor. Das zu hinterfragen kratzt freilich am Willkür-Selbstverständnis despotischer Staatssysteme, die dem erratischen Willen machtorientierter Akteure ausgeliefert sind.

Nach der Wiederwahl Recep Tayyip Erdogans zum türkischen Staatspräsidenten im Mai 2023, fast pünktlich zum 100. Geburtstag der Türkischen Republik, dürften Demirtaş Chancen auf Freilassung noch einmal gesunken sein. Es wäre müßig, hier nun all das zu wiederholen, was ihm in der Begründung seiner Haft vorgeworfen wird. Denn nichts davon ist wichtig.

Demirtaş ist in Haft, weil seine Partei dem Staatspräsidenten gefährlich wurde und ihn bei den Parlamentswahlen 2015 die Mehrheit gekostet hat. Aus keinem anderen Grund. Und wie "demokratisch“ auch die jüngste Wahl gewesen ist, lässt sich neben vielen Aspekten auch daran festmachen, dass die HDP, um einem Verbot und weiteren Repressionen zu entgehen, selbst keinen Kandidaten aufgestellt, sondern lediglich das oppositionelle Bündnis um die CHP unterstützt hat. Demirtaş ist nur einer von hunderten HDP-Akteuren in Haft, wohl aber der prominenteste.

In seinen Briefen und Statements, in Interviews ebenso wie in seinen Kurzgeschichten, gibt sich Demirtaş als ungebrochener Mutmacher, als einer, der sich von den Gefängnismauern demonstrativ nicht brechen lässt. In seinen Texten versammelt er die kleinen Leute: Arbeiter und kurdische Dorfbewohner, unglücklich Verliebte, Verlierer. Bis auf zwei haben all diese Geschichten einen Dreh ins Optimistische, in das Dennoch, wie wir es aus der Literatur von Albert Camus kennen.

Die finsterste Story trägt den Titel "Barans Wiege“ und dreht sich um eine junge Familie am Rande der Gesellschaft, Wanderarbeiter, die kaum genug Geld haben, um über die Runden zu kommen. Zu Beginn des Sommers machen sie sich auf in Richtung der schwülen Hitze von Adana, um dort fünfzehn Stunden täglich auf den Feldern zu ackern.

Kapitalistische Ellbogengesellschaft

Die Nächte verbringen sie zusammengepfercht in engen Zelten ohne jede Privatsphäre, nur um der Hoffnung willen, ein paar Lira ansparen zu können – sofern man sie nicht um ihren Lohn betrügt. Nur kommen sie auf den Feldern nie an. Ihr übermüdeter Busfahrer baut einen Unfall, und mit der Familie sterben sechzehn weitere Insassen. Sie enden als Randnotiz in der Tagespresse. Niemand nimmt sie wahr, niemand interessiert sich für sie, selbst ihr Tod ist bedeutungslos. Da schlägt die ganze gnadenlose Härte einer erfolgsorientierten kapitalistischen Ellenbogengesellschaft durch.

Cover von Selahattin Demirtas "Kaltfront. Storys", erschienen bei Penguin Verlag; Quelle: Verlag
Keine subtile Botschaft: Leider findet sich in Demirtaş Buch eineArt von plumper Sozialromantik. Wo "Die Zeit" über den Vorgänger "Morgengrauen“ noch konstatierte: "Dieses Buch ist keine Politprosa. Es ist hohe Erzählkunst“, muss man hier das Gegenteil feststellen. Es ist Politprosa. Und wenig mehr. Da schimmert an jeder Ecke die marxistische Idee des neuen Menschen durch; es sind ideologische Erzählungen mit klarer Message, subtil ist daran nichts.

Sie bildet auch den Hintergrund der anderen Storys. Man kann "Kaltfront“ grob in zwei Themenkomplexe einteilen: Arbeitergeschichten und Liebesgeschichten. Im ersteren geht es um arme Menschen, die es mit Willkür zu tun bekommen, sich aber meist durch ihr gutes Wesen und ihren unbedingten Drang zur Gerechtigkeit behaupten und einander immer unterstützen.

Im zweiten Themenkomplex geht es um Verliebte, die sich mal zum Clown machen, mal die Angebetete erobern. Auch hier spielt stets ein gesellschaftspolitisches Element hinein, etwa bei dem Dieb, der einer jungen Frau das Smartphone klaut und wenig später ein so schlechtes Gewissen hat, dass er es zurückgibt. 

Obendrein wird er von der Bestohlenen in ihre "revolutionäre“ Kommune aufgenommen. Für sie ist er kein Dieb, sondern bloß ein Opfer der Verhältnisse, das für seine Taten nichts kann, den keine Schuld trifft.

Diese Art von plumper Sozialromantik findet sich, leider, durchgehend in Demirtaş Buch. Und wo "Die Zeit" über den Vorgänger "Morgengrauen“ noch konstatierte: "Dieses Buch ist keine Politprosa. Es ist hohe Erzählkunst“, muss man hier das Gegenteil feststellen. Es ist Politprosa. Und wenig mehr.



Da schimmert an jeder Ecke die marxistische Idee des neuen Menschen durch; es sind ideologische Erzählungen mit klarer Message, subtil ist daran nichts.



Und man muss es wiederholen: Leider! Denn jeder der hier versammelten Texte entwickelt einen eigenen Sog, sie sind lesbar und lesenswert und führen mit sicherer Feder in ihre Milieus.



Der beste Text im ganzen Band ist mit knapp 26 Seiten auch der längste: Es ist die verschlungene Lebensgeschichte eines Mannes, der aus seinem Bergdorf auszog, um Hoca zu werden, der aber nie zurückkehrte, sondern in Istanbul ein Vergnügungslokal eröffnete.



Zumindest scheint es so, bis sein Enkel sich auf seine Spuren begibt und den Pfaden einer höchst interessanten Persönlichkeit folgt.



Interessant ist diese Geschichte deshalb, weil dieser Mann die einzige Figur im ganzen Buch mit Zwischentönen, die ambivalent ist und damit menschlich wirkt – und nicht nur wie ein symbolischer Charakter, der dem Autor als Vehikel für eine Aussage dient.

Gerrit Wustmann

© Qantara.de 2023

Selahattin Demirtaş, "Kaltfront. Storys", Penguin Verlag München, 28.6. 2023, 160 S.