Widerspricht Jürgen Habermas seinen eigenen Ideen?

German philosopher Juergen Hamas (left) and sociologist Asef Bayat (right)
Der Philosoph Jürgen Habermas (links) und der Soziologe Asef Bayat (rechts). (Louisa Gouliamaki/AFP über Getty Images)

Habermas, einer der weltweit einflussreichsten Philosophen, hat zum Krieg in Gaza Stellung genommen. Der Soziologe Asef Bayat hält ihm seine eigenen Argumente entgegen.

Essay von Asef Bayat

Am 13. November hat Jürgen Habermas eine Stellungnahme zum Gegenschlag Israels nach dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober unter dem Titel “Grundsätze der Solidarität” veröffentlicht, in der er Israels Militäroffensive in Gaza als “prinzipiell gerechtfertigte(n) Gegenschlag” bezeichnet. In seinem offenen Brief kritisiert der Soziologe Asef Bayat die Stellungnahme, weil sie den Prinzipien von Habermas eigenem Denken widerspreche. Der offene Brief will eine Einladung zur Debatte sein.  

Lieber Herr Habermas,

vermutlich erinnern Sie sich nicht mehr an mich, aber wir sind uns im März 1998 in Ägypten begegnet. Sie kamen als angesehener Gastprofessor an die American University in Kairo, um mit der Fakultät, den Studierenden und der Öffentlichkeit zu sprechen.

Alle waren von Ihnen begeistert. Ihre Ideen über Öffentlichkeit, rationalen Diskurs und eine demokratische Gesellschaft waren wie ein frischer Wind in einer Zeit, in der Islamisten und Autokraten im Nahen Osten die Meinungsfreiheit unter dem Vorwand unterdrückten, den "Islam schützen" zu wollen.  

Ich erinnere mich an ein gutes Gespräch über den Iran und die Religionspolitik bei einem Abendessen im Haus eines Kollegen. Ich versuchte, Ihnen meine Gedanken über die Entstehung einer "post-islamistischen“ Gesellschaft im Iran darzulegen. Bei Ihrer Reise nach Teheran im Jahr 2002 haben Sie diese Erfahrung offenbar selbst gemacht und später von einer "postsäkularen" Gesellschaft in Europa gesprochen. 

In Kairo sahen wir damals in Ihren Kernkonzepten ein großes Potenzial für die Förderung einer transnationalen Öffentlichkeit und eines interkulturellen Dialogs. Wir haben uns den Kern Ihrer Theorie des kommunikativen Handelns zu Herzen genommen, nach der Konsens und Wahrheit durch freie Debatten erreicht werden können. 
 
Jetzt, rund 25 Jahre später, lese ich in Berlin mit nicht geringer Sorge Ihre gemeinsam mit anderen verfasste Erklärung "Grundsätze der Solidarität". Der Geist der Erklärung mahnt diejenigen in Deutschland, die sich in Erklärungen oder Protesten gegen die unerbittliche Bombardierung des Gazastreifens durch Israel als Reaktion auf den an Grausamkeit nicht zu überbietenden Angriff der Hamas vom 7. Oktober aussprechen.

Ihre Erklärung impliziert, dass eine solche Kritik an Israel nicht toleriert werden dürfe, weil die Unterstützung des Staates Israel ein grundlegender Bestandteil der deutschen politischen Kultur sei, "für die jüdisches Leben und das Existenzrecht Israels zentrale, besonders schützenswerte Elemente sind". Der Grundsatz des besonderen Schutzes wurzelt in der besonderen Geschichte Deutschlands, sprich den "Massenverbrechen der NS-Zeit". 

Ein deutscher Sonderweg

Es ist anzuerkennen, dass Sie und die politisch-intellektuelle Klasse Ihres Landes die Erinnerung an diesen historischen Kulturbruch wachhalten wollen, damit Juden (und, wie ich annehme, auch anderen Völkern) nicht noch einmal ähnliches Grauen widerfährt. 

Ihre Formulierung und die Fixierung auf die deutsche Sonderrolle lassen aber praktisch keinen Raum für einen Diskurs über die Politik Israels und die Rechte der Palästinenser. Wenn Sie Kritik am "israelischen Vorgehen" mit "antisemitischen Reaktionen" gleichsetzen, fördern Sie das Schweigen und ersticken die Debatte. 
 
Mit großem Erstaunen stelle ich als Wissenschaftler fest, dass an deutschen Schulen und Universitäten, die doch Orte der Diskussion und des Fragens sein sollten, fast alle schweigen, wenn das Thema Palästina zur Sprache kommt. In Zeitungen, Radio und Fernsehen gibt es so gut wie keine offene und sinnvolle Auseinandersetzung mit dem Thema. 

Tatsächlich wurden Menschen, darunter auch Juden, die einen Waffenstillstand forderten, aus ihren Ämtern entlassen, ihre Veranstaltungen und Ehrungen abgesagt und sie des "Antisemitismus“ bezichtigt. Wie sollen die Menschen darüber nachdenken, was richtig und was falsch ist, wenn sie sich nicht frei äußern dürfen? Wie steht es um Ihre vielbeschworene Idee der "Öffentlichkeit“, des "rationalen Diskurses" und der "deliberativen Demokratie“ (einer Demokratie, die auf öffentliche Diskurse und die Teilhabe der Bürger an Entscheidungsprozessen setzt, Anm. der Red.)

Die meisten der Kritiker und Demonstranten, die Sie ermahnen, stellen keineswegs das Prinzip des Schutzes jüdischen Lebens infrage. Und bitte verwechseln Sie diese rationalen Kritiker der israelischen Regierung nicht mit den verachtenswerten rechtsextremen Neonazis oder anderen Antisemiten, die man entschieden verurteilen und denen man entgegentreten muss. 

Fast jede Erklärung, die ich gelesen habe, verurteilt sowohl die Gräueltaten der Hamas gegen Zivilisten in Israel als auch den Antisemitismus. Diese Kritiker stellen nicht den Schutz des jüdischen Lebens oder das Existenzrecht Israels infrage. Sie kritisieren die Leugnung palästinensischen Lebens und des Existenzrechts Palästinas. Darüber schweigen Sie tragischerweise in Ihrer Stellungnahme. 
 
In der Stellungnahme findet sich kein einziger Hinweis auf Israel als Besatzungsmacht oder auf Gaza als Freiluftgefängnis. Zu diesen eklatanten Unterschieden wird nichts gesagt. Von der routinemäßigen Auslöschung palästinensischen Lebens im besetzten Westjordanland und in Ostjerusalem ganz abgesehen. Das "Vorgehen Israels", das Sie als "prinzipiell gerechtfertigt" ansehen, hat dazu geführt, dass nach dem 7. Oktober innerhalb von sechs Tagen 6.000 Bomben auf eine wehrlose Bevölkerung abgeworfen wurden. Inzwischen sind weit über 15.000 Tote (davon 70 Prozent Frauen und Kinder), rund 35.000 Verletzte und 7.000 Vermisste sowie 1,7 Millionen Vertriebene zu beklagen. Ganz zu schweigen von der Grausamkeit, der Bevölkerung Nahrung, Wasser, Obdach, Sicherheit und ein Mindestmaß an Würde zu verweigern. Lebenswichtige Infrastruktur wurde zerstört. 

Der moralische Kompass ist verstellt

Auch wenn das israelische Vorgehen vielleicht nicht formal den Kriterien einer "genozidalen Absicht" entspricht, so sprechen Vertreter der Vereinten Nationen doch klar von "Kriegsverbrechen", "Zwangsvertreibung" und "ethnischer Säuberung“. Mich beschäftigt hier nicht die Frage, wie "Israels Vorgehen" juristisch zu bewerten ist, sondern wie diese moralische Kälte und Gleichgültigkeit zu erklären ist, die Sie angesichts einer solchen Verwüstung an den Tag legen. Wie viele Menschen müssen noch sterben, bevor ihr Schicksal Beachtung findet? Was bedeutet eigentlich die "Verpflichtung zur Achtung der Menschenwürde", an die Sie in Ihrer Stellungnahme erinnern?  
 
Man könnte meinen, Sie befürchten, dass die moralische Verpflichtung gegenüber dem jüdischen Leben geschwächt wird, wenn man über das Leiden der Palästinenser spricht. Wenn dem so ist, dann ist es tragisch, dass die Aufarbeitung einer ungeheuerlichen Ungerechtigkeit in der Vergangenheit mit einer anderen ungeheuerlichen Ungerechtigkeit in der Gegenwart einhergehen muss. 

Ich fürchte, dass dieser verstellte moralische Kompass mit der Logik des deutschen Exzeptionalismus zusammenhängt, den Sie vertreten.  
 
Exzeptionalismus lässt per definitionem keinen universellen Standard zu, sondern unterschiedliche Standards. Manche Menschen kommt danach mehr Menschenwürde zu, anderen weniger und wieder anderen gar keine. Diese Logik verhindert den rationalen Dialog und desensibilisiert das moralische Bewusstsein. Sie errichtet eine kognitive Blockade, die uns blind macht für das Leiden anderer und Empathie verhindert. 
 
Aber nicht jeder erliegt dieser kognitiven Blockade und moralischen Erstarrung. Ich habe den Eindruck, dass viele junge Deutsche privat eine ganz andere Meinung zum israelisch-palästinensischen Konflikt haben als die politische Klasse des Landes. Einige nehmen sogar an öffentlichen Demonstrationen teil. Die junge Generation hat Zugang zu alternativen Medien und Wissensquellen und durchläuft andere kognitive Prozesse als die ältere Generation. Doch aus Angst vor Repressalien schweigen die meisten im öffentlichen Raum. 

Es scheint eine Art "verborgener Öffentlichkeit" zu entstehen, ironischerweise im demokratischen Deutschland, ähnlich wie in Osteuropa vor 1989 oder heute unter der despotischen Herrschaft im Nahen Osten.  
 
Wenn Menschen aus Einschüchterung daran gehindert werden, ihre Meinung öffentlich zu äußern, neigen sie dazu, ihre eigenen, alternativen Erzählungen über wichtige gesellschaftliche Themen im Privaten zu entwickeln, auch wenn sie sich nach außen hin den offiziell sanktionierten Ansichten anschließen. Eine solche "verborgene Öffentlichkeit" kann sich bei passender Gelegenheit explosionsartig entladen. 

Eurozentrismus erschwert die Debatte

Lieber Herr Habermas, wir leben in unruhigen Zeiten. Gerade in solchen Zeiten werden die Weisheit, das Wissen und vor allem die Zivilcourage von Denkern wie Ihnen dringend gebraucht. Ihre bahnbrechenden Ideen über Wahrheit und kommunikatives Handeln, Kosmopolitismus, Weltbürgergesellschaft, deliberative Demokratie und Menschenwürde sind nach wie vor von immenser Bedeutung. Aber Ihr Eurozentrismus, der deutsche Exzeptionalismus und die Unterdrückung der freien Debatte über Israel und Palästina, zu der Sie beitragen, scheinen diesen Ideen zu widersprechen. 

Wissen und Bewusstsein allein reichen vielleicht nicht aus, so fürchte ich. Um mit Antonio Gramsci zu fragen: Wie kann ein Intellektueller "wissen", ohne zu "verstehen", und "verstehen", ohne zu "fühlen"? Nur wenn wir das Leid der anderen durch Empathie "fühlen", gibt es Hoffnung für unsere krisengeschüttelte Welt. 

Erinnern wir uns an die Worte des persischen Dichters und Mystikers Saadi aus dem 13. Jahrhundert: 

Alle Menschen sind Glieder eines Ganzen, 
Geschaffen aus einem Wesen und einer Seele. 
Wenn ein Glied schmerzt, 
werden auch andere Glieder in Mitleidenschaft gezogen. 
Wer kein Mitgefühl mit menschlichem Schmerz hat, 
darf sich nicht Mensch nennen! 

Hochachtungsvoll,

Asef Bayat 

© New Lines Magazine 2023

Dieser Artikel wurde zunächst am 8. Dezember im  New Lines Magazine veröffentlicht.

Asef Bayat ist Professor für Soziologie und "Catherine & Bruce Bastian Professor of Global and Transnational Studies“ an der University of Illinois, Urbana-Champaign, USA. Bayat forscht als Soziologe unter anderem zu zeitgenössischen Gesellschaften im Nahen Osten. Bekannt wurde er vor allem durch seine Überlegungen zum "Post-Islamismus“ und für seine differenzierten Studien zum urbanen Raum, zum Alltagsleben und zur Frage, "wie gewöhnliche Menschen den Nahen Osten verändern“ (Untertitel seines 2013 erschienenen Buches "Life as Politics").