Wo bleiben die Grautöne?

Trauer in Tel Aviv nach dem terroristischen Angriff der Hamas mit mehr als 1400 Toten.
Trauer in Tel Aviv nach dem terroristischen Angriff der Hamas mit mehr als 1400 Toten. (Foto: Amir Levy/Getty Images)

In der deutschen Debatte über den Krieg im Nahen Osten fehlt es an Differenzierung und Zwischentönen. So verrennt man sich in einen neuen Sonderweg. Das weckt schmerzhafte Erinnerungen.

Kommentar von Stefan Weidner

Die deutsche Debatte über den Krieg in Nahost hat sich von der internationalen Sicht auf den Konflikt abgekoppelt. Deutsche Journalistinnen, Kulturschaffende, Institutionen und Politiker, die sich in internationalen Kontexten bewegen, stehen unter täglich wachsendem Konformitätsdruck.

Während im Rest der Welt vermittelnde und nachdenkliche Positionen gefragt sind, werden moderierende Stellungnahmen bei uns diskreditiert, lächerlich gemacht oder ignoriert. Man kann fast dankbar sein, dass Annalena Baerbock anlässlich der letzten Sitzung des Weltsicherheitsrats den Mut hatte, von "humanitären Fenstern“ zu reden; dass sie sich bei der UN-Resolution, die einen Waffenstillstand forderte, enthielt. 

Denn hätte sie von "humanitären Bullaugen“ oder "Gucklöchern“ gesprochen, statt von einer humanitären Waffenruhe, wäre das in Deutschland niemandem mehr komisch vorgekommen. Doch selbst die klägliche humanitäre Minimalposition der Ministerin war den Meinungsmachern dieses Landes zu viel. 

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Die Angst der Buchmesse vor der Literatur

Der neue deutsche Sonderweg, den die Regierung und die führenden Medien nach dem Terrorüberfall der Hamas auf die israelischen Grenzgebiete am 7. Oktober eingeschlagen haben, hat den Ruf unseres Landes schon jetzt schwer geschädigt. Das erste, Aufsehen erregende Beispiel lieferte die Frankfurter Buchmesse, bis vor kurzem eine Bastion von Meinungsfreiheit und internationaler Vernetzung.

Nach dem 7. Oktober fühlte sich die Buchmesse genötigt, den Festakt für die israelisch-palästinensische Autorin Adania Shibli zu canceln, die für ihren gefeierten Roman "Eine Nebensache“ den LiBeraturpreis bekommen sollte. 

Der Schuss ging nach hinten los. Shibli lebt zwar in Berlin, ist jedoch weltweit bestens vernetzt. Es hagelte Protestnoten, unter anderem von Literaturnobelpreisträgern. Die New York Times und andere internationale Medien berichteten mehrfach über den Fall. Es war eine Blamage nicht nur für die Buchmesse, sondern für das Ansehen der deutschen Kultur insgesamt. Die Reaktion der deutschen Öffentlichkeit aber bestand in der Folge darin, die Stimmung gegen Shibli nur noch weiter anzuheizen.

Angst vor der Debatte

Dass Fragen, nuancierte Haltungen, historische Einordnungen, abwägende Positionen und Debatten in Deutschland kaum mehr gefragt sind, hatte die Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Karin Schmidt-Friderichs, bereits zu Beginn der Messe klargemacht. Wörtlich sagte sie: "Mit einer Ablehnung des Wortes 'aber’ eröffne ich die 75. Frankfurter Buchmesse."

Wer jedoch das Aber ablehnen muss, um die Mordbrennereien der Hamas zu verurteilen, nimmt seinerseits eine fragwürdige Position ein. Er oder sie stellt sich gegen die Sprache der Vernunft, die auf das dialektische Wechselspiel von Für und Wider angewiesen ist. Stattdessen setzt sie auf die Sprache des Diktats, des Dekrets und der rohen, keinem Diskurs mehr zugänglichen Macht. 

Mutige jüdische Verteidigung der Debattenkultur

Aber es geht noch schlimmer: Nur und allein in Deutschland spielt es jetzt keine Rolle mehr, auf welcher politischen Seite die Nazis standen; der Antisemitismus wird als typisch linkes Phänomen dargestellt. Nur und allein in Deutschland entblödet man sich nicht, Klimaaktivisten als Antisemiten zu beschimpfen, weil einige einen Waffenstillstand forderten. Nur und allein in Deutschland hört man ostentativ weg, wenn Juden und Israelis, die in diesem Land leben, nuancierte, abwägende und humanitäre Überlegungen anstellen. 

Dabei müssten wir ihnen ganz besonders dankbar sein. Denn diese Juden und Israelis zählen zu den wenigen, die bereit sind, die Debattenkultur noch zu verteidigen. Weil Adania Shibli auf der Buchmesse nicht auftreten durfte, haben hier lebende jüdische und israelische Autorinnen und Autoren unter dem Banner des PEN-Clubs Berlin auf der Messe aus Shiblis Roman gelesen. 

Statt im Gleichschritt in Richtung eines neuen deutschen Sonderwegs zu marschieren, sollten wir uns diese Menschen zum Vorbild nehmen und in uns gehen, bevor wir mit dem Finger auf die zeigen, die zum Nahostkonflikt eine nachdenklichere und behutsamere Meinung haben als die von den Vertretern unseres Staates und den öffentlichen und privaten Medien mit Eifer vorgegebene.

Stefan Weidner

© Qantara.de 2023

Von Stefan Weidner erschien zuletzt "Ground Zero. 9/11 und die Geburt der Gegenwart“, Hanser Verlag 2021