Kommt es zum Bruch zwischen dem Westen und der islamischen Welt?

U.S. Secretary of State Antony Blinken (left) visits Israeli Prime Minister Benjamin Netanyahu (right)
Ungebrochene Unterstützung: Bislang fällt die Kritik des Westens an Israels Krieg im Gazastreifen, der Tausende von unschuldigen Menschenleben gefordert hat, verhalten aus. (Foto: Amos Ben Gershom/Israel Gpo/ZUMA Wire/IMAGO)

Die Ereignisse im Nahen Osten werden langfristige Folgen für die Weltpolitik haben. Denn aus Sicht der islamischen Welt unterstützen westliche Regierungen die israelische Belagerung und die Luftangriffe auf den Gazastreifen kritiklos.

Essay von Ahmet T. Kuru

Der israelisch-palästinensische Konflikt hat erneut eine weltweite Debatte ausgelöst. Seit dem Terroranschlag der Hamas, bei dem über 1.400 Israelis getötet wurden, fliegen die israelischen Streitkräfte Luftangriffe auf den Gazastreifen, bei denen bisher über 9.000 Palästinenser getötet wurden. Israel blockiert die Versorgung mit Lebensmitteln, Treibstoff und Strom und hat die Zivilbevölkerung von Gaza aufgerufen, den nördlichen Gazastreifen zu verlassen.

Diese Ereignisse werden die Weltpolitik nachhaltig beeinflussen. Wer die Folgen vorhersagen will, muss die Wahrnehmungen genau analysieren. Hier stellt sich die Frage: Wie stehen Muslime weltweit zur ungebrochenen Unterstützung westlicher Regierungen für die Belagerung und Bombardierung des Gazastreifens durch Israel? 

Als muslimisch-amerikanischer Akademiker mit türkischen Wurzeln habe ich in vielen Ländern mit muslimischen Wissenschaftlern, Intellektuellen und Aktivisten zu tun gehabt. Zum Beispiel in Indonesien, Malaysia und den Niederlanden, wo meine Schriften übersetzt wurden; ferner in Marokko und Bosnien, wo ich vor drei Monaten zu Besuch war. Demnächst werde ich nach Pakistan und Deutschland reisen.

Meine muslimischen Freunde sind selten einer Meinung: Manche sind säkular, andere islamistisch; einige unterstützen LGBTQ-Rechte vorbehaltlos, andere haben Vorbehalte. Aber jetzt sind sich alle einig: Die bedingungslose Unterstützung der westlichen Regierungen für Israels militärisches Vorgehen im Gazastreifen und die anhaltende Besetzung des Westjordanlandes sehen alle meine Freunde als Beweis dafür, dass die westlichen Staaten die Menschenrechte nicht wirklich achten. 

Für meine Freunde ist es lediglich strategisches Kalkül, wenn westliche Regierungen Demokratie und Menschenrechte betonen. In Wirklichkeit gehe es diesen Regierungen um Macht und Hegemonie in den internationalen Beziehungen.

Was diese Wahrnehmung noch verstärkt sind bestimmte gesetzliche und administrative Verbote, die einige westliche Regierungen den Kritikern des Staates Israel auferlegen wollen. Während der Blasphemie-Debatten haben westliche Regierungen zu Recht die Bedeutung der Meinungsfreiheit betont. Jetzt scheint man den Muslimen zu sagen: Meinungsfreiheit ist wichtig, wenn jemand religiöse Symbole verunglimpft, aber man darf sie nicht nutzen, um die israelische Regierung zu kritisieren.

Lektionen aus 9/11

Als ich vor einigen Jahren den westlichen Fortschritt als Modell für die Demokratisierung und sozioökonomische Entwicklung muslimischer Gesellschaften darstellte, wurde mir von vielen vorgeworfen, ich würde den westlichen Kolonialismus und Imperialismus unterschätzen.

Dennoch habe ich in meinen Schriften und Reden immer wieder die westlichen Demokratien gewürdigt und antiwestliche Diskurse infrage gestellt. Ein Interview, das ich kürzlich einer bosnischen Zeitung gab, erschien beispielsweise unter der Überschrift: "Westliche Werte und Islam sind vereinbar“.

Wenn meine muslimischen Gesprächspartner auf die Folgen der US-Invasionen im Irak und in Afghanistan zu sprechen kamen, wies ich darauf hin, dass dies Fehler seien, die man nach den Anschlägen vom 11. September 2001 gemacht habe und aus denen die USA gelernt hätten. 

Als Qantara.de mich bat, den zwanzigsten Jahrestag der Anschläge vom 11. September 2001 zu kommentieren, schrieb ich einen recht optimistischen Essay über den grundsätzlichen Erfolg der USA bei der Integration der muslimischen Minderheit in die amerikanische Gesellschaft. 

Doch die jüngsten Ereignisse scheinen die Argumente meiner Kritiker zu bestätigen. Bin ich immer noch optimistisch? Das hängt von der weiteren Entwicklung der Ereignisse ab.

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Verschiedene Zukunftsszenarien

Zwei Szenarien sind für die Zukunft denkbar. Zum einen könnte sich unter den Muslimen eine zynische Haltung gegenüber der Demokratie als westlicher Institution durchsetzen. 

Infolge dessen könnte sich der Autoritarismus in der muslimischen Welt verfestigen. Die Anhänger von Liberalismus und Demokratie würden von Islamisten, Nationalisten und anderen Anhängern autoritärer Strukturen weiter an den Rand gedrängt. Dies dürfte die ohnehin problematische antiwestliche Haltung in vielen muslimischen Gesellschaften verstärken.

Die wachsende Ablehnung in der muslimischen Welt verheißt für die westlichen Staaten nichts Gutes. Geopolitisch wird dies einer zunehmenden Polarisierung unter dem Stichwort "Kampf der Kulturen“ Vorschub leisten. In der Folge werden Russland und China ihren Einfluss in der muslimischen Welt ausbauen. 

In den westlichen Ländern dürften vor allem rechtspopulistische Parteien von dieser Entwicklung profitieren. Ihr Zulauf wird weiter wachsen, was die Integration muslimischer Menschen in die westlichen Gesellschaften erschweren wird. Beides wird die westlichen Demokratien schwächen.

Ein positiveres Szenario ist denkbar

Aber es ist auch ein anderes Szenario denkbar. Muslime könnten Demokratie und Menschenrechte als universelle Werte zu schätzen lernen, auch wenn sie von manchen westlichen Regierungen nicht hochgehalten werden. Dies würde die Debatte darüber beenden, ob Demokratisierung für muslimisch geprägte Länder gleichbedeutend mit der Nachahmung des Westens ist. Die Stärkung demokratischer Kräfte wird auch die Integration muslimischer Minderheiten in westliche Gesellschaften erleichtern.

Dieses Szenario könnte die Zusammenarbeit mit Juden und anderen nicht-muslimischen Gruppen beinhalten, um eine friedliche, diplomatische Lösung für den israelisch-palästinensischen Konflikt zu finden. In den Vereinigten Staaten haben beispielsweise einige jüdische Gruppen gegen den Krieg protestiert und einen Waffenstillstand gefordert.

Der Erfolg der "Black Lives Matter“-Bewegung in den USA ist auch darauf zurückzuführen, dass es sich um eine breite Koalition von Menschen mit unterschiedlichen Identitäten handelt. Gleichermaßen bedarf es des Engagements eines breiten Querschnitts der Gesellschaft, wenn das Leben der Palästinenser eines Tages für westliche Regierungen mehr Gewicht haben soll.

Ahmet T. Kuru

© Qantara.de 2023

 

Ahmet T. Kuru ist Professor für Politikwissenschaft und Leiter des Zentrums für Islamische und Arabische Studien an der San Diego State University. Er ist Autor von Islam, Authoritarianism, and Underdevelopment: A Global and Historical Comparison.

 

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