Was kommt nach Gaza?

Nach den Terrorangriffen der Hamas am 7. Oktober, hat die Welt Israel in seinem Recht auf Selbstverteidigung bestärkt. Aber die internationale Gemeinschaft sollte weiter denken und einen neuen Friedensprozess für die Region anstoßen. Ein Kommentar von Carl Bildt

Von Carl Bildt

Der Gazastreifen droht in einer neuen Hölle zu versinken. Weder für den bösartigen Angriff der Hamas auf Israel, dem rund 1.600 Menschen zum Opfer fielen - viele davon unschuldige Zivilisten – noch für die Geiselnahmen gibt es irgendeine Entschuldigung. Richtigerweise pocht die Welt darauf, dass Israel das Recht habe, sich zu verteidigen. 

Allerdings gilt es auch zu bedenken, wie es zu dieser Situation gekommen ist und ob es - sowohl für Israelis als auch für Palästinenser - noch einen gangbaren Weg zu Frieden und Stabilität in der Region gibt. Auch wenn dieser jüngste Krieg erst am Anfang steht, haben wir doch die Pflicht, die verschiedenen Szenarien durchzudenken. 

Nach dem koordinierten Überraschungsangriff Syriens und Ägyptens gegen Israel vor fast genau 50 Jahren, im Oktober 1973, stand Israel knapp vor einer möglichen Niederlage. Letztlich drehten die Israelis den Spieß aber um, gingen als Sieger hervor und schufen die Voraussetzungen für einen schrittweisen Prozess zur Beendigung der Feindseligkeiten in der Region. 

Nachdem Israel mit zwei seiner Nachbarländer - zunächst Ägypten und dann Jordanien - Frieden geschlossen hatte, konnten sich alle der Frage der Palästinenser zuwenden, die seit 1967 unter israelischer Besatzung lebten. Zu diesem Zweck schuf man mit den Osloer Abkommen der Jahre 1993 bis 1995 die Grundlage für eine mögliche Zukunft, in der ein palästinensischer Staat friedlich an der Seite Israels existieren würde, wobei sich die beiden Staaten sogar eine gemeinsame Hauptstadt, nämlich Jerusalem, geteilt hätten. 

Drei Jahrzehnte Rückschritt

Tragischerweise folgten jedoch auf die zwei Jahrzehnte diplomatischer Fortschritte nach dem Jom-Kippur-Krieg drei Jahrzehnte des Rückschritts. Auf beiden Seiten gewannen jene Kräfte die Oberhand, die eine Versöhnung und einen friedlichen Kompromiss ablehnen.

[embed:render:embedded:node:35599]



Die palästinensischen Fundamentalisten in der Hamas und ähnlichen Organisationen sind erstarkt und israelische Eiferer haben ihre illegalen Siedlungen in den besetzten Gebieten ausgeweitet, die eigentlich das Territorium eines künftigen palästinensischen Staates hätten werden sollen. Gemeinsam haben die Fanatiker auf beiden Seiten die mit den Abkommen von Oslo geschlagene Brücke zerstört. 

Aber auch die internationale Gemeinschaft trägt Verantwortung für dieses Versagen. Die Europäische Union und die Vereinigten Staaten waren zu uneins und zu abgelenkt, um sich ernsthaft für einen dauerhaften Friedensprozess einzusetzen. Alle fanden es einfacher, die palästinensische Frage einfach zu verdrängen. Schon vor den Angriffen vom 7. Oktober war von den in Oslo vereinbarten Prinzipien und Zielen fast nichts mehr übrig. 

Vorerst übt man sich nun in gegenseitigen Schuldzuweisungen. Die illegalen israelischen Siedlungen wurden weiter ausgebaut, wodurch im Westjordanland de facto ein Apartheidsystem entstanden ist, und die Palästinensische Autonomiebehörde hat jede Glaubwürdigkeit verloren. Jüngere Palästinenser verzweifeln angesichts ihrer Zukunftsaussichten, und einige glauben, dass Gewalt die einzige Antwort sei. 

Die vor nicht allzu langer Zeit unterzeichneten Abraham Abkommen, die den Weg für die Normalisierung der diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten sowie Bahrain ebneten, stellen zweifelsohne eine positive Entwicklung dar. Es war jedoch ein Fehler zu glauben, dass die palästinensische Frage beiseite geschoben werden kann. Früher oder später musste sie wieder auftauchen, und mit dem entsetzlichen Terroranschlag der Hamas ist sie nun wieder zurück auf der Tagesordnung.

Gaza braucht eine Perspektive

Die weltweite Aufmerksamkeit richtet sich verständlicherweise auf die erklärte Absicht Israels, die Hamas auszulöschen. Wir werden demnächst eine massive israelische Militäroperation erleben, deren Ziel die Vernichtung der Führung und der Infrastruktur der Hamas im dicht besiedelten Gazastreifen ist. Doch was wird geschehen, wenn dieses Ziel erreicht ist? Wird Israel die direkte Kontrolle über einen verwüsteten Gazastreifen übernehmen?

Wird es den hunderttausenden vertriebenen Palästinensern erlauben, in ihre Häuser zurückzukehren? Oder wird sich Israel danach einfach zurückziehen und damit riskieren, dass sich in Gaza eine neue Bedrohung für seine Sicherheit entwickelt? Niemand weiß das, weil es keine wirkliche Lösung gibt. Im Nahen Osten von heute wird ein isolierter Gazastreifen immer ein Problem darstellen, egal, wer ihn zu regieren versucht. 

 

 

Wenn die Kampfhandlungen beendet und die Toten gezählt worden sind, besteht für die Politik die Verpflichtung, den Kurs in Richtung Frieden wiederaufzunehmen. Verständlicherweise kochen die Emotionen auf allen Seiten hoch. Dennoch müssen wir uns fragen, ob es möglich ist - und was dazu nötig wäre – im Jahr 2023 einen neuen Friedensprozess, ein neues 1993, zu initiieren. 

Freilich präsentiert sich die Situation heute ganz anders, weil sich die Positionen auf beiden Seiten verhärtet haben. Ein guter Ausgangspunkt wäre jedoch die Rückkehr zu den Grundprinzipien der Arab Peace Initiative (arabischen Friedensinitiative) von 2002. Der von Saudi-Arabien federführend eingebrachte Vorschlag bestand im Angebot einer diplomatischen Normalisierung mit Israel im Gegenzug zur Beendigung der Besatzung im Westjordanland und neuen Zukunftsperspektiven für die Palästinenser. Nach einer Generation voller Misserfolge werden sich vielleicht neue Führungspersönlichkeiten - auf beiden Seiten - auf dieses Konzept zurückbesinnen. 

Wie immer steckt auch hier der Teufel im Detail. Dennoch muss jeder Friedensprozess mit der Anerkennung grundlegender Prinzipien beginnen und in einen größeren internationalen Kontext eingebettet sein, der Großmächte wie die USA, die EU und mittlerweile vielleicht auch China einschließt. Im Moment ist dies nur ein Traum. Doch ohne eine derartige Vision kann bestenfalls eine Atempause erreicht werden, bis es zur nächsten Tragödie kommt. 

In den kommenden Tagen und Wochen ist mit schrecklichen Ereignissen zu rechnen. Während die Panzer in den Gazastreifen rollen, bleibt nur zu hoffen, dass die Art und Weise der Kriegsführung die Möglichkeit eines künftigen Friedens nicht zerstört. Die Achtung des Völkerrechts, insbesondere des humanitären Völkerrechts, ist dabei von allergrößter Bedeutung. Dieses bildet das Fundament, auf dem eine friedliche Zukunft aufgebaut werden kann. 

Vor langer Zeit hat diese Region bei den Menschen Hoffnung auf den Himmel geweckt. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie nun in einer Hölle versinkt. Wir leben in dunklen Tagen. Es ist wichtiger als jemals zuvor, das Licht der Hoffnung am Leuchten zu halten. 

Carl Bildt

© Project Syndicate 2023

Carl Bildt war von 2006 bis 2014 Außenminister Schwedens und von 1991 bis 1994 Premierminister des Landes. In der Zeit verhandelte er den EU-Beitritt Schwedens. Der international renommierte Diplomat war EU-Beauftragter für das ehemalige Jugoslawien, Hoher Repräsentant für Bosnien und Herzegowina, UN-Sonderbeauftragter für den Balkan und Co-Vorsitzender der Friedenskonferenz von Dayton. Bildt ist einer der Vorsitzenden des European Council on Foreign Relations.