"Es braucht mehr Begegnung zwischen Juden und Muslimen"

Fahima Ulfat, Professorin für Islamische Religionspädagogik und Asher Mattern, Dozent für Jüdische Theologie, Rechtslehre und Hermeneutik haben die Jüdisch-Islamische Forschungsstelle in Tübingen Anfang Juni gegründet.
Fahima Ulfat, Professorin für Islamische Religionspädagogik, und Asher Mattern, Dozent für Jüdische Theologie, Rechtslehre und Hermeneutik, haben die Jüdisch-Islamische Forschungsstelle in Tübingen Anfang Juni gegründet. (Foto: privat)

Nach dem Terror-Angriff der Hamas auf Israel haben sich viele Juden und Muslime in Deutschland noch weiter voneinander abgeschottet. Fahimah Ulfat und Asher Mattern von der Jüdisch-Islamischen Forschungsstelle in Tübingen erklären, warum nur Bildung und Begegnung helfen, einseitige Perspektiven zu ändern.

Interview von Judith Kubitscheck

Seit nicht einmal einem halben Jahr gibt es die Jüdisch-Islamische Forschungsstelle an der Universität Tübingen. Sie will Brücken zwischen Muslimen und Juden bauen. Doch ist das nach dem terroristischen Angriff der Hamas auf Israel und dem darauffolgenden Krieg in Gaza noch möglich? 

Fahimah Ulfat: Zunächst einmal möchte ich betonen, dass ich von den Terroranschlägen der Hamas auf Israel zutiefst erschüttert bin. Mein Mitgefühl gilt allen Opfern und ihren Familien, und ich stehe fest an der Seite all jener, die für Frieden und Gerechtigkeit kämpfen. 

Der Terroranschlag der Hamas hat nicht nur in Israel und in Gaza großes menschliches Leid verursacht und beeinflusst nicht nur die Region, sondern hat auch globale Auswirkungen. Und die aktuelle Situation zeigt, dass unsere Jüdisch-Islamische Forschungsstelle mit ihrer Arbeit und ihren Zielen noch notwendiger geworden ist. 

Asher Mattern: Die Frage stellt sich jedoch, wie angesichts des Horrors der Attentate und der israelischen Angriffe auf Gaza mit tausenden Toten überhaupt noch Brücken gebaut werden können. Die Folge dieser Ereignisse ist, dass - bis auf einige Ausnahmen vor allem in akademischen Kreisen - sich sowohl Jüdinnen und Juden als auch Musliminnen und Muslime noch weiter in ihrem Leid abschotten und sich überhaupt nicht mehr vom Leid der anderen Gruppe berühren lassen. 

Hier gibt es Milieus, die sich nur noch in ihren eigenen Medien und in um sich selbst kreisenden Diskursen bewegen, die in extremen Formen sogar zu einer Entmenschlichung der anderen Gruppe führen. 

Zeichen der Solidarität nach dem versuchten Brandanschlag Mitte Oktober auf die Synagoge in der Brunnenstraße in Berlin-Mitte
"Die jüdische Welt ist allgemein stark aufgewühlt und fühlt sich tatsächlich sehr bedroht", sagt Asher Mattern von der Jüdisch-Islamischen Forschungsstelle in Tübingen. Nach dem versuchten Brandanschlag Mitte Oktober auf die Synagoge in der Brunnenstraße in Berlin-Mitte zeigen Menschen ihre Solidarität. (Foto: Sascha Meyer/dpa/picture alliance)

"Die jüdische Welt fühlt sich sehr bedroht"

Herr Mattern, wie geht es Ihnen und Ihren Freunden und Bekannten seit dem 7. Oktober? Wie ist die innerjüdische Stimmung? 

Mattern: Die jüdische Welt ist allgemein stark aufgewühlt und fühlt sich tatsächlich sehr bedroht. Zum einen hat wohl niemand eine Attacke wie die der Hamas für möglich gehalten. Die Annahme, der Staat Israel würde seine Bürger schützen können, ist im Moment sehr ins Wanken gekommen - ebenso wie das Gefühl der Sicherheit, das die Existenz eines solchen Staats allen Menschen jüdischen Glaubens vermittelt. 

Die harte militärische Reaktion erklärt sich deshalb auch nicht nur daraus, die Infrastruktur der Hamas konkret bekämpfen zu müssen, sondern auch damit, dieses Bild der Wehrhaftigkeit wiederherzustellen, mit dem der Staat Israel das "Nie wieder“ glaubhaft vertreten kann: Nie wieder werden Juden sich abschlachten lassen. 

Dieses "Nie wieder“ ist durch das Pogrom der Hamas, das ja ein wahrhaftes Abschlachten von im Schlaf oder beim Tanz überraschten Bürgern, von Säuglingen bis Greisen, war, massiv erschüttert worden. 

Aus dieser Perspektive werden von jüdischer Seite dann auch die Geschehnisse in Deutschland wahrgenommen - wie das Feiern der Morde in Neukölln oder der Brandanschlag auf meine Gemeinde KAJ in Berlin. Wir dürfen nie vergessen, dass diese Angriffe eine nachhaltig traumatisierte gesellschaftliche Gruppe treffen. Ich beobachte eine tiefe Verunsicherung mit Blick auf das, was noch kommen kann.  

Es braucht sichere Räume für eine offene Diskussion

Frau Ulfat, welche Auswirkungen haben die Geschehnisse auf die muslimische Jugend in Deutschland? Was kann aus Ihrer Sicht getan werden, damit der Konflikt nicht auch in Deutschland überhandnimmt? 

Ulfat: Meine größte Sorge ist tatsächlich die potenzielle Radikalisierung von Jugendlichen. Soziale Medien und deren Algorithmen können dazu beitragen, dass junge Menschen in ein Netz aus Verschwörungstheorien und Hetze gezogen werden, dass die Situation weiter verschärfen kann. 

Dabei ist es aus pädagogischer Perspektive wesentlich, dass die Bildungsbemühungen nicht ins Leere laufen, indem wir den Jugendlichen das Gefühl geben, sie dürften sich zur aktuellen Krise nicht äußern. Wir müssen stattdessen sichere Räume schaffen, in denen sie sich mit der Thematik auseinandersetzen können. 

Auch mit meinen Studierenden habe ich über die derzeitige Situation diskutiert. Wir sprachen offen über ihre Zerrissenheit und Verzweiflung und sie konnten durch die verschiedenen Informationen und Hintergründe ihre Sichtweisen differenzieren. Und ich erhielt das klare Feedback, wie wertvoll diese vertrauensvollen Gesprächsräume sind. 

Herr Mattern: Immer wieder werden in Deutschland pro-palästinensische Demonstrationen verboten. Ist das eine Beschränkung der Meinungsfreiheit und des Demonstrationsrechts oder in Ordnung so? 

Mattern: Auf den ersten Blick scheint die Sache einfach zu sein, da es in einem liberalen Rechtsstaat natürlich ein Recht auf freie Meinungsäußerung geben muss, und zwar auch in der Form von Demonstrationen, die für die Solidarität mit dem palästinensischen Volk stehen.  
 
Andererseits aber ist natürlich jede Form von Gewalt oder schon Aufrufe dazu verboten und müssen auch unterbunden werden. In der Praxis ist dies jedoch sehr viel komplexer, weil sich unter jede als friedlich intendierte Demonstration anders ausgerichtete Teilnehmer mischen können.  

Erlaubt: palästinensische Fahne auf einer Kundgebung in Duisburg
"Wir müssen sichere Räume schaffen, in denen sich palästinensische Jugendliche mit der Thematik auseinandersetzen können", sagt Fahimah Ulfat von der Jüdisch-Islamischen Forschungsstelle in Tübingen. Das Bild zeigt eine palästinensische Fahne auf einer Kundgebung in Duisburg. (Foto: Christoph Reichwein/dpa/picture alliance)

Wut und Angst brauchen ein Ventil

Hier muss über die konkrete Gefährdung hinaus auch den durch den geschichtlichen Kontext verstärkten Unsicherheitsgefühlen der jüdischen Bürger Rechnung getragen werden. 

Dennoch sehe ich im Moment, dass die vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte notwendige Solidarität mit dem jüdischen Volk dazu führen kann, pro-palästinensische Äußerungen unter einen Generalverdacht zu stellen.  

Die aktuellen Verbote werden aus muslimischer Sicht natürlicherweise im Kontext des allgemein starken islam- und migrationsfeindlichen Diskurses in Deutschland wahrgenommen. Wie sollen denn Bürger palästinensischer Herkunft ihre Angst um Freunde und Familie, die zurzeit in Gaza bombardiert werden, zum Ausdruck bringen? Demonstrationen können - solange sie gewaltfrei bleiben - hier auch ein wichtiges Ventil sein, Wut über die Besatzung und die aktuellen Tausenden Toten in einer kanalisierten Form zu äußern und so "Dampf abzulassen".  
 
Denn langfristig wäre es fatal, wenn der muslimische Teil unserer multikulturellen Gesellschaft den Eindruck gewinnt, dass ihr Leid weniger relevant ist als das jüdische und dass Äußerungen für die Befreiung des palästinensischen Volkes und ein Ende der Besatzung unter einem Generalverdacht stehen.  
 
Dies könnte tatsächlich zu einer Radikalisierung führen, infolge der sich statt legaler Demonstrationen Übergriffe auf jüdische Mitmenschen verstärken. 

Historische Fakten spielen kaum eine Rolle

Seit dem 7. Oktober ist nichts mehr, wie es war: Wo sehen Sie als Forschungsstelle nun ihre dringlichste Aufgabe? 

Mattern: Die dringendste Herausforderung besteht darin, die Frontenbildung zwischen beiden Gruppen aufzulösen: Beide Seiten des Territorialkonflikts im Nahen Osten bedienen sich religiöser Ressourcen und ideologischer Narrative, durch die sie ihre Perspektiven legitimieren. Diese bestimmen fast immer auch die muslimischen und jüdischen Diskurse in Deutschland. Historische Fakten spielen auf beiden Seiten kaum eine Rolle bei der Meinungsbildung. Als Forschungsstelle ist es unsere erste Aufgabe, dies zu durchbrechen. 

Immer wieder besuche ich für das Projekt "meet2respect“ mit einem Imam zusammen Schulklassen in Berlin, deren muslimische Schüler oft durch antisemitische Äußerungen aufgefallen sind. Dort stelle ich immer wieder fest, dass die Ablehnung mir gegenüber sofort aufbricht, wenn sie mich als individuellen Menschen erleben.  
 
Wenn sie dann von mir erfahren, welches Leid wir Juden in der Geschichte, aber auch zum Beispiel im Kontext von Attentaten durch Muslime erfahren haben, und sie aber auch erleben, dass ich das von ihnen erfahrene Leid sehe und die israelische Politik kritisch reflektieren kann, dann bin ich plötzlich nicht mehr der jüdische Feind, sondern der Mensch Asher Mattern.  

Bei Erwachsenen sind diese schematischen Sichtweisen aber viel stärker verfestigt und es verlangt nach einer weitaus intensiveren Arbeit, die Einseitigkeit der Perspektiven zu verändern. Aus der akademischen Arbeit heraus in diesem Sinne in die Gesellschaft zu wirken, darin besteht unsere eigentliche langfristige Herausforderung.  

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"Eine vollkommen gute Seite gibt es nicht"

Ulfat: In einer Welt, die durch diesen Konflikt stark polarisiert und gespalten wird, wollen wir pädagogisch verantwortungsvoll handeln. Meine pädagogische Botschaft fokussiert sich darauf, wie man mit Situationen umgeht, wo es keine vollkommen "gute" Seite gibt und in denen moralische Dilemmata ein abschließendes Urteil oft unmöglich machen.  
 
Die Vorstellung vieler religiöser Menschen, dass sie durch die "richtige" Anwendung der Gebote ihrer Religion immer moralisch "rein" bleiben können, ist eine naive Haltung. Der Blick auf die unaufhebbare "Unsauberkeit" der Welt gehört zu einer reifen religiösen Haltung dazu. 

Initiativen wie "meet2respect“, sind entscheidende Schritte in die richtige Richtung. Doch es ist klar, dass wir noch mehr Ressourcen brauchen, um solche Bildungs- und Begegnungsoffensiven weiter auszubauen und nachhaltig zu etablieren.  

Judith Kubitscheck 

© epd 2023  

Fahima Ulfat, Professorin für Islamische Religionspädagogik, und Asher Mattern, Dozent für Jüdische Theologie, Rechtslehre und Hermeneutik, haben gemeinsam die Jüdisch-Islamische Forschungsstelle in Tübingen Anfang Juni gegründet.   

 

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