Zeitenwende in der Türkei?

In Erdoğans Türkei gilt Can Dündar als Staatsfeind Nummer Eins, nachdem er im Jahr 2015 illegale Waffenlieferungen der türkischen Regierung nach Syrien aufdeckte.
In Erdoğans Türkei gilt Can Dündar als Staatsfeind Nummer Eins, nachdem er im Jahr 2015 illegale Waffenlieferungen der türkischen Regierung nach Syrien aufdeckte.

Der im Berliner Exil lebende türkische Journalist und Oppositionelle Can Dündar sieht den Ausgang der Präsidentschafts- und Parlamentswahl in der Türkei als offen an. Sicher ist seiner Ansicht nach nur: Einfach wird es nicht, selbst bei einem Regierungswechsel stehen schwierige Zeiten bevor.

"Die Türkei muss dann nach zwei Jahrzehnten Ein-Mann-Herrschaft die Demokratie neu lernen", sagte Dündar der Nachrichtenagentur AFP. Bei einer Niederlage von Staatschef Recep Tayyip Erdogan befürchtet er zudem eine Reaktion ähnlich dem Sturm auf das US-Kapitol im Februar 2021.

Viele Türken sehen der Wahl am 14. Mai mit Hoffen oder Bangen entgegen. Wird Erdogan seine Macht zementieren und die Alleinherrschaft weiter ausbauen können? Oder kommt bei einem Sieg des Sozialdemokraten Kemal Kilicdaroglu die - von vielen sehnlichst erhoffte - Zeitenwende?

Die Wahlumfragen machen Erdogan-Gegnern Mut: Kilicdaroglu liegt zwei bis zehn Prozentpunkte vorn. Möglicherweise ist der Vorsprung tatsächlich sogar größer: "Viele trauen sich in den Umfragen nicht, ehrlich zu sein", sagt Dündar und verweist auf Schätzungen, wonach bis zu 60 Prozent der Wähler dieses Mal nicht mehr für Erdogan stimmen wollen.

"Es könnte bei der Auszählung also eine Überraschung geben." Allerdings seien die Wahlen "fest in Regierungshand" und Kritiker warnen vor Betrug. "Es gibt viele Unsicherheiten bei dieser Wahl. Über den Ausgang können wir nur spekulieren", sagt der 61-Jährige.

"Im schlimmsten Fall gewinnt Erdogan die Präsidentschaftswahl und seine Partei AKP bleibt im Parlament stärkste Macht", führt der in der Türkei unter anderem wegen angeblicher Spionage zu mehr als 27 Jahren Haft verurteilte ehemalige Chefredakteur der regierungskritischen türkischen Zeitung "Cumhuriyet" aus. Das würde längerfristig eine vollständig autoritäre Herrschaft ohne Opposition bedeuten. "Die Enttäuschung wäre so groß, dass Hunderttausende aus der Türkei fliehen würden. Ich kenne viele, die schon ihre Koffer gepackt haben."

 

 

Eine weitere Möglichkeit: Erdogan gewinnt, seine Partei verliert jedoch die Mehrheit im Parlament. "Dann gibt es Chaos", warnt Dündar. "Erdogan hat dann zwar die Macht, die ihm das Präsidialsystem gibt. Aber ohne Zustimmung des Parlaments kann er kaum handeln. Er würde vermutlich das Chaos vorschieben, um Neuwahlen durchzusetzen."

Erdogan-Gegner hoffen, dass Kilicdaroglu siegt und sein Oppositionsbündnis die Mehrheit im Parlament gewinnt. "Das wäre das wünschenswerte Szenario", sagt Dündar. Allerdings bestünde dann das Problem eines riesigen Bündnisses: "In der Türkei hat es seit Jahrzehnten keine Koalition mehr gegeben, das Land ist Alleinherrschaft gewohnt. Wir hätten also etwas komplett Neues." Es komme dann darauf an, ob der 74-jährige Kilicdaroglu das heterogene Bündnis aus Sozialdemokraten, Nationalisten und gemäßigten Islamisten zusammenhalten könne, sagt Dündar.

Gewinnt Kilicdaroglu und verfehlt sein Bündnis die Mehrheit im Parlament, "hätten wir ebenfalls Chaos", prognostiziert der Exil-Journalist. Dann würde das Parlament Kilicdaroglus Vorschläge blockieren. Auch die Rückkehr zum parlamentarischen System wäre dann schwierig. Es käme vermutlich zu einem "mühsamen zwei- bis dreijährigen Rehabilitierungsprozess".

Erhalten weder Erdogan noch Kilicdaroglu die erforderlichen 50 Prozent im ersten Durchgang, käme es zwei Wochen später zu einer Stichwahl. Das würde es für die Opposition "gefährlicher und schwieriger machen", sagt Dündar. Erdogan würde sich "in die Ecke gedrängt fühlen" und die zwei Wochen könnten eine "sehr gefährliche Zeit" werden.

Viele befürchten, dass Erdogan bei einer Niederlage am Wahlabend - wie der abgewählte US-Präsident Donald Trump - seine Anhänger zu Protesten aufrufen könnte. "Vor allem, wenn er nur knapp verliert, beispielsweise mit 49 zu 51 Prozent der Stimmen, besteht eine solche Gefahr", glaubt Dündar. "Und dann wäre unsicher, auf welcher Seite Polizei und Militär stehen."

Es ist bereits die zweite Präsidentschaftswahl in der Türkei, die der Journalist aus dem Exil verfolgt. Auch er sitzt auf gepackten Koffern. Dündar hofft, nach der Wahl in seine Heimat zurückkehren zu können. (AFP)

 

 

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