Präsidentschaftswahlen und politischer Protest in Algerien
Ein Land am historischen Scheideweg

Algerien befindet sich in einer Sackgasse auf unbestimmte Zeit. Dies gilt unabhängig von der Durchführung der Wahlen, an die ohnehin niemand in Algerien große Erwartungen hat, schreibt der renommierte Analyst Ali Anouzla.

Algerien befindet sich am Scheideweg. Angesichts der verfahrenen Krisensituation lässt sich nicht absehen, welche Konsequenzen die momentane Zersplitterung des Landes mit sich bringen wird.

Auf der einen Seite besteht die gegenwärtige algerische Staatsführung darauf, Präsidentschaftswahlen in einer derart angespannten Stimmung abzuhalten, wie sie das Land seit der Unabhängigkeit zu Beginn der 1960er Jahre nicht mehr gesehen hat. Auf der anderen Seite kommt es seit etwa zehn Monaten wöchentlich zu Massendemonstrationen, die sich explizit gegen die Durchführung der Wahlen und die Staatsführung richten.

Inmitten dieser Ereignisse finden im Land Gerichtsprozesse von historischer Dimension gegen bedeutende Vertreter der Staatsführung statt, darunter zwei ehemalige Premierminister, einige weitere Minister sowie prominente Persönlichkeiten aus der Wirtschaft.

Die schwerwiegenden Anklagepunkte gegen sie lauten unter anderem Korruption, Verschwendung öffentlicher Gelder und Machtmissbrauch. Unterdessen sitzen einflussreiche Repräsentanten der Macht, die bis vor kurzem noch das Land mitanführten, bereits im Gefängnis, darunter der Bruder des unter massivem Druck zurückgetretenen algerischen Präsidenten Abdelaziz Bouteflika und zwei hochrangige Geheimdienst- und Militäroffiziere, die zu seiner Amtszeit im Dienst waren. Sie wurden wegen Missbrauchs von militärischer Autorität und Verschwörung gegen die Staatsgewalt verurteilt.

Breite Ablehnung des politischen Establishments

Infolge all dessen sind Algeriens Straßen heute Schauplatz breiter politischer Proteste geworden – ein Szenario, wie es noch vor wenigen Monaten unvorstellbar war. Diese Proteste sind Ausdruck einer breiten Ablehnung des politischen Establishments und einem damit verbundenen fundamentalen Misstrauen, welches sich sogar auf die derzeit laufenden Gerichtsverfahren gegen Repräsentanten ebenjener Staatsführung erstreckt, deren Sturz die Massen auf den Straßen fordern.

Der Protestbewegung gegenüber steht die Staatsführung, oder vielmehr das, was nach der monatelangen Protestwelle von dem System Bouteflika noch übrig ist. Die aktuelle Staatsführung hält am alten System fest, auch wenn sie seine wichtigsten Repräsentanten mit Blick auf die jüngsten Umbrüche opfern musste.

Die Situation in Algerien ist beinahe surreal. Im Verlauf der letzten Wochen ist das Land in eine beispiellose Sackgasse geraten. Das Manöver der Staatsführung, den Volkszorn mit der Entmachtung zentraler Repräsentanten des politischen Establishments zu mindern, hat diesen lediglich weiter befeuert in seinem Willen, sich auch noch der letzten Überreste des alten Systems samt seiner Wurzeln zu entledigen.

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