Ein Schlag gegen die Unabhängigkeit der Justiz

Das Gesetz zur Neuregulierung von Anwaltskammern werde pluralistischer und demokratischer sein, behauptet die Regierung. Anwälte sehen darin jedoch den Versuch der Regierung, die Unabhängigkeit des Justizsystems zu untergraben und die Kammern politisch zu spalten. Von Ayşe Karabat

Von Ayşe Karabat

„Gerechtigkeit ist das Fundament des Staates“, so steht es an den Wänden türkischer Gerichte. Dies allerdings bezweifeln Anwälte und Menschenrechtsaktivisten in der Türkei, wo das ohnehin schon brüchige Justizsystem des Landes jetzt einen weiteren Schlag erhielt.

Am 11. Juli verabschiedete das Parlament mit den Stimmen der regierenden AKP und ihrem Verbündeten, der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), ein umstrittenes Gesetz, das elementare Änderungen in der Arbeitsweise von Anwaltskammern nach sich ziehen wird. Das Gesetz sieht vor, dass sich Anwaltskammern aufteilen und neue Kammern gegründet werden dürfen. Experten befürchten, dies könne im ganzen Land zu einer Flut von neuen Anwaltskammern führen, in denen sich Rechtsanwälte entsprechend ihrer politischen Überzeugungen zusammenschließen.

An den Beratungen über den Gesetzentwurf im türkischen Parlament waren Vertreter der Anwaltskammern nicht beteiligt, obwohl die Auswirkungen der Gesetzesnovelle für sie elementar sind.

Rechtsanwälte und Anwaltskammern lehnten die Gesetzesvorlage mit großer Mehrheit ab. Zudem marschierten Vorsitzende und Mitglieder von Anwaltskammern Ende Juni nach Ankara, wo sie allerdings von der Polizei abgefangen wurden. Später hielten sie in öffentlichen Parks eine nächtliche „Justizwache“. Ihre Aktionen blieben aber bisher erfolglos.

Die Republikanische Volkspartei (CHP) als größte Oppositionspartei hat mittlerweile das Verfassungsgericht angerufen. Die Anwaltskammern haben derweil ihren entschiedenen Widerstand gegen das Gesetz bekräftigt.

Anwälte und Bürger protestieren gegen die Pläne der Regierung zur Neuregulierung der Anwaltskammern, Istanbul, Juni 2020; Foto: DW/S. Ocak
Ende Juni haben Anwälte aus der ganzen Türkei gemeinsam mit Bürgern in Istanbul gegen die Pläne der Regierung protestiert, die Arbeitsweise der Anwaltskammern neu zu regeln. Beobachter glauben, dass die Reform dazu führen könnte, dass zahlreiche neue Kammern im ganzen Land entstehen, in denen sich Anwälte entsprechend ihrer politischen Haltung organisieren. Das könnte die Neutralität der Justiz weiter untergraben.

Teile und herrsche

Bisher war jeder Anwalt in der Türkei verpflichtet, der Anwaltskammer der Stadt beizutreten, in der er zugelassen ist. Jede Provinz unterhält eine Anwaltskammer, sofern es dort mindestens 30 zugelassene Anwälte gibt. Die Türkei mit ihren 81 Provinzen verfügt über 80 Anwaltskammern. Zwei kleine, entlegene Provinzen teilen sich eine gemeinsame Kammer.

Das neue Gesetz sieht vor, dass in Städten mit mehr als 5000 Anwälten eine beliebige Gruppe aus mindestens 2000 Anwälten ihre eine eigene Kammer gründen darf. Die Neuregelung wird vor allem die größten Städte betreffen: so beispielsweise Istanbul mit mehr als 47.000 Anwälten oder Ankara mit 17.500 und İzmir mit fast 10.000 Anwälten, während die Anwaltskammer von Antalya im Süden des Landes weniger als 5000 Mitglieder zählt. Insgesamt befinden sich mehr als die Hälfte aller zugelassenen Rechtsanwälte in den drei großen Städten Istanbul, Izmir und Ankara. Sie sind gleichzeitig die Brennpunkte juristischer Auseinandersetzungen.

Rechtsanwälte, Menschenrechtsaktivisten und politische Beobachter befürchten, dass die Gründung mehrerer Anwaltskammern in einer Stadt zur politischen Lagerbildung unter den Rechtsanwälten führen wird. Eine derartige Spaltung in politische Lager unter den Anwälten scheint angesichts der Polarisierung des politischen Klimas in der Türkei kaum vermeidbar. Richter und Staatsanwälte werden zudem wissen, welcher Kammer ein Anwalt angehört, denn der Name der Anwaltskammer wird in der Korrespondenz mit dem Gericht stets aufgeführt. Nach Ansicht von Anwälten wird dies die Unabhängigkeit und Überparteilichkeit des Justizsystems gefährden.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan (links) and Ali Erbaş, Leiter der Diyanet; Foto: picture-alliance/AA/E. Top
Der türkische Präsident Erdogan (links) and Ali Erbaş, Leiter der Religionsbehörde Diyanet: Ayşe Karabat schreibt, Präsident Erdogan habe das Gesetz zur Neuregelung der Anwaltskammern nach einer Auseinandersetzung um eine Äußerung von Diyanet-Leiter Erbaş gefordert. Homosexualität sei „Ursache von Krankheiten“ und „verderbe ganze Generationen“, hatte Erbaş behauptet. Damit habe er Hass verbreitet, klagte die Anwaltskammer Ankaras. Daraufhin schaltete sich Erdogan ein und beschuldigte die Anwaltskammer, sie beleidige den Islam.

Internationale Bedenken

Auch internationale Beobachter zeigen sich besorgt. In einem Facebook-Post erklärte die Menschenrechtskommissarin des Europarats, Dunja Mijatović, das Gesetz könne nicht isoliert von der Krise des türkischen Rechtsstaates betrachtet werden, die ihr jüngster Bericht über die Türkei dokumentiere. Sie äußerte die Befürchtung, die Gesetzesänderung werde „den Grundsatz der Neutralität des Justizsystems weiter beschädigen“.

Eine ähnliche Auffassung vertritt Róisín Pillay, Leiterin des Bereichs Europa und Zentralasien bei der Nichtregierungsorganisaton Advocates for Justice and Human Rights. Sie unterstreicht, dass dieser Gesetzentwurf „das Misstrauen in das türkische Justizsystem als nicht neutral weiter vertiefen wird, da es die Anwaltschaft entlang politischer Überzeugungen spaltet“.

Offenbar hatten auch Funktionäre von AKP und MHP während der Vorbereitung des Gesetzentwurfs Bedenken, Anwälten zu erlauben, sich je nach ihrer politischen Haltung in jeweils eigenen Anwaltskammern zu organisieren. Allerdings wurden diese Bedenken von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan entschieden zurückgewiesen.

Der regierungsfreundliche Kolumnist Abdulkadir Selvi zitierte Erdoğan kürzlich in der Tageszeitung Hurriyet wie folgt: „Lasst die Gründung mehrerer Anwaltskammern zu, damit jede ihr wahres Gesicht zeigt. Dann wird deutlich, dass es eine Anwaltskammer der PKK (der verbotenen Kurdenpartei) gibt, die nur so aussieht wie eine CHP-Anwaltskammer. Lasst stattdessen eine PKK-Anwaltskammer so aussehen, wie sie wirklich ist.“

Mehr Demokratie?

Die Regierung behauptet, das neue Gesetz solle die Anwaltskammern demokratischer und pluralistischer machen. Es werde den kleineren Kammern aus den Provinzen ein stärkeres Gewicht in der nationalen Vereinigung der Rechtsanwaltskammern der Türkei verleihen. Diese zentrale Dachorganisation lenkt und verteilt erhebliche finanzielle Mittel für Prozesskostenhilfe an die Anwaltskammern in den einzelnen Provinzen.

Vor der Novelle entsandte jede Anwaltskammer zwei Delegierte in die Vereinigung der Rechtsanwaltskammern. Wenn mehr als hundert Rechtsanwälte in einer Kammer vereint sind, wurde bislang pro 300 Anwälte ein weiterer Delegierter gewählt.

Justizpalast, Ankara; Foto: DW/U. Danisman
Vor dem Justizpalast in Ankara: Kritiker wie Dunja Mijatović, Menschenrechtsbeauftragte des Europarats, befürchten, die Reform der Anwaltskammern könnte die bereits bestehende Krise des türkischen Rechtsstaates verschärfen. Das neue Gesetz werde „den Grundsatz der Neutralität des Justizsystems weiter beschädigen“, sagte sie.

Nach der Novelle können alle Anwaltskammern, auch die neu gegründeten, vier Delegierte entsenden sowie bei mehr als 5.000 Mitgliedern einen weiteren Delegierten. Infolgedessen werden kleine Anwaltskammern deutlich mehr Einfluss auf den Dachverband ausüben können als bisher.

Folglich wird nach der Neuregelung eine Anwaltskammer in einer Provinz mit weniger als 100 Anwälten mit vier Delegierten beim nationalen Dachverband der Anwaltskammern vertreten sein, während Istanbul mit insgesamt 47.000 Anwälten von nur noch 12 Anwälten vertreten sein wird statt wie bisher von 153.

In ähnlicher Weise werden auch die Anwälte in Ankara und İzmir, die bislang standhaft etwa für die Rechte marginalisierter Gruppen eingetreten sind, an Macht verlieren.

Das neue Gesetz wurde in dem Moment angestrengt, als die Anwaltskammer von Ankara Ali Erbaş, den Leiter der türkischen Religionsbehörde Diyanet wegen homophober Äußerungen kritisierte. Erbaş hatte behauptet, Homosexualität sei „Ursache von Krankheiten“ und „verderbe ganze Generationen“. Die Ankaraner Anwaltskammer warf Erbaş daraufhin vor, Hass zu schüren. Staatspräsident Erdoğan beschuldigte seinerseits die Anwaltskammer, den Islam zu beleidigen und forderte daraufhin das Gesetz zur Neuregelung der Anwaltskammern.

„Dies ist ganz offensichtlich ein weiterer Versuch der Regierung, Strukturen, die sie nicht kontrolliert, zu spalten und zu schwächen. Mit anderen Institutionen ist die AKP-Regierung bereits ähnlich verfahren“, so Ruşen Çakır, Chefredakteur der unabhängigen Nachrichten-Website Medyascope.

Dieses verbale Scharmützel steht stellvertretend für die vielen Auseinandersetzungen zwischen den beiden politischen Lagern in der Türkei. Klar ist, dass mit dem neuen Gesetz die Stellung der Rechtsanwälte geschwächt wurde.

Jetzt blicken alle auf das Verfassungsgericht. Doch bis dies eine Entscheidung fällt, können bereits neue Anwaltskammern gegründet werden. Entsprechende Vorbereitungen laufen bereits. Die politische Spaltung der Anwaltschaft wird das höchste Gericht ohnehin nicht rückgängig machen können.

 Ayse Karabat

© Qantara.de 2020

Aus dem Englischen von Peter Lammers