Türkische Anwälte wollen nicht zum Präsidenten

Viele Anwälte in der Türkei wollen eine Einladung des Obersten Gerichts aus Protest gegen die Lage im Land ablehnen. Sie wollen den Empfang boykottieren, weil er im Präsidialpalast stattfindet.

Anfang September eröffnet der Oberste Gerichtshof der Türkei traditionell das neue Gerichtsjahr mit einer Zeremonie. Die Nachrichtenplattform T24 berichtete aber, dass mittlerweile 41 der 79 Kammern die Veranstaltung im Präsidialpalast in Ankara am 2. September boykottieren werden. Zuvor war noch die Rede von 16 Ablehnungen. Die Anwälte kritisieren die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz.

"In der Rede, die Sie halten werden, werden Sie wahrscheinlich über Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz sprechen", heißt es in einem Brief der Anwaltskammer Izmir an die Gerichtsleitung. "Obwohl Sie wissen, dass Tausende Menschen, die für Rechte kämpfen, im Gefängnis sitzen, werden Sie über persönliche Freiheit und Sicherheit, Meinungsfreiheit, das Recht auf faire Prozesse und Pressefreiheit sprechen." Die 41 Anwaltskammern vertreten einen Großteil der registrierten Anwälte. Am Boykott beteiligen sich unter anderem die Kammern der Großstädte Ankara, Antalya, Istanbul und Izmir.

Die Anwälte kritisieren, dass eine Trennung der Gewalten in der Türkei nicht mehr vorhanden sei. "In den vergangenen Jahren wurde die Unabhängigkeit der Justiz sehr stark untergraben", sagte der Vorsitzende der Istanbuler Anwaltskammer, Mehmet Durakoglu. "Unter diesen Bedingungen erwarten wir, dass die Veranstaltung an einem Ort stattfindet, der nicht politisch ist, sondern die Gewaltenteilung repräsentiert." Ein Vorschlag der Anwaltskammern ist die Verlegung in das Gebäude des Verfassungsgerichts.

Das Gericht reagierte Medienberichten zufolge empört auf den Boykott: Der Vorwurf, dass der Oberste Gerichtshof unter politischem Einfluss stehe, sowie "eine Reihe anderer Bezichtigungen" seien "ungerecht und maßlos" und mit Bedauern aufgenommen worden, hieß es. Präsident Recep Tayyip Erdogan reagierte nicht offiziell auf die Vorwürfe der Anwaltskammern. Er hatte die Eröffnung des Gerichtsjahres im Herbst 2016 erstmals in den Präsidialpalast geholt und damals erklärt, das Gebäude stehe nicht für die Regierung, sondern sei "der Ort des Volkes". Die Veranstaltung dort würde die Unabhängigkeit der Justiz sogar stärken.

Seit dem Putschversuch von 2016 wurden mehr als 140.000 Staatsbedienstete entlassen und offiziellen Angaben zufolge mehr als 500.000 Menschen kurz- oder längerfristig festgenommen, darunter auch viele Anwälte und Richter. Allein im Justizapparat seien mehr als 4000 Menschen ihres Amtes enthoben worden, hatte Präsident Erdogan im Frühjahr gesagt. Noch immer gibt es wöchentliche Razzien gegen mutmaßliche Anhänger des islamischen Predigers Fethullah Gülen, den Erdogan für den Umsturzversuch verantwortlich macht. Gülen bestreitet das.

Die Europäische Union (EU) hatte zuletzt die Entwicklungen in der Türkei kritisiert. Es gebe "schwerwiegende Rückschritte" in den Bereichen der "Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte sowie durch die Schwächung von wirksamen Kontrollen und Gegengewichten im politischen System". Die EU verhandelt seit 2005 mit der Türkei über einen Beitritt. Wegen der Massenverhaftungen von Regierungskritikern nach dem gescheiterten Militärputsch von 2016 beschlossen die EU-Staaten noch im selben Jahr, die Beitrittsgespräche nicht mehr auszuweiten. (dpa/AFP)