
Israelisch-palästinensischer Konflikt"Es ist eine moralische Pflicht zu differenzieren"
Der jüngste Gewaltausbruch in Israel und Palästina wurde in den sozialen Medien von den bekannten Reflexen begleitet. Als israelischer Reiseleiter, der hauptsächlich mit Touristen aus Europa zu tun hat, stehe ich international in regem Kontakt, wenn auch derzeit wegen der Pandemie hauptsächlich digital. Ein Großteil der Reaktionen auf den Konflikt zeigt mehr als je zuvor, wie wenig viele Menschen tatsächlich über die neuere Geschichte der betroffenen Region wissen.
Derzeit liegen die Nerven blank, und die skandalöse Politik sowohl Israels als auch der Hamas erregt mehr Aufmerksamkeit als alles, was momentan in Europa zu anderen Themen gesagt oder gedacht wird. Trotzdem möchte ich mich zu Wort melden, denn in der aktuellen Situation könnten die Menschen bereit sein, sich ernsthaft mit dem Thema Israel und Palästina auseinanderzusetzen.
Auffällig ist eine besorgniserregende Korrelation zwischen der Verwendung bestimmter Phrasen und einem sehr oberflächlichen Verständnis des Konflikts. Ich denke dabei auch an einen Artikel, an einen offenen Brief von Intellektuellen und an eine Stellungnahme, die von einigen meiner deutschen Facebook-Kontakte geteilt wurde. Allen gemeinsam war ein exzessiver Gebrauch des Begriffs "kolonial“, um den Hintergrund des Konflikts zu beschreiben. Diese drei Beispiele sind symptomatisch für eine Grundhaltung gegenüber Israel, die in einflussreichen Aktivisten- und Intellektuellenkreisen zunehmend selbstverständlich wird.
Besonnener Umgang mit dem Etikett "kolonial“
Ein Vokabular, das früher fast ausschließlich auf akademische Debatten begrenzt war, wird zum festen Bestandteil im Mainstream-Diskurs über Israel und Palästina. Immer mehr Menschen stellen sich im Rahmen eines globalen antikolonialen Kampfes hinter die Palästinenser. Dieser Kampf zielt darauf ab, Marginalisierte und Progressive hinter der Idee zu versammeln, Israel sei der Inbegriff aller historischen Übel, die infolge europäischer Hegemonialansprüche verursacht wurden – eine ebenso gefährliche wie absolut ahistorische Vorstellung.

Dabei lehne ich eine differenzierte Verwendung dieser Begriffe keineswegs ab. Viele frühe Zionisten aus Europa waren durchaus Kinder ihrer Zeit und der damaligen Verhältnisse. Sie betrachteten Palästina durchaus als Gegenstand einer gewissen "Zivilisierungsmission“. Der "koloniale“ Deutungsrahmen kann insofern verschiedene Aspekte der jüdischen Besiedlung, der historischen Dynamik zwischen Juden und Arabern in Palästina und evtl. auch einige, wenn auch nicht alle Ursachen des Rassismus in Israel erklären.
Dieser "koloniale“ Deutungsrahmen kann uns viel über die israelische Politik in den besetzten Gebieten seit 1967 lehren. Doch es gibt unzählige Ebenen im Kontext dieser Geschichte, die aus dem Blick geraten, wenn mit dem Begriff "kolonial“ grob hantiert wird. Anders gesagt: Wenn man das Wort "kolonial“ als Synonym für Israel schlechthin verwendet, dann verhindert das ein tieferes Verständnis der Lage.