"Gandhi war nicht nur ein spiritueller Führer"

„Indien hat Gandhi zum Vater der Nation erklärt, aber seine Vision für das Land wurde nicht wirklich umgesetzt“, sagt die Geschichtsprofessorin Gita Dharampal im Interview.

Vor 75 Jahren erlangte Indien die Unabhängigkeit. Bedeutsam für diesen Weg war der Bürgerrechtler, Asket und Pazifist "Mahatma" Gandhi (1869-1948). Auch heute arbeiten gesellschaftliche Initiativen nach seinem Vorbild, etwa die Gandhi Research Foundation in Jalgaon. Gita Dharampal (69) ist dort als ehrenamtliche Forschungsleiterin tätig. Die emeritierte Geschichtsprofessorin der Universität Heidelberg spricht im KNA-Interview über die Bedeutung von Religion auf dem Subkontinent, die Rolle Gandhis und über das Bild Indiens in Deutschland.

Frau Dharampal, Indien ist seit 75 Jahren keine britische Kolonie mehr. Welche Rolle spielte der Hinduismus bei der Bildung einer unabhängigen Nation?

Dharampal: Die lang ersehnte Unabhängigkeit war von einer gewaltsamen Teilung des indischen Subkontinents überschattet. Diese Teilung hat dazu geführt, dass es im Westen und im Osten zur Bildung von Pakistan kam, wo ein großer Teil der Bevölkerung muslimisch war. Pakistan hat sich von Anfang an als islamischer Staat definiert. Obwohl Indien 1947 eine hinduistische Bevölkerungsmehrheit von fast 85 Prozent hatte, bezeichnete sich der neue Staat nicht als hinduistisch, sondern als säkulare Republik. Das bedeutete in der Praxis nicht unbedingt eine Trennung von Staat und Religion nach westlichem Verständnis, sondern dass man den gleichen Respekt vor allen Religionen zeigt. Die Gründungsväter vertraten ein pluralistisch-religiöses Ethos.

Einer dieser Gründungsväter war Mahatma Gandhi, der im Januar 1948 wenige Monate nach der Unabhängigkeit von einem Attentäter erschossen wurde.

Dharampal: Gandhi vertrat die Devise, dass Indien ein Vielvölker- und ein multireligiöser Staat ist. Dank dieser Vielfalt stelle Indien eine Kulturnation dar. Nach der Bildung einer politischen Nation sollte diese Vielfalt beibehalten werden.

Welche Folgen hatte die Teilung des Subkontinents?

Dharampal: Sie hat zu einer dauerhaften Feindseligkeit zwischen Indien und Pakistan geführt, was zu einer Schwächung beider Länder beigetragen hat. Ohne die Teilung hätte der Subkontinent von 1947 an eine ganz andere Geschichte gehabt.

Sie sagten eben, Indien habe sich nicht als Hindu-Nation begriffen. Die heutige Regierung befördert allerdings den Hindu-Nationalismus.

Dharampal: Ja, die jetzige Staatspolitik neigt in diese Richtung. Aber es gibt viele Gegenstimmen, dass Indien als pluralistisch-religiöses Staatsgebilde beibehalten werden muss. Indien ist immer sehr vielfältig gewesen. Hier haben alle Weltreligionen eine Heimat gefunden. Übrigens definiert sich der Hinduismus nicht wie die monotheistischen Religionen durch "ein" Heiliges Buch oder "eine" religiöse Figur. Es gibt vielfältige Glaubensrichtungen und Gruppierungen innerhalb des Hinduismus. Sein Credo ist, dass die verschiedenen Religionen unterschiedliche Wege zum selben Ziel aufzeigen.

Welche Rolle spielt es, dass mit Gandhi ausgerechnet eine spirituelle Führungsfigur für den Weg in die Unabhängigkeit mit entscheidend war?

Dharampal: Gandhi legte viel Wert auf das Spirituelle, aber er war nicht nur ein spiritueller Führer. Er sah sich als Sprachrohr des Volkes. Er hat sich auch wie ein einfacher Bauer gekleidet und so gelebt. Er war überzeugt, dass die Kultur Indiens etwas Wertvolles ist. Zugleich hat er die Mängel gesehen, etwa den Konflikt zwischen Hindus und Muslimen, die Praxis der Unberührbarkeit sowie die Unterdrückung von Frauen. Gandhi sah darin negative Entwicklungen, die entfernt werden mussten. Die Frauenemanzipation zum Beispiel wurde unter Gandhi sehr dynamisch. Die Eingliederung von sogenannten Unberührbaren in die Gesellschaft schritt voran. In Bezug auf die Eindämmung des hindu-muslimischen Konflikts war er jedoch nicht so erfolgreich.

Was sagte Gandhi zu diesem Konflikt?

Dharampal: Er sagte, Hindus und Muslime seien wie Brüder. Sie streiten miteinander, aber sie gehören derselben Familie an. Er setzte sich nicht nur für eine Reform des Hinduismus, sondern auch des Islam ein, weil er meinte, der Islam sei eine Religion des Friedens. Auch wenn Gandhi von vielen Muslimen respektiert wurde, fanden einige Orthodoxe, er solle sich nicht so sehr einmischen. Und radikale Hindus fanden, dass er Indien schwächen würde, weil er mit den Muslimen und gegenüber Pakistan zu nachlässig sei, etwa was die Verteilung der Staatskasse zwischen Indien und Pakistan anging. Gandhi wurde am Ende von einem Hindu-Nationalisten ermordet.

Welche Rolle spielt Gandhi heute für die indische Demokratie?

Dharampal: Er ist überall präsent. Es gibt Standbilder, Gedenktage, und sein Konterfei ist auf den Geldscheinen. Indien hat Gandhi zum Vater der Nation erklärt, aber seine Vision für das Land wurde nicht wirklich umgesetzt. Es gibt jedoch viele lokale und regionale Initiativen, die versuchen, im Sinne Gandhis tätig zu sein. Ich selbst arbeite heute ehrenamtlich für solch eine Initiative, der Gandhi Research Foundation im ländlichen Maharashtra.

Was meinen Sie damit, seine Visionen wurden nicht umgesetzt?

Dharampal: Gandhi wollte, dass nach der Unabhängigkeit die ländlichen Gebiete aufgebaut werden. Die Dörfer sollten in der Lage sein, sich selbst zu versorgen. Stattdessen wurden große Industrien errichtet. Gandhi hat außerdem viel Wert auf Grundschulbildung gelegt. Auch da ist am Anfang nicht viel passiert. Die Politik hat lieber Eliteschulen errichtet - auch mit finanzieller Hilfe aus Deutschland. Laut Gandhi sollten Schülerinnen und Schüler vor allem auf dem Land auch in handwerklichen und landwirtschaftlichen Fähigkeiten geschult werden. Mangelnde Bildung und unzulängliche wirtschaftliche Förderung führten dazu, dass viele Bauer in die Stadt auswanderten und dort in riesigen Slums lebten. Die ländliche Wanderbewegung verursacht gewaltige Probleme.

Sie waren 16 Jahre lang Geschichtsprofessorin am Südasieninstitut der Universität Heidelberg. Welches Bild haben die Menschen in Deutschland von Indien?

Dharampal: Viele Menschen in Deutschland interessieren sich für Indien als eine alte Zivilisation. Junge Leute praktizieren Yoga oder verwenden Ayurveda. Und es gibt das geläufige Bild eines exotischen Indiens als das Land der Maharadschas mit Prunk und Reichtum. Das wird dann kontrastiert mit Elend und Armut der Masse der Bevölkerung. Indien gilt als ein Land der Widersprüche, die auch einen Gegensatz zur deutschen Gesellschaft bilden. Man sollte aber nicht derart vereinfachen. Indien ist ein Land der Vielfalt - der Religionen, Sprachen, Lebensstile und auch der Meinungen. (KNA)

Das Interview führte Anita Hirschbeck.