Der marokkanische Intellektuelle Hassan Aourid
Demokratie lässt sich nicht aufhalten

Hassan Aourid zählt zu den wichtigsten Persönlichkeiten der politischen und intellektuellen Landschaft Marokkos. Im Qantara-Gespräch mit Ismail Azzam schildert er seine Sicht auf den Niedergang des politischen Islams und die Zukunft der Demokratie im Maghreb.

In Ägypten ist Mohamed Mursi, der ehemalige Präsident aus den Reihen der Muslimbrüder, im Gefängnis gestorben. Die AKP hat die Bürgermeisterwahl in Istanbul verloren, im Sudan wurde das Regime von Omar al-Baschir gestürzt und in Tunesien mussten die gemäßigten Islamisten von der Ennahda bei den Präsidentschaftswahlen eine Niederlage einstecken. Wie beurteilen Sie angesichts der jüngsten Entwicklungen die derzeitige Lage des politischen Islams in der arabischen Welt? Ist die Bewegung jetzt am Ende, nachdem sie anfangs noch so stark vom Arabischen Frühling profitiert hatte?

Hassan Aourid: Man muss da differenzieren. Der Islam wird ein kultureller und politischer Einflussfaktor bleiben, der politische Islam als Ideologie wird hingegen meiner Ansicht nach an Bedeutung verlieren. Es findet ein Umdenken statt, denn der Abstieg des politischen Islams in die Niederungen der politischen Realität hat zu Verwerfungen und Widersprüchen geführt. Die Anzeichen für diese Veränderung haben sich schon im Nachgang des Arabischen Frühlings gezeigt, zum Beispiel als sich Ennahda-Chef Rachid al-Ghannouchi für eine Trennung von Politik und religiöser Missionierung aussprach.

Wir betreten gerade Neuland, das machen die aktuellen Entwicklungen in Algerien und dem Sudan deutlich. Noch vor 30 Jahren bestimmten die Slogans des politischen Islams das Leben in diesen beiden Ländern. In den aktuellen Protestbewegungen dort spielt der politische Islam jedoch keine Rolle mehr. Das deutet darauf hin, dass in der Region ein Wandel im Gange ist, mit dem sich der Bogen schließt, der 1967 seinen Ausgang nahm.

Wie schätzen Sie als ehemaliger Mitarbeiter des marokkanischen Außenministeriums die von Ihnen erwähnten Entwicklungen in Algerien ein? Befindet sich das Land tatsächlich auf dem Weg zu einer Demokratie und schüttelt die Herrschaft des Militärs endgültig ab, oder wird sich das Regime dort auf irgendeine Art reorganisieren und neu etablieren?

 Proteste gegen die Regierung in Algier am 1.11.2019; Foto: picture-alliance/B. Bensalem
Der demokratische Geist ist aus der Flasche: Seit 38 Wochen kommt es zu Massenprotesten in Algerien. Die Demonstrationen hatten im Februar begonnen und Anfang April zum Rücktritt von Langzeitpräsident Abdelaziz Bouteflika geführt. Auch das in Algerien mächtige Militär, das Bouteflika vor 20 Jahren mit an die Macht gebracht hatte, wandte sich angesichts des Drucks der Demonstranten schließlich von Bouteflika ab. Die für den Sommer angesetzten Neuwahlen sind allerdings zunächst auf den Dezember verschoben worden.

Aourid: Man muss zwischen dem unterscheiden, was ich "politische Zeit" und "historische Zeit" nenne. In der politischen Zeitlinie gibt es Aufs und Abs, Fortschritte und Rückschritte. Das gilt für alle Staaten der arabischen Welt. Der Arabische Frühling war ein Schritt nach vorne, während die Konterrevolution einen Rückschritt bedeutete. Die historische Zeitlinie führt hingegen zwangsläufig zu einer Demokratisierung der Region.

Deswegen sollten wir die Entwicklungen in Algerien aus der Perspektive der historischen Zeit beurteilen. Letztlich gibt es nicht nur in Algerien, sondern auch andernorts, keinen anderen Weg als den der Demokratisierung. Alles andere würde einem Selbstmord gleichkommen, denn der zivilisatorische Ausnahmefall, der die Potenziale der Region seit geraumer Zeit lähmt und einen ständigen Unruheherd darstellt, ist nicht länger haltbar. Diese pathologische Situation ist auch der Grund dafür, dass die Sprache der Gewalt von Zeit zu Zeit die Oberhand gewinnt.

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