Drakonische Strafen für Schiffbrüchige

Die Situtation von Menschen, die über das Mittelmeer fliehen und Schutz in Mitgliedstaaten der Europäische Union suchen, zeichnet sich dadurch aus, dass viele von ihnen abgefangen werden, um ihnen ihr Recht auf Zugang zu einem Asylverfahren zu verweigern.
Die Situtation von Menschen, die über das Mittelmeer fliehen und Schutz in Mitgliedstaaten der Europäische Union suchen, zeichnet sich dadurch aus, dass viele von ihnen abgefangen werden, um ihnen ihr Recht auf Zugang zu einem Asylverfahren zu verweigern.

Die Einhaltung der menschenrechtlichen Verpflichtungen gegenüber Schutzsuchenden sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Doch das Recht auf Zugang zu einem fairen Asylverfahren wird an den Außengrenzen der EU systematisch missachtet. So beispielsweise in Griechenland. Mehr noch: Dort drohen schiffbrüchigen Schutzsuchenden im Extremfall lange Haftstrafen. Von Alexandra Senfft

Von Alexandra Senfft

Es ist der 5. Mai 2022. Im Verhandlungssaal von Syros, der Hauptinsel der griechischen Kykladen, sitzt Kheiraldin A. und wartet auf sein Urteil. Neben ihm die beiden Mitangeklagten Abdallah J. und Mohammed B. Die drei Syrer sind der „Beihilfe zur unerlaubten Einreise“ nach Griechenland, „der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung“ sowie „der Verursachung eines Schiffbruchs“ angeklagt. Ferner wird ihnen eine Mitschuld am Tod von 18 Menschen zur Last gelegt.

An Heiligabend 2021 gehörten die drei Männer zu den mindestens 81 Passagieren, die im Morgengrauen im türkischen Küstenort Çeşme von Menschenschmugglern auf ein Boot gesetzt wurden, das sie nach Europa bringen sollte. Immer mehr Schutzsuchende wählen neuerdings die lange und gefährliche Fluchtroute an Griechenland vorbei direkt nach Italien, um nicht von der griechischen Küstenwache aufgegriffen und in die Türkei zurückgeschoben zu werden. Nach eigener Aussage bezahlten die überwiegend syrischen Migranten zwischen 7.000 und fast 10.000 Euro für die Überfahrt.

Geduldete Pushbacks

Der 39-jährige Kheiraldin hat schon mehrmals die Einreise nach Europa versucht, wurde aber jedes Mal in die Türkei zurückgeschoben. Bei diesen sogenannten „Pushbacks“ werden Migranten von den Grenzen ihres Ziel- oder Transitlandes gewaltsam zurückgedrängt. Auch Kinder sind darunter. Pushbacks verstoßen gegen europäisches Recht und internationale Konventionen. Im April wurde bekannt, dass die EU-Grenzschutzagentur Frontex zwischen März 2020 und September 2021 an der rechtwidrigen Zurückdrängung von mindestens 957 Schutzsuchenden beteiligt war. Frontex-Chef Fabrice Leggeri trat nach schweren Vorwürfen im Zusammenhang mit der Zurückweisung von Migranten Ende April zurück.

Kheiraldin und seine Freunde wollten keine weitere Zurückweisung riskieren, zumal ihnen die Abschiebung nach Syrien drohte. Sie entschlossen sich deshalb, auf dem direkten Seeweg nach Italien zu fliehen. Die Männer stammen aus einfachen Verhältnissen und lebten mit ihren Frauen und Kindern seit Jahren unter prekären Bedingungen in der Türkei. Kheiraldins 2-jährige Tochter hat einen angeborenen Herzfehler und bedarf einer lebensrettenden Operation, weshalb er auf Hilfe in Europa hoffte. Da die Männer die von den Schleppern geforderte Summe nicht aufbringen konnten, bot sich Kheiraldin als Steuermann an, während sich Abdallah und Mohammed als Mechaniker bzw. Assistent verdingten.

Die Schlepper transportierten ihre „Kunden“ einige Tage vor Weihnachten auf Lastwagen von Istanbul nach Çeşme. Dort wurden sie mehrere Tage ohne ausreichende Verpflegung vor der türkischen Polizei versteckt. Als die mindestens 81 Passagiere endlich vor dem Boot standen, war der Schrecken groß: Das nur zwölf Meter lange Taxiboot war eigentlich für kurze Strecken ausgelegt. Ursprünglich war ihnen ein ausreichend großes Boot zugesagt worden. Doch es gab kein Zurück mehr, zumal sie in der Hoffnung auf ein besseres Leben ihr letztes Hab und Gut zurückgelassen hatten.

Über 160 Kilometer lang verlief die Reise. Am frühen Abend, ungefähr dreizehn Kilometer von der Kykladeninsel Paros entfernt, fiel ein Motor aus. Dann der zweite. Vergeblich versuchten Kheiraldin, Mohammed und Abdallah, die Motoren wieder in Ganz zu setzen. Panik brach aus, als Wasser in das völlig überfüllte Boot eindrang. Das Boot kenterte.
Tragödie in der Ägäis. Über 160 Kilometer lang verlief die Reise. Am frühen Abend, ungefähr dreizehn Kilometer von der Kykladeninsel Paros entfernt, fiel ein Motor aus. Dann der zweite. Vergeblich versuchten Kheiraldin, Mohammed und Abdallah, die Motoren wieder in Ganz zu setzen. Panik brach aus, als Wasser in das völlig überfüllte Boot eindrang. Das Boot kenterte.

Tragödie in der Ägäis

Die Wetterverhältnisse waren im Morgengrauen noch günstig. Über 160 Kilometer lang verlief die Reise störungsfrei. Dann setzte die Dunkelheit ein und mit ihr die winterliche Kälte auf der Ägäis. Am frühen Abend, ungefähr dreizehn Kilometer von der Kykladeninsel Paros entfernt, fiel ein Motor aus. Dann der zweite. Vergeblich versuchten Kheiraldin, Mohammed und Abdallah, die Motoren wieder in Ganz zu setzen. Panik brach aus, als Wasser in das völlig überfüllte Boot eindrang. Das Boot kenterte. Einige Passagiere ertranken sofort, andere drifteten stundenlang im eiskalten Meer. Andere schafften es, sich auf das kieloben treibende Boot zu retten. Fischer aus Paros waren die ersten, die nach etwa zwei Stunden eintrafen.

Auch das „Hellenic Rescue Team“ mit der von der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger gespendeten „Chiara“ und später auch Boote der griechischen Küstenwache kamen zum Einsatz, um die Schiffbrüchigen zu bergen. Letztlich konnten 63 Menschen an Land gebracht werden. Bewohner der Insel Paros versorgten sie mit dem Nötigsten. 16 Leichen wurden geborgen, darunter drei Frauen und ein Kleinkind.

Schiffbrüchige wie Straftäter behandelt

Die Überlebenden kamen in der Berufsfachschule am Ort unter. Beamte konfiszierten ihre Mobiltelefone und bewachten sie wie Gefangene. Kontakte zur Außenwelt oder gar zur Presse waren mit Hinweis auf eine strafrechtliche Untersuchung untersagt. Die traumatisierten Schiffbrüchigen galten jetzt als illegale Einwanderer und wurden pauschal des Menschenschmuggels und der Mitschuld am Tod der Ertrunkenen bezichtigt. Sie wurden weder über ihre Rechte aufgeklärt noch bekamen sie Gelegenheit, Verwandte oder Anwälte anzurufen. In den beiden folgenden Tagen setzten die Behörden alles daran, die Steuerleute ausfindig zu machen.

Schutzsuchenden, die nach Europa reisen wollen, wird in Griechenland das Recht auf Zugang zu einem fairen Asylverfahren systematisch verwehrt – mit stiller Duldung der Europäischen Union. Menschenrechtsaktivisten, NGOs und Journalisten sind zunehmend Repressalien und Angriffen der griechischen Regierung ausgesetzt. Dies reicht bis hin zu Morddrohungen aus der griechischen rechtsextremen Szene gegen Rettungshelfer, wie der bekannte Seenotretter Iasonas Apostolopoulos jetzt selbst erfahren musste.

Das havarierte Boot vor der Bergung in der Bucht von Naoussa, Paros, 26. Dezember 2022. (Foto: ALEXANDRA SENFFT)
Das havarierte Boot vor der Bergung in der Bucht von Naoussa, Paros, 26. Dezember 2022. (Foto: ALEXANDRA SENFFT)

Odyssee eines Syrers aus Deutschland

Am 27. Dezember schaffte die Polizei die verbliebenden 60 Schutzsuchenden auf die Fähre nach Piräus und von dort ins Untersuchungsgefängnis Amygdaleza. Wochen später durften einige wenige Asylanträge stellen. Familien und besonders vulnerable Personen wurden dabei bevorzugt behandelt und auf andere Lager verteilt – was aus ihnen geworden ist, ist kaum noch zurückzuverfolgen. Unter ihnen auch Ibrahim B. Der 31-jährige Syrer lebte bereits seit sieben Jahren als „Person mit internationalem Schutzstatus" in Leipzig. Eine Reise nach Griechenland, wo er einen Verwandten treffen wollte, den er seit seiner Flucht aus Syrien nicht mehr gesehen hatte, wurde ihm vergangenes Jahr zum Verhängnis: Griechische Polizisten konfiszierten seine deutschen Papiere und schoben ihn über den Fluss Evros in die Türkei zurück. Ibrahim B. war nun plötzlich ohne Papiere als Illegaler unterwegs. Sein Versuch, über die Deutsche Botschaft kurzfristig neue Dokumente zu erhalten, misslang. In seiner Not entschied er sich zur zweiten Flucht seines Lebens: auf dem Unglücksboot von Çeşme.

Schnelles Gerichtsverfahren

Kheiraldin A., Abdallah J. und Mohammed B. ereilte ein anderes Schicksal: Sie wurden als vermeintliche „Bootsführer“ auf der Insel Chios inhaftiert. Die Küstenwache von Paros entkernte und zerstörte das havarierte Boot, in dem sich noch die Rucksäcke mit der persönlichen Habe der Schiffbrüchigen befanden. In den folgenden Wochen trieben auf Paros und anderen Inseln weitere Leichen an. Zwei davon wurden dem Schiffsunglück von Paros zugeordnet. Die Todeszahl von Paros stieg somit auf 18. Darunter befand sich auch die 23-jährige Rawand Mohamed Al-Ayedi. Die junge Frau stammte aus dem palästinensischen Flüchtlingslager Yarmouk in Syrien und wollte zu ihrer Familie in Deutschland. Die deutschen Behörden in Jordanien hatten ihren Eltern und den vier Geschwistern seinerzeit Asyl gewährt, nicht aber Rawand, weil sie bereits volljährig war. Die erhoffte Zusammenführung der Familie endete tragisch in der Ägäis.

Das Gerichtsverfahren gegen die drei Angeklagten wurde ungewöhnlich schnell angesetzt. Nicht selten warten Beschuldigte Jahre auf ihre Anhörung. Kheiraldin, Abdallah und Mohammed drohten nun 18-mal lebenslänglich für jeden einzelnen Toten und darüber hinaus Strafen für jeden weiteren Passagier an Bord des Bootes. borderline-europe, eine in Berlin ansässige NGO, übernahm die Kosten der Verteidigung und engagierte zwei griechische Rechtsanwälte. Im Normalfall wird Angeklagten bestenfalls eine Pflichtverteidigung zur Seite gestellt.

Unterbringung und Bewachung der 63 Überlebenden des Schiffbruchs in der Berufsfachschule von Paros. (Foto: ALEXANDRA SENFFT)
Unterbringung und Bewachung der 63 Überlebenden des Schiffbruchs in der Berufsfachschule von Paros. (Foto: ALEXANDRA SENFFT)

Bedenkliche Rechtsgrundlage

Für den Prozess reisten am 4. Mai Vertreter und Vertreterinnen von borderline-europe, Prozessbeobachter sowie Angehörige von Kheiraldin und Mohammed an.

Der Staatsanwalt plädierte auf schuldig wegen „Beihilfe zur unerlaubten Einreise von Drittstaatsangehörigen unter Gefährdung von Menschenleben“. Zur Überraschung der Verteidigung kritisierte er die Rechtsgrundlage. Das Gesetz berücksichtige Fälle wie die der Angeklagten nicht, die ihre Herkunftsländer aufgrund der zwingenden Umstände verlassen mussten und nicht aus Gewinnstreben handelten. Die Richter folgten seiner Einschätzung und sprachen die Beschuldigten vom Vorwurf der „Verursachung eines Schiffbruchs“ und der „Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung“ frei. Dennoch wurde Kheiraldin als Steuermann des Unglücksboots zu 187 Jahren Haft verurteilt, seine beiden Gehilfen zu jeweils 126 Jahren.

439 Jahre Haft

„Leider ist das kein Einzelfall“, erklärt Julia Winkler von borderline-europe. Seit Jahren würden Flüchtende unter dem Vorwand der Bekämpfung des Menschenhandels zu extrem langen Gefängnisstrafen verurteilt. „Nicht nur zwingt die EU-Flüchtende auf lebensgefährliche Routen, sie klagt sie danach absurderweise dafür noch an. Wie am Beispiel der Paros3 erneut deutlich wird, ist den Behörden dabei bewusst, dass es sich bei den Verhafteten nicht um skrupellose Verbrecher:innen, sondern um Geflüchtete handelt. Dennoch werden sie verurteilt. Diese Kriminalisierungspraxis kann deshalb nur als systematischer, groß angelegter Versuch gewertet werden, Menschen von der Einreise abzuschrecken“, so die Menschenrechtsaktivistin.

Strafverteidiger Dimitris Choulis zeigte sich erleichtert und empört zugleich: „Unsere Mandanten werden zu insgesamt 439 Jahren Haft verurteilt, und wir müssen das auch noch als ‘Gewinn’ verbuchen, weil ihnen eine lebenslängliche Haft erspart bleibt“. Die Gesetzeslage führe zum Tod und zur Inhaftierung der Vulnerabelsten. Es bedürfe dringend einer Gesetzesänderung, so der Rechtsanwalt: „Asyl zu suchen ist kein Verbrechen." Die Anwälte gingen in Berufung. Die Frauen der Verurteilten sind mit ihren Kindern nun auf sich allein gestellt.

Trauriger Jahrestag

Für die drei Syrer war die Gerichtsverhandlung am 5. Mai in mehrfacher Hinsicht ein schrecklicher Tag: Das Massaker von Banyias, der syrischen Küstenstadt, aus der die Geflüchteten stammen, jährte sich fast auf den Tag genau zum neunten Mal. Am 3. Mai 2013 töteten Regierungstruppen und Paramilitärs dort mindestens 77 Zivilisten, darunter Frauen und Kinder. Staatliche Medien gaben seinerzeit an, das Gebiet von Terroristen gesäubert zu haben. Bereits am Vortag hatten Pro-Assad-Truppen in der benachbarten Gemeinde al-Bayda mindestens 100 Zivilisten brutal ermordet. Einige Quellen sprechen sogar von 400 Menschen. Vor diesen Umständen waren die Männer mit ihren Familien geflohen.

Mohammed erreichte am Tag seiner Verurteilung noch eine weitere traurige Nachricht: In Syrien war eine neue Liste von Menschen aufgetaucht, die das Assad-Regime ermordet hat – darunter der Name seines Vaters.

Alexandra Senfft

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