"Die alten Rezepte haben ausgedient"

Angesichts der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen in den arabischen Ländern reichen einzelne Maßnahmen zur Bewältigung der Krise nicht mehr aus, es braucht grundlegende Reformen. Ein Essay von Marwan Muasher

Von Marwan Muasher

Die Auswirkungen der Coronapandemie und des Krieges in der Ukraine auf die arabische Welt könnten unterschiedlicher nicht sein. Während die ölimportierenden Staaten mit beispiellosen Preissteigerungen bei Lebensmitteln und Energie, mit Arbeitslosigkeit, Verschuldung und Inflation konfrontiert sind, haben die Golfstaaten durch den plötzlichen Anstieg des Ölpreises enorme Gewinne angehäuft. 

In der krisengeschüttelten arabischen Welt zeigt sich mit aller Deutlichkeit, dass die bestehenden politischen und wirtschaftlichen Systeme an ihre Grenzen gestoßen sind. Mit anderen Worten: Um den sozialen Frieden zu wahren und Stabilität und Wohlstand zu sichern, müssen Autoritarismus und die Rentenökonomie grundlegend revidiert werden. 

Die arabischen Staaten haben auf die Abfolge von Krisen und Herausforderungen unterschiedlich reagiert. Im Ergebnis lassen sich drei Kategorien arabischer Staaten unterscheiden, die sich weniger durch ihre geographische Nähe als durch die verfolgte politische Strategie ergeben: die prosperierenden Staaten, die Krisenstaaten und die gescheiterten Staaten. Die Frage ist nicht, ob diese Staaten in der Lage sind, die alte arabische Ordnung aufrechtzuerhalten. Das ist sicher nicht der Fall. Es geht vielmehr darum, welche neue arabische Ordnung sie anstreben. 

Mit dem Verfall der Ölpreise ab 2014 hat sich in einigen Golfstaaten die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Rentenökonomie nicht mehr geeignet ist, die Arbeitslosigkeit zu senken und reale Arbeitsplätze zu schaffen. Zudem konnten die Öleinnahmen nicht mehr mit der Inflation im öffentlichen Sektor mithalten.

Glitzerwelt am Golf; Foto: picture-alliance/abaca
Glitzerwelt am Golf: Viele Golfstaaten, allen voran Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Katar, begannen ernsthaft, ihre Volkswirtschaften zu diversifizieren, um sich aus der einseitigen Abhängigkeit vom Öl zu befreien. Tiefgreifende Wirtschafts- und Steuerreformen wurden durchgeführt, zahlreiche Subventionen abgebaut und die Investitionsgesetze modernisiert.  Den herrschenden Regimen gelingt es auf diese Weise, ihren Machterhalt zu sichern, ohne politische Reformen durchführen zu müssen, die ihren Bürgern eine größere Rolle im Entscheidungsprozess eingeräumt und das Thema Menschenrechte stärker in den Vordergrund gerückt hätten.



Viele Golfstaaten, allen voran Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und Katar, begannen ernsthaft, ihre Volkswirtschaften zu diversifizieren, um sich aus der einseitigen Abhängigkeit vom Öl zu befreien. Tiefgreifende Wirtschafts- und Steuerreformen wurden durchgeführt, zahlreiche Subventionen abgebaut und die Investitionsgesetze modernisiert. 

Golfstaaten als Vorreiter bei Reformen 

In Saudi-Arabien wurden in letzter Zeit große gesellschaftliche Reformen verfügt. Beispielsweise wurde Frauen das Autofahren erlaubt und viele soziale Einschränkungen für die Bürgerinnen und Bürger wurden aufgehoben. Die VAE haben diesen Weg bereits vor Jahrzehnten eingeschlagen. Auch bei den Finanzhilfen für andere Länder verfolgen diese Staaten inzwischen einen neuen Ansatz.



Statt wie bisher die Staatshaushalte der ölimportierenden Länder zu stützen, werden die Hilfen nun an Bedingungen wie Wirtschaftsreformen oder den Erwerb von Anteilen an Staatsunternehmen geknüpft. Einige Staaten werden aufgrund politischer Differenzen überhaupt nicht mehr unterstützt. 

Auch nach dem Ölpreisanstieg der letzten Monate sind die Golfstaaten nicht zu ihrer früheren Politik der großzügigen Finanzhilfen zurückgekehrt. Vielmehr wird ein Großteil der zusätzlichen Öleinnahmen in eigene Projekte investiert. Dieser Wandel wurde vor allem von der jüngeren Generation in den Golfstaaten sehr positiv aufgenommen.



Den herrschenden Regimen gelingt es auf diese Weise, ihren Machterhalt zu sichern, ohne politische Reformen durchführen zu müssen, die ihren Bürgern eine größere Rolle im Entscheidungsprozess eingeräumt und das Thema Menschenrechte stärker in den Vordergrund gerückt hätten.



Es ist fraglich, ob diese Strategie langfristig erfolgreich sein kann, wenn die politische Entscheidungsgewalt weiterhin in den Händen einer Person oder einer kleinen Gruppe konzentriert bleibt und Klientelismus und Korruption nicht bekämpft werden. 

Steigende Preise bei Saudi Aramco; Foto: picture-alliance/dpa/AP
Mehr Geld für die Golfstaaten: Der Anstieg der Ölpreise durch den Krieg in der Ukraine spielt Saudi-Arabiens Ölkonzern Saudi-Aramco zusätzliche Milliarden in die Kasse. Doch auch nach dem Ölpreisanstieg der letzten Monate sind die Golfstaaten nicht zu ihrer früheren Politik der großzügigen Finanzhilfen für krisengeschüttelte andere arabische Staaten zurückgekehrt. "Vielmehr wird ein Großteil der zusätzlichen Öleinnahmen in inländische Projekte investiert. Dieser Wandel wurde vor allem von der jüngeren Generation in den Golfstaaten sehr positiv aufgenommen“, schreibt Marwan Muasher.

Blockierte Reformen in Jordanien, Ägypten und Tunesien 

Die zweite Gruppe, die Krisenstaaten, besteht vor allem aus Ländern mit wenig Öl und vielen Arbeitskräften. Dazu gehören zum Beispiel Jordanien, Ägypten und Tunesien. Diese Länder sind stark von der Unterstützung der Ölstaaten und den Überweisungen ihrer dort arbeitenden Bürger abhängig. Sie werden auch als Semi-Rentierstaaten bezeichnet. Auch in diesen Ländern gibt es eine hohe Inflation im öffentlichen Sektor und eine verfestigte Kultur der Vetternwirtschaft auf Kosten von Effizienz und Produktivität. 

Zu Beginn des letzten Jahrzehnts kam es in diesen Ländern zu massiven Protesten, als die internationalen Finanzhilfen und die Rücküberweisungen der Arbeitsmigranten nicht mehr ausreichten, um die Kosten des expandierenden öffentlichen Sektors zu decken und reale Arbeitsplätze zu schaffen.  

Da ein Großteil der Einnahmen zur Deckung der laufenden Ausgaben verwendet wurde, wurden die Bereiche Bildung, Gesundheit und Transport vernachlässigt, obwohl gerade diese die Grundlage für hohes Wirtschaftswachstum bilden.



Nicht zuletzt aufgrund der Einschnitten bei den Hilfszahlungen aus den Ölstaaten befinden sich diese Länder heute in großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, da sie sich nicht mehr auf ausländische Gelder verlassen können, um nachhaltige wirtschaftliche und politische Systeme aufrechtzuerhalten. Heute erleben diese Länder einen gefährlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit, der Verschuldung sowie der Lebensmittel- und Energiepreise. 

Proteste in Jordanien; Foto: Salah Malkawi/AA/picture alliance
Protest gegen Arbeitslosigkeit und steigende Preise in Jordanien: "Nicht zuletzt aufgrund der Veränderungen bei den Hilfszahlungen durch die Ölstaaten befinden sich Länder wie Jordanien, Ägypten und Tunesien heute in großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, da sie sich nicht mehr auf ausländische Gelder verlassen können, um nachhaltige wirtschaftliche und politische Systeme aufrechtzuerhalten“, schreibt Marwan Muasher. "Heute erleben diese Länder einen gefährlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit, der Verschuldung sowie der Lebensmittel- und Energiepreise.“



Diese Länder sind sich zwar bewusst, dass sie sich mit der Art ihres Wirtschaftens und womöglich auch ihren politischen Systemen in einer Sackgasse befinden.



Dennoch gibt es starke Beharrungskräfte, die sich einer Transformation hin zu einer Ordnung, die auf Effizienz, Partizipation, Rechtsstaatlichkeit und Gleichberechtigung beruht, entgegenstellen und selbst Ansätze für einen graduellen Übergang ablehnen. Denn sie sind davon überzeugt, dass selbst ein gradueller Übergang den Gesellschaftsvertrag verändern würde, auf dem ihre Macht beruht. 

Die Eliten in Politik und Sicherheitsapparaten dieser Länder fürchten um ihre Privilegien und ihren Einfluss. Sie widersetzen sich den Vorschlägen der Reformer, die auf eine Transformation hin zu einem effizienzbasierten Wirtschaftsmodell drängen, auf eine höhere Produktivität und damit auf mehr Wirtschaftswachstum und reale Beschäftigungsmöglichkeiten. Dies würde zugleich die soziale Basis der Regimetreuen erheblich stärken. 

Diese theoretische Diskussion wird weitergehen, während sich die wirtschaftliche Situation in diesen Ländern von Tag zu Tag verschlechtert. Ein Wandel wird erst dann eintreten, wenn die politischen und sicherheitspolitischen Eliten erkennen, dass die alten Rezepte, die sich auf die Macht der Sicherheitskräfte und externe finanzielle Ressourcen zur Aufrechterhaltung des sozialen Friedens stützten, ein für alle Mal ausgedient haben. 

Gescheiterte Staaten: Von Libanon bis Sudan

Werfen wir einen Blick auf die dritte Gruppe, die gescheiterten Staaten wie Libanon, Syrien, Libyen, Jemen und Sudan, die ihren ethnischen und religiösen Pluralismus leider nicht als Quelle der Stärke, sondern als Ursache der Spaltung betrachten.

Libanon Menschen stehen Schlange für Brot; Bild: Mahmoud Zayyat/AFP/Getty Images
Libanon: Menschen stehen Schlange vor einer Bäckerei. Im Libanon lehnen die politischen Kräfte jede noch so bescheidene Reform ab, weil sie sich die politische Macht und die Kontrolle über die finanziellen Ressourcen sichern wollen, ungeachtet des Ausmaßes an wirtschaftlichem Niedergang, der das Land an den Rand des Staatsbankrotts geführt hat.



Im Libanon lehnen die politischen Kräfte jede noch so bescheidene Reform ab, weil sie sich die politische Macht und die Kontrolle über die finanziellen Ressourcen sichern wollen, ungeachtet des Ausmaßes an wirtschaftlichem Niedergang, der das Land an den Rand des Staatsbankrotts geführt hat. 

In Syrien setzt das Regime auf brutalste Gewalt, um Macht und Privilegien zu erhalten. In Libyen, im Jemen und im Sudan toben weiterhin Kriege. Zwar spielen auch in diesen Kriegen externe Akteure eine Rolle. Sie sind aber nicht der Hauptgrund dafür, dass diese Länder von der internationalen Gemeinschaft als gescheitert angesehen werden.



Die Ursache liegt vielmehr im innenpolitischen Versagen und in der Uneinsichtigkeit der politischen Eliten und ihrer Weigerung, politische Vereinbarungen zu treffen, die ihre Länder aus der Misere führen könnten. 

Allen drei Gruppen von Staaten ist gemeinsam, dass sie sich einem umfassenden Reformansatz verweigern, der politische, wirtschaftliche und soziale Reformen gleichermaßen umfasst. Die wohlhabenden arabischen Länder versuchen heute, durch wirtschaftliche und soziale Reformen Zeit zu gewinnen, ohne ihre Bürger in Entscheidungsprozesse einzubeziehen.

Die angeschlagenen Länder führen Teilreformen durch, die einige wenige Herausforderungen angehen, aber bei weitem nicht ausreichen, um sie aus der Sackgasse zu führen. Die gescheiterten Staaten, die jede Art von Reformen ablehnen und auf eine wundersame Rettung von außen warten, werden keine Lösung finden, solange sie nicht bereit sind, sich selbst zu helfen. 

 

 

Ohne Gleichberechtigung der Frauen geht es nicht

Der Status quo in der arabischen Welt deutet darauf hin, dass einzelne Maßnahmen nicht mehr ausreichen, um die wachsenden Herausforderungen in der Region zu bewältigen. Ernsthafte Reformen müssen alle politischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme gleichzeitig angehen, und zwar auf der Grundlage eines abgestuften und ernstgemeinten Plans.

Ein solcher Plan muss auch eine tiefgreifende Reform der Bildungssysteme beinhalten. Die Bildungssysteme heute bringen Generationen hervor, die nicht in der Lage sind, mit den ständigen Veränderungen des Lebens umzugehen und Kreativität und Innovation zu entwickeln, die die Grundlage für Fortschritt und Wohlstand bilden. 

Es liegt auf der Hand, dass ein reibungsloser Übergang zu Systemen, die auf Effizienz statt auf Vetternwirtschaft beruhen, mit sozialen Sicherungsnetzen einhergehen muss, die auch die ärmsten Schichten der Gesellschaft absichern. Andernfalls ist der soziale Frieden in Gefahr.



Und wenn nachhaltiger Wohlstand für unsere Gesellschaften das Ziel ist, dann ist es auch an der Zeit, dass die arabische Welt mit dem Rest der Welt gleichzieht und sich für die volle Gleichberechtigung der Frauen einsetzt und ihnen ihre politischen und legislativen Rechte einräumt. 

Darüber hinaus bedarf es eines nationalen Dialogs zwischen allen Teilen der Gesellschaft, insbesondere mit den Sicherheitsapparaten, die in der Regel die politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen kontrollieren und mit denen - bei allen Schwierigkeiten - ein Dialog geführt werden muss, um sie davon zu überzeugen, dass ihre Instrumente nicht mehr in der Lage sind, den sozialen Frieden zu sichern und Wohlstand zu ermöglichen. 

Mit Ausnahme der Golfstaaten befinden sich die meisten arabischen Staaten derzeit in einer äußerst schwierigen Lage. Die Bewältigung der aktuellen Herausforderungen ist nicht unmöglich, erfordert aber neue, ganzheitliche Politikansätze anstelle fragmentierter Einzelreformen, die nie genügend waren und heute erst recht nicht mehr ausreichen. 

Marwan Muasher  

© Carnegie Endowment for International Peace/Qantara.de 2023  

Marwan Muasher leitet als Vice President for Studies bei Carnegie Endowment for International Peace in Washington und Beirut die Forschungsaktivitäten zum Nahen Osten. Muasher war in Jordanien Außenminister (2002-2004) und stellvertretender Ministerpräsident (2004-2005). In seiner Laufbahn war er in den Bereichen Diplomatie, Entwicklung, Zivilgesellschaft und Kommunikation tätig. 

Aus dem Arabischen übersetzt von Daniel Falk

 

 

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