Die Krise ist hausgemacht

Eine übermäßige Abhängigkeit von Zahlungen und Hilfsgeldern aus dem Ausland zwingt Jordanien in die Knie, kommentiert Marwan Muasher.

Essay von Marwan Muasher

Im Süden Jordaniens – einer der ärmsten Gegenden des Landes – flammten kürzlich erneut Proteste auf als Folge der anhaltenden Wirtschaftskrise und der Preissteigerungen bei Treibstoff und Lebensmitteln

Der Regierung fiel es dieses Mal nicht schwer, als Ursache für die Probleme auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine zu verweisen. So wie sie bereits zuvor stets viele Gründe für die schlechte Wirtschaftslage in Jordanien gefunden hat – außer ihrer eigenen schlechten Regierungsführung. 

Doch Fakt ist, dass die aktuelle weltweite geopolitische Lage nicht für die drängenden Probleme des Landes verantwortlich ist. Das ist längst kein Geheimnis mehr. Der Überfall Russlands auf die Ukraine mag die Krise verschärft haben, verursacht hat er sie nicht. 

Ungesunde Abhängigkeit von Hilfen aus dem Ausland

Die derzeitige wirtschaftliche Lage Jordaniens ist in erster Linie das Ergebnis von der wirtschaftlichen und politischen Entscheidung, sich weitgehend auf Zahlungen und Hilfen aus dem Ausland zu verlassen. Die Regierung hat es schlicht versäumt, eine Wirtschaft zu entwickeln, die auf Leistung, Produktivität und eigenen Ressourcen beruht. 

Immer wieder behaupten Offizielle, es sei nicht der richtige Zeitpunkt für Veränderungen. Der Mangel an Bodenschätzen mache Jordanien von externen Ressourcen abhängig und zwar solange, bis sich irgendwann die richtige Gelegenheit für Veränderungen biete.

 

#Jordan : Dozens of people arrested over protests against rising fuel prices in recent days - a colonel in police force was killed on Thursday - the unrest erupted in south of country in Maan province #معان #الأردن pic.twitter.com/cVeTtXlmdE

— sebastian usher (@sebusher) December 17, 2022

 

Zwar gibt es durchaus eine Reihe von nationalen Initiativen mit realistischen Plänen, wie sich das gegenwärtige Wirtschaftssystem auf produktivere Ansätze umstellen ließe, die sich auf die eigenen Ressourcen des Landes stützen. Doch bisher stießen alle Initiativen auf taube Ohren. 

Eine solche Umstellung würde nämlich dazu führen, dass die jordanische Rentenökonomie ihren wichtigsten Modus Operandi einbüßt: Die Grundlagen in der jordanischen Gesellschaft dafür zu schaffen, dass Arbeitsplätze und Privilegien in erster Linie von Regierungsbehörden abhängig sind und nach einem etablierten System aus Vettern- und Günstlingswirtschaft vergeben werden. 

Wäre der Wille vorhanden gewesen, sich dagegen an Produktivität zu orientieren, hätten wir die aufkommenden Krisen vermeiden oder zumindest abfedern können. Wir brauchen Lösungen, die die Arbeitslosigkeit umfassend senken, die Grundbedürfnisse der Menschen decken, die Verwaltung flexibilisieren und das Produktivitätsniveau und damit die Wachstumsraten für alle steigern. 

Bedauerlicherweise war keine der bisherigen jordanischen Regierungen dieser Aufgabe gewachsen. Stattdessen haben sie alle Ausreden dafür mobilisiert, warum Jordanien angeblich nicht aus eigener Kraft zurechtkommen könne. Im Grunde ging es lediglich darum, die politischen und wirtschaftlichen Privilegien einer kleinen Minderheit zu wahren.



Selbst die verkappte Steuer auf Treibstoff ist nicht überzeugend berechnet oder der Öffentlichkeit transparent begründet worden. Wir sollten uns endlich eingestehen, dass die bisherigen Regierungen zu einem Großteil für die drastische Lage verantwortlich sind, in der sich Jordanien heute befindet. 

Jordanien König Abdullah II; Foto: Foto: Hannibal Hanshia/AFP/Getty Images
Tiefgreifende strukturelle Krise: Die derzeitige Lage Jordaniens „ist in erster Linie das Ergebnis von wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen, sich weitgehend auf Zahlungen und Hilfen aus dem Ausland zu verlassen. Die Regierung hat es schlicht versäumt, eine Wirtschaft zu entwickeln, die auf Leistung, Produktivität und eigenen Ressourcen beruht“, schreibt Marwan Muasher in seinem Kommentar.   

Robuste Politik der inneren Sicherheit 

Ein weiterer Bereich, in dem der jordanische Staat trotz seiner robusten Vorgehensweise nicht mehr in der Lage ist, den gesellschaftliche Zusammenhalt zu bewahren, ist die innere Sicherheit. Indem sie Kritiker mundtot macht, versucht die Regierung ihr wirtschaftliches und politisches Versagen zu vertuschen. 

Die öffentliche Sicherheit ist unbestreitbar ein wichtiger Faktor für Stabilität und Wohlstand. Doch sie allein reicht nicht aus. Wir brauchen eine Wirtschaftspolitik, die die Grundbedürfnisse der Menschen nachhaltig befriedigt. Alle oppositionellen Kräfte des Verrats oder der Sabotage zu bezichtigen, wird die Probleme nicht lösen. 

Zweifellos mischen sich in der gegenwärtigen Krise auch Dschihadisten unter die Demonstranten. Sie waren es auch, die Oberst Abd al-Razzaq al-Dalabeh und seine Kollegen vom jordanischen Nachrichtendienst (General Intelligence Directorate ) ermordet haben. Unser Respekt gebührt jedem Offizier, der sein Leben opfert, während er seine Pflicht erfüllt und unser Heimatland geschützt hat – ganz besonders während der aktuellen Unruhen. 

Diese Opfer dürfen nicht vergebens gewesen sein. Gleichzeitig dürfen wir aber nicht den Eindruck erwecken, dass jeder, der seine Stimme aus Protest gegen die aktuelle Lage erhebt, ein Dschihadist ist. Abgesehen davon, dass es nicht stimmt, würde eine solche Einstellung vom Kern der Krise ablenken. Statt das Problem zu lösen, würde sich die Stimmung auf den Straßen weiter aufheizen. 

Jordanische Sicherheitskräfte in der Stadt Maan; Foto: Khalil Mazrawi/AFP
"Die Politik, die der jordanische Staat seit Jahren verfolgt – nämlich eine strenge Kontrolle im Innern und eine von ausländischer Hilfe und Vetternwirtschaft abhängige Wirtschaft – ist kein Garant mehr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt“, schreibt Marwan Muasher.   



Mein Fazit ist nicht neu, aber ich wiederhole es dennoch: Die Politik, die der jordanische Staat seit Jahren verfolgt – nämlich eine strenge Politik der inneren Sicherheit und eine von ausländischer Hilfe und Vetternwirtschaft abhängige Rentenökonomie – ist kein Garant mehr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. 

Der Wandel hin zu einer Wirtschaft, die auf rechtsstaatlichen politischen Institutionen aufbaut, ist kein Luxus, sondern zwingend notwendig, um den Frieden im Land zu erhalten. Die anhaltende aktuelle Krise zeigt klar, dass wir die Probleme nicht länger aussitzen dürfen. Wir müssen neue Wege gehen. Die alten führen nicht weiter. 

Es muss der Vergangenheit angehören, ständig neue Ausschüsse zu bilden und Pläne zu entwerfen, die dann in der Schublade landen. Wir brauchen das, was der verstorbene König Hussein als "weiße Revolution“ bezeichnete: Einen Wandel, der alle Bereiche der Gesellschaft umfasst und von einem aufrichtigen politischen Willen flankiert wird. Wir brauchen ein neues Wirtschafts- und Bildungssystem, das Innovation, Kreativität und Produktivität begünstigt –  und zwar echte Produktivität, keine imaginäre.

Dieses neue Wirtschafts- und Bildungsystem sollte im Rahmen politischer Reformen geschaffen werden, die Transparenz, Meinungsfreiheit, Pluralismus und Rechtsstaatlichkeit garantieren. Sie müssen dazu beitragen, die hartnäckigen Hindernisse zu überwinden, die dem Fortschritt in Jordanien im Wege stehen. Es wird Zeit zu erkennen, dass die von einer Sicherheitsmentalität bestimmte Politik der Regierung kein Garant für die ersehnte Stabilität und den gewünschten Wohlstand ist. 

Ohne ein solches Engagement wird es immer wieder zu wirtschaftlichen und politischen Krisen kommen, während wir an unseren Ausflüchten festhalten und auf kurzlebige Maßnahmen setzen. Auf lange Sicht führt das zu nichts. Lassen wir uns von künftigen Krisen nicht mehr überraschen. Schieben wir die Schuld daran nicht dem Ausland zu. Wir sind selbst dafür verantwortlich. Wir haben die Lösung selbst in der Hand. Wenn wir die Dinge so belassen, wie sie sind, erwartet uns weiß Gott eine finstere Zukunft. 

Marwan Muasher 

© Carnegie Endowment for International Peace/Qantara.de 2023 

Marwan Muasher leitet als Vice President for Studies bei Carnegie Endowment for International Peace in Washington und Beirut die Forschungsaktivitäten zum Nahen Osten. Muasher war in Jordanien Außenminister (2002-2004) und stellvertretender Ministerpräsident (2004-2005). In seiner Laufbahn war er in den Bereichen Diplomatie, Entwicklung, Zivilgesellschaft und Kommunikation tätig.

Übersetzt aus dem Arabischen ins Englische von Chris Somes-Charlton  

Aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt von Gaby Lammers