"Der Nahost-Konflikt muss an der Wurzel gelöst werden“

Der palästinensische Intellektuelle Sari Nusseibeh
Der palästinensische Intellektuelle und ehemalige Philosophie-Professor Sari Nusseibeh (Foto: Arno Burgi/dpa/picture-alliance)

Ein Gespräch mit dem prominenten Palästinenser Sari Nusseibeh über die Massaker der Hamas, Israels Krieg in Gaza und den in die Ferne gerückten Traum von gleichberechtigter Koexistenz.

Interview von Inge Günther

Herr Nusseibeh, was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie das Ausmaß des Hamas-Überfalls vom 7. Oktober realisiert haben? Als klar wurde, dass die Hamas Massaker an israelischen Zivilisten in nicht dagewesener Dimension begangen hat?  

Sari Nusseibeh: Die Nachrichten über Massaker trafen erst verspätet ein. Am Anfang war zunächst nur von einem völlig überraschenden, mehrfachen Durchbruch durch den Hightech-Zaun um Gaza die Rede und von konzertierten Angriffen auf militärische Ziele. Es schien mir unglaublich, dass die Hamas die Fähigkeiten und den Mut dazu besaß. Erst in den folgenden Tagen begannen wir, die andere Seite zu sehen und das Ausmaß an zivilen Opfern zu begreifen. Es ist für mich immer noch nicht ganz klar, was genau vor sich ging. Aber die Bilder waren entsetzlich genug, um zu erkennen, dass hier ein großes moralisches Versagen vorliegt.  

Viele Menschen in Israel und Palästina fühlen sich seitdem wie in einem Alptraum. Sie auch?  

Nusseibeh: Offen gestanden befinde ich mich in einem Zustand der totalen Verwirrung. Die Zukunft schaut noch düsterer aus als die Gegenwart.  

"Es gibt jetzt so viel Hass"

Sie sind seit Jahrzehnten bekannt als ein Anwalt für Frieden auf palästinensischer Seite. In einem Gastbeitrag für die englische Financial Times haben Sie geschrieben: "Unser Traum einer Zukunft für beide Völker ist das Opfer dieser Tragödie.“ Sind jetzt alle Hoffnungen zerbrochen? 

Nusseibeh: Es gibt jetzt so viel Hass auf beiden Seiten. Es fällt mir schwer zu sehen, wie der Traum von einer gleichberechtigten Koexistenz in absehbarer Zeit realisiert werden kann. Aber ich nehme an, dass wir zusammen positive Schlüsse ziehen können. Alles ist möglich. Natürlich lassen sich Interimsarrangements finden oder die internationale Gemeinschaft könnte sie erzwingen. 

Aber ich bin mir nicht sicher, ob solche Arrangements die eigentliche Frage angehen würden. Im Kern geht es um eine israelisch-palästinensische Angelegenheit, denn wirklicher Frieden kann nur erreicht werden, wenn jede Seite bereit ist, die andere voll zu akzeptieren, anzuerkennen und zu respektieren. Davon sind wir derzeit weit entfernt.  

Haben Sie noch Kontakt zu Israelis? 

Nusseibeh: Ich lebe schon seit längerer Zeit sehr zurückgezogen, mit wenigen Kontakten – akademische ausgenommen – zu Freunden, ob israelisch oder palästinensisch. Ich erlaube mir nicht, mich von der Wut, die wir auf beiden Seiten spüren, überwältigen zu lassen und meine Haltung gegenüber Israelis als Individuen hat sich nicht verändert. Ich versuche, meinen Verstand unter Kontrolle zu behalten, um über die aktuellen Geschehnisse hinaus zu blicken.  

 

Protestierende vor der Residenz von Premier Netanjahu in Jerusalem
"Wäre ich ein Israeli, würde ich sicher mit anderen Israelis auf die Straße gehen und seinen Rücktritt verlangen", sagt Sari Nusseibeh. Protestierende vor der Residenz von Premier Netanjahu in Jerusalem (Foto: Debbie Hill/UPI/newscom/picture-alliance)

"Menschen sehen nur ihren eigenen Zorn"

Aber was würden Sie einem Israeli antworten, der sagt, das mag ja alles stimmen, die palästinensische Entrechtung seit 1948, das Problem mit der Besatzung, aber nichts rechtfertigt den Terror der Hamas?  

Nusseibeh:  Außer dem Terror Israels.  

Was soll das heißen? Dass Israel das palästinensische Volk terrorisiert? 

Nusseibeh: Ja, denn was die Israelis vergessen, ist, unter welchem Terror die Palästinenser in all diesen Jahren leben mussten. Der erwähnte Zorn auf beiden Seiten gehört zu diesem Kontext. Denn Menschen tendieren dazu, nur ihre eigene Seite, ihren eigenen Zorn zu sehen und sich selbst als moralische Wesen zu betrachten. So wie sich jetzt Israelis in ihrem Glauben, dass Frieden mit uns möglich ist, betrogen fühlen, gibt es auch viele Palästinenser, die das Gleiche über Israel empfinden.  

Das ist nicht nur ein Resultat dessen, was gerade in Gaza passiert. Viele Palästinenser empfinden das, weil sie nach und nach erkannt haben, dass "Oslo“ (Kurzbegriff für die Osloer Friedensabkommen, Anm. der Red.) und ein Ende der Besatzung eine Illusion waren. Ich spreche von "Terrorismus“ (von Seiten Israels, Anm. der Red.), weil die Palästinenser seit Beginn der Besatzung unter konstanter Bedrohung und unter der Anwendung von Gewalt leben. Im gegenwärtigen Zustand der Wut ist es für die eine wie für die andere Seite unmöglich, über diese Wut hinauszuschauen.  

In den Tagen nach "7/10“ konnte man allerdings auch Stimmen von Palästinensern hören, die ihre Scham über das mörderische Vorgehen der Hamas ausdrückten, über das Töten von Kindern, Frauen und Alten. Die sagten, das ist kein Befreiungskampf.  

Nusseibeh: Kein menschliches Wesen kann nicht beschämt über ein Massaker an anderen Menschen sein. Leider gibt es keinen Krieg, auch keinen sogenannten Befreiungskrieg – soweit ich weiß – ohne Verlust an Menschenleben. Vielleicht sollten wir uns daran erinnern, dass auch die Gründung Israels mit Gewalt einherging und einen hohen Preis an Leben und Heimat von Palästinensern forderte. Dennoch müssen wir Genozide und Massaker als Handlungen jenseits aller Humanität betrachten. Wenn sie geschehen, sollten sie auf Schärfste verurteilt werden. Massaker lassen sich nicht unterscheiden in verabscheuungswürdige und moralisch gerechtfertigte Massaker.  

 

Das Blutvergießen geht derweil weiter, derzeit vor allem in Gaza. Wie kommt man aus dem Strudel der Gewalt wieder raus? 

Nusseibeh: Ich bin weder ein Fan von Krieg noch von Gewalt. In der Vergangenheit gab es Gelegenheiten für Friedensabkommen durch Verhandlungen. Jetzt ist das unwahrscheinlich. Nötig ist es dennoch, an die Wurzeln dieses Konflikts zu gehen. 

Es ist nötig, beide Seiten dazu zu bringen, einander vertrauen zu können. Das wird dauern. Wenn die eine oder die andere Seite weiterhin glaubt, Gewalt sei die Antwort, wird sich Gewalt als Antwort fortsetzen. Allerdings wird das nicht unbedingt zum Vorteil der Seite sein, die Gewalt predigt und praktiziert.  

Nach dem Ende der Zweiten Intifada mit Selbstmordattentaten und militärischen Offensiven gab es zumindest Anläufe für ein Neustart des Friedensprozesses. Das grauenhafte Vorgehen der Hamas, das an IS-Methoden erinnert, wird noch über Generationen hinweg nachwirken. Mit ihr kann es keinerlei Annäherung geben.  

Nusseibeh: Ja, stimmt, das war keine Intifada, sondern ein von langer Hand geplanter Kriegsakt – laut Hamas-Sprechern wurde seit zwei Jahren vorbereitet. Dennoch bezweifle ich, dass die Massaker an der Zivilbevölkerung von der Hamas geplant waren. Nach Angaben ihrer Sprecher hatte der Angriff zwei Ziele: Die Hamas wollte eine Botschaft an Israel senden, keine weiteren Übergriffe auf dem Haram al-Scharif (dem Gelände der Al Aksa-Moschee, Anm. der Red.) zu begehen sowie den Austausch palästinensischer Gefangener erreichen. Zu diesem Zweck wollte die Hamas möglichst viele israelische Geiseln nehmen. Nichtsdestotrotz wurden zahlreiche Zivilisten getötet. 

Beides, sowohl das unmäßige Blutvergießen als auch der Zusammenbruch von Israels Image als sicherem Hafen für Juden, wird zweifellos die israelische Psyche auf Jahre hinaus prägen. War der Hamas klar, wozu ihr Angriff führen würde? Ich bezweifle es, denn das Ausmaß des Schocks für Israel war viel zu groß gemessen an den beiden Zielen der Hamas. Der Schock erklärt natürlich – aber rechtfertigt nicht – Israels eigene unverhältnismäßige Reaktion. Israel beweist jetzt seine Hybris in Gaza, aber auch in Ost-Jerusalem und dem Rest der Westbank auf völlig überzogene Weise. Das Resultat? Die israelische Wut erzeugt nur noch mehr Wut.  

US-Außenminister Blinken mit Palästinenserpräsident Mahmud Abbas in Ramallah.
Längst diskreditiert: Die Palästinensische Autonomiebehörde in Ramallah und Palästinenserpräsident Mahmud Abbas. Auf dem Foto Abbas mit US-Außenminister Anthony Blinken in Ramallah (Foto: PPO/AFP)

Was kommt nach der Hamas?

Wer wird Gaza regieren, falls die Hamas tatsächlich geschlagen wird?  

Nusseibeh: Alle meine Gedanken kreisen um den Tag danach, aber nicht nur um den Tag, sondern um die Wochen, Monate und Jahre danach. Denn dieser Konflikt muss an der Wurzel gelöst werden. Es wird dauern. Man geht davon aus, dass Israels Armee fähig ist, die Hamas zu zerschlagen. Das ist möglich, aber ich bin nicht so sicher, ob es gelingen wird. Womöglich werden wir auf lange Zeit in einer schrecklichen Lage feststecken, mit einem Auf und Ab an Gewalt. 

Sehen Sie die Chance, dass sich eine neue palästinensische Führung herausbildet, jenseits von Hamas und dem alten PLO-Club um Mahmud Abbas? 

Nusseibeh: Da habe ich meine Zweifel. Ich unterstütze Hamas in keiner Art und Weise. Aber hätten wir heute Wahlen, würden viele, ob Jung oder Alt, für die Hamas stimmen.  

Hat die Hamas noch die Unterstützung der Mehrheit in den palästinensischen Gebieten? 

Nusseibeh: Bei den letzten Wahlen im Jahr 2006 hat Hamas und nicht die Fatah die Wahlen gewonnen. Danach gab es eine Art Coup, um die Hamas aus der Regierung in der Westbank zu drängen und durch “die Guten” aus der Palästinensischen Autonomiebehörde zu ersetzen, obwohl diese in den letzten 15 Jahren nichts erreicht hatte. Weder konnte sie beim Friedensprozess irgendetwas vorweisen noch bei der Regierungsführung. Aus dieser Perspektive verfügt die Hamas in den Augen vieler Palästinenser einfach über mehr Legitimität. Außerdem haben sie sich als legitime Vertreter des palästinensischen Widerstands inszeniert. In den Augen der Palästinenser hat die Hamas eine Führungsrolle inne. 

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Chance für einen Neustart?

Gibt es denn die Chance, dass eine neue palästinensische Führung jenseits der Hamas und jenseits des alten PLO-Clubs entsteht? Also eine Art Neustart mit Unterstützung der Mehrheit? 

Nusseibeh: Ich bezweifle es. Wenn es Wahlen gäbe, würde die Hamas wohl gewinnen. Nach meinem Dafürhalten macht es eigentlich nur Sinn, wenn Israel mit den Feinden spricht, die mehr Gewicht haben als Abbas. Das wird natürlich nicht passieren. Wenn der Staub sich legt, wird es vermutlich Versuche geben, Arrangements zu schaffen, erst für Gaza, aber auch für die Westbank. Hoffen wir, dass dadurch in fünf, sechs Jahren die jungen "good guys“ Palästinas aufblühen. Alles hängt davon ab, ob Israel uns als Volk mit Rechten respektiert.  

Auch in Israel gibt es eine Führungskrise. Was denken Sie als Palästinenser über Netanjahus Beitrag zu der jetzigen Eskalation?  

Nusseibeh: Wäre ich ein Israeli, würde ich sicher mit anderen Israelis auf die Straße gehen und seinen Rücktritt verlangen. Netanjahu hat Israel in Richtung eines faschistischen, rechten, teils klassisch kolonialistischen, rassistischen Landes gelenkt mit seinen Fantasien von einem "Großisrael“. Seine Mitstreiter sprechen über Dinge, die einer als "Palestincide“ beschrieben hat – was auf die Vernichtung eines ganzen Volkes hinausläuft. So etwas hat es vor Jahren nicht gegeben. Dennoch glaube ich, dass Israel sich wieder fangen und als normaler Staat in dieser Region existieren kann.  

Auch die israelischen Geheimdienste haben versagt. Einem Bericht der New York Times zufolge haben sie vor einem Jahr aufgehört, den Funkverkehr der Hamas zu überwachen, in der Annahme, Gaza eh unter Kontrolle zu haben.  

Nusseibeh: Ich habe mal den Spruch gehört: Macht ist wie eine Prostituierte, sie kommt und geht. Das Problem ist, Israel hat allein auf seine Macht vertraut. Nach meiner Meinung sollte es lieber darauf vertrauen, Brücken zu den Herzen des anderen hier lebenden Volkes, den Palästinensern, zu bauen.  

Es wurde oft gesagt, es werde schlechter, bevor es besser wird. Könnte 7/10 am Ende so ein Wendepunkt werden? Auch der Jom-Kippur-Krieg, das andere große israelische Trauma vor fünfzig Jahren, führte schließlich zu einem Friedensvertrag mit Ägypten.  

Nusseibeh: Wir sind heute in einer viel komplizierteren Lage, völlig verschieden von 1973. Die Israelis werden besetzte Gebiete nicht so leicht abtreten und akzeptieren, dass es in diesem Land einen Partner mit gleichen Rechten gibt.  

Das Interview führte Inge Günther. 

© Qantara.de 2023 

 Sari Nusseibeh, 74, war Philosophie-Professor in Jerusalem und ehemals Dekan der palästinensischen Al Quds-Universität. Er gilt als palästinensischer Vordenker für Frieden mit Israel. 2001 diente er kurzzeitig als PLO-Diplomat in Jerusalem. In seiner Autobiografie „Es war einmal ein Land“ (Suhrkamp) entwirft er seine Vision eines harmonischen Zusammenlebens zwischen Moslems, Juden und Christen.