Radikalisierung am Golf?

A sea of Palestinian flags held up by a crowd of people
Mehr als ein Streit um Land: Der Krieg im Gazastreifen verdeutlicht, welche Bedeutung der Nahost-Konflikt für die Menschen am Arabischen Golf hat. (Foto: BELAL KHALED/AFP)

Der Gaza-Krieg führt zu einer Radikalisierung in den Golfstaaten. Sie könnte die Bemühungen der Regime, Kritik zu unterdrücken und die Beziehungen zu Israel aufrechtzuerhalten, gefährden.

Kommentar von Mira Al-Hussain

In den vergangenen zehn Jahren haben die Regierungen der arabischen Golfstaaten alles getan, um die palästinensische Sache in den Hintergrund zu drängen und den Weg für eine Normalisierung der Beziehungen zu Israel freizumachen. Selbst aus Schulbüchern wurden alle religiösen oder politischen Bezüge zum Dauerkonflikt entfernt. 

Er wird in den Lehrmaterialien nur noch als ein Konflikt um Land zwischen Palästinensern und Israelis dargestellt. Doch wenn der Krieg im Gazastreifen eines zeigt, dann die anhaltende Bedeutung des Konflikts für die Menschen am Arabischen Golf. 

Mit der Normalisierung der Beziehungen zu Israel ging für die Golfstaaten ein schwieriges Jahrzehnt zu Ende. Die arabischen Aufstände stellten selbst für die eher unpolitischen Bürger der Golfstaaten eine Zäsur dar. Die Regime reagierten mit zahlreichen neuen Repressionen. In dieser Zeit wurden die öffentlichen Räume enger und die Grenzen der Meinungsfreiheit verschwammen zusehends.

Es entstand ein Klima der Angst und des Misstrauens. Die Vorstellung, dass ein Bürger der Golfstaaten aufgrund einer willkürlichen und vage formulierten Gesetzgebung zur Cyberkriminalität rückwirkend bestraft werden könnte, schürte weitere Ängste und verdrängte die Debatten aus der Öffentlichkeit

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Mithilfe israelischer Spionageprogramme überwacht

Das Bedürfnis der Regierungen in den Golfstaaten, die öffentliche Meinung vorherzusagen und zu kontrollieren, wurde zu einer Frage der nationalen Sicherheit und füllte die Kassen israelischer Internetfirmen. Die Regierungen nutzen israelische Spionageprogramme, um ihre Bürger zu überwachen und deren Aktivismus zu kriminalisieren – selbst so harmlose Forderungen wie diejenige saudischer Frauen, Auto fahren zu dürfen

Die Golfregierungen übernahmen von den israelischen Behörden auch die Verwaltungshaft, bei der Menschen wegen eines angeblichen Verdachts terroristischer Aktivitäten auf unbestimmte Zeit ins Gefängnis wandern. 

Diese Maßnahmen führten den Bürgern der Golfstaaten im eigenen Land vor Augen, wie repressiv die israelische Seite vorgeht. Das autoritäre Vorgehen der Regime mithilfe israelischer Überwachungsprogramme ließ den Palästinakonflikt weniger abstrakt und fern erscheinen und nährte neue Spannungen in den Gesellschaften der Region. 

Mehr Siedlergewalt nach den Abraham-Abkommen

Trotz dieser gemeinsamen Strategie der Repression verkauften die Golfstaaten ihre Annäherung an Israel beschönigend als Förderung von Frieden und interreligiöser Toleranz in der Region. Während die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) im März 2023 das "Abrahamic Family House” einweihten, das ein Zeichen für das friedliche Zusammenleben von Juden, Christen und Muslimen sein soll, gingen Siedler im besetzten Westjordanland gegen Palästinenser vor. 

Nach der Unterzeichnung der Abraham-Abkommen zwischen Israel und den VAE im September 2020 haben die Übergriffe von Siedlern auf Palästinenser sogar noch zugenommen. Dieser offensichtliche Widerspruch und das Schweigen der Regierungen am Golf angesichts der Siedler-Übergriffe sind den Bürgern der Golfstaaten nicht entgangen und haben die zarten Friedenshoffnungen zunichte gemacht. 

Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu beruft sich auf biblische Gewalterzählungen, um seinen Krieg im Gazastreifen zu legitimieren, ohne dafür von den führenden Politikern der Welt verurteilt zu werden. 

Vor diesem Hintergrund könnten sich arabische Bürger in der Golfregion fragen, warum sie dem Beispiel ihrer Regierungen folgen und ihre Sprache säkularisieren sollten. Jüngste Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der Bevölkerung den Kampf der Hamas unterstützt und dass ihnen Religion wichtig ist. Eine Tatsache, die die Regime am Golf verdrängen. 

Saudi Foreign Minister Faisal bin Farhan
"Wir stimmen zu, dass Frieden in der Region auch Frieden für Israel bedeuten muss, aber dieser kann nur durch einen Frieden für die Palästinenser in Form eines palästinensischen Staates möglich werden“, sagte der saudische Außenminister Prinz Faisal bin Farhan bei einer Podiumsdiskussion auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos. (Foto: picture-alliance)

Von Hamas-Videos hypnotisiert

Was die Regierungen der Golfstaaten berücksichtigen sollten, ist welche Anziehungskraft der palästinensische Widerstand auf die Massen hat. Sie basiert auch darauf, dass die Hamas eine den Menschen vertraute, religiöse Sprache verwendet. 

Das Publikum am Golf besteht aus einer jungen Generation von Videospielern, die auch zur ersten Generation gehört, die sich der obligatorischen Wehrpflicht unterwerfen mussten. Angespornt durch einen staatlichen Diskurs über Männlichkeit und militärische Fähigkeiten sind die jungen Bürger am Golf wie hypnotisiert von den Videos, in denen sich Hamas-Kämpfer heftige Gefechte mit den israelischen Streitkräften liefern. 

Die Tatsache, dass die Hamas trotz der vielen Toten im Gazastreifen einen Geiselaustausch aushandeln konnte, hat sie den Augen der besorgten arabischen Bürger am Golf nochmal enorm aufgewertet. 

Da der Gazakrieg in den kommenden Monaten wohl noch andauern dürfte, besteht die Gefahr, dass die bestehende Normalisierung oder aber im Fall Saudi-Arabiens der Aufbau neuer Beziehungen zu Israel angesichts der großen innenpolitischen Ablehnung in den Golfstaaten zum Kipppunkt wird. Angesichts eines möglichen Wiederaufflammens einer religiös motivierten Radikalisierung in der gesamten Region müssen die Golfregierungen aufhören, einseitig auf Repression und ein Sicherheitsparadigma zu setzen, um ihr Überleben zu sichern. 

Nach Ansicht des kuwaitischen Politikwissenschaftlers Talal Alkhader ist dies ein günstiger Zeitpunkt für eine Versöhnung zwischen Staat und Gesellschaft in der Golfregion. 

Mira Al-Hussain 

Aus dem Englischen übersetzt von Gaby Lammers

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Mira Al Hussein ist Soziologin und forscht über Staat und Gesellschaft in der Golfregion. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Alwaleed bin Talal Centre der Universität Edinburgh.