Erdogan im Treibsand der Geopolitik

Turkish President Recep Tayyip Erdogan gesticulates during a speech to parliament
Der türkische Präsident Erdoğan umwirbt seine Wähler. Doch auch geopolitische Kräfte bestimmen das Spiel. (Foto: Adem ALTAN / AFP)

Zunächst verfolgte die Türkei eine ausgewogene Politik und wollte zwischen der Hamas und Israel vermitteln. Doch angesichts der anhaltenden israelischen Angriffe auf den Gazastreifen fährt Erdoğan nun einen härteren Kurs. Ankara steht vor schwierigen Entscheidungen.

Von Ayşe Karabat

Als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan am 25. Oktober erklärte, die Hamas sei keine Terrororganisation, sondern eine Gruppe, die "für den Schutz ihres Landes und ihrer Bürger kämpft“, war kaum jemand überrascht.

Doch einige waren enttäuscht. Vor allem jene, die geglaubt hatten, Ankara werde an seiner ursprünglichen Haltung festhalten, nämlich neutral, konstruktiv und zurückhaltend zu bleiben.

Am 7. Oktober, nach dem beispiellosen Terrorangriff der Hamas auf Israel, hat das türkische Außenministerium erklärt, dass es "den Tod von Zivilisten auf das Schärfste verurteilt“. Gleichzeitig rief es beide Seiten zur Zurückhaltung auf und kündigte seine Bereitschaft an, zur Entspannung der Lage beizutragen.

Unmittelbar nach dem Angriff hatte die Türkei gehofft, eine entscheidende Rolle bei der Befreiung der Geiseln spielen zu können. Der türkische Außenminister Hakan Fidan betrieb bei der Suche nach einer Lösung eine Art Pendeldiplomatie und hoffte, sich dabei auf die besonderen Beziehungen Ankaras zur Hamas stützen zu können.

Woman grieves following the strike on the Ahli Arab Hospital in the Gaza Strip
Während sich die Lage im Gazastreifen verschärft und viele Opfer unter der palästinensischen Zivilbevölkerung fordert, hat sich der Diskurs in Ankara verschoben, insbesondere nach der Explosion am Al-Ahli-Krankenhaus am 17. Oktober. (image: AFP)

Die Außenpolitik neu justiert

Im aktuellen Konflikt versucht Erdoğan, sich als globale Führungspersönlichkeit zu profilieren. Dazu knüpft er an die internationale Rolle an, die er bereits im Krieg Russlands gegen die Ukraine und beim Getreideabkommen gespielt hat.

Der Ausbruch des jüngsten Konflikts im Nahen Osten fiel allerdings genau in die Zeit der Neuausrichtung der türkischen Außenpolitik. Getrieben von der Notwendigkeit, ausländische Direktinvestitionen ins Land zu holen und die angeschlagene Wirtschaft zu stützen, versuchte die Türkei, die beschädigten Beziehungen zu Israel und den westlichen Mächten sowie zu den Vereinigten Arabischen Emiraten, Saudi-Arabien und Ägypten zu reparieren.

"Die gemäßigte und konstruktive Atmosphäre oder das Image, das die türkische Regierung in den letzten Jahren in ihrer Außenpolitik zu unterstreichen versuchte, scheint sich auch in dieser Krise widerzuspiegeln“, schrieb der ehemalige Botschafter Omer Onhon in seiner Kolumne auf dem unabhängigen türkischen Nachrichtenportal T24 am Tag nach den Terroranschlägen der Hamas.

Onhon fügte hinzu, dass sich die bisherige Zurückhaltung ändern könne, je nachdem, wie Israel auf die Anwesenheit von Hamas-Führern in der Türkei reagiere und wie sich die Zahl der zivilen Opfer im Gazastreifen entwickle.

Später wurde berichtet, Ankara habe Ismail Haniyya, einen der politischen Führer der Hamas, und seine Begleiter "höflich gebeten“, die Türkei zu verlassen. Zuvor waren in den sozialen Medien Bilder von Haniyya aufgetaucht, wie er ein Dankgebet sprach, während er den Anschlag vom 7. Oktober im Fernsehen verfolgte – angeblich in Istanbul.

Der Diskurs verschiebt sich

Während sich die Lage im Gazastreifen verschärft und viele Opfer unter der palästinensischen Zivilbevölkerung fordert, hat sich der Diskurs in Ankara verschoben, insbesondere nach der Explosion am Al-Ahli-Krankenhaus am 17. Oktober.

Das Vermittlungsangebot der Türkei wurde nicht überall mit Begeisterung aufgenommen. US-Außenminister Antony Blinken besuchte die wichtigsten Staaten der Region – Israel, Ägypten, Jordanien, Saudi-Arabien, Bahrain, die Vereinigten Arabischen Emirate und Katar –, ließ aber die Türkei aus. Parallel zu den geopolitischen Umwälzungen ist in der türkischen Öffentlichkeit eine zunehmende anti-israelische Stimmung zu beobachten.

In einer Fraktionssitzung der AKP am 25. Oktober verteidigte Erdoğan die Hamas und warf Israel vor, den Gazastreifen brutal anzugreifen und "nicht wie ein Staat“, sondern wie eine "Organisation“ zu handeln – die übliche türkische Bezeichnung für Terrorgruppen.

Er kritisierte auch die starke Unterstützung Israels durch westliche Länder und deren Doppelmoral, da sie die zivilen Opfer der israelischen Angriffe im Gazastreifen nicht genauso verurteilten wie die zivilen Opfer des russischen Krieges gegen die Ukraine. "Es ist heuchlerisch, dass diejenigen, die gestern die Welt wegen der Opfer des Krieges in der Ukraine in Brand gesetzt haben, gegenüber diesem offensichtlichen Massaker in Gaza blind sind“, sagte er.

Scharfe Worte nach grünem Licht für Schwedens NATO-Beitritt

Einen Tag zuvor hatte Erdoğan das Beitrittsprotokoll für die Aufnahme Schwedens in die NATO unterzeichnet und an das türkische Parlament weitergeleitet. Die Unterzeichnung des Protokolls ist ein deutliches Zeichen für Erdoğans Bemühungen um gute Beziehungen zum Westen und zur NATO.

Nach Ansicht von Ahmet Kasim Han von der Kadir Has Universität in Istanbul richtete Erdoğan seine anschließende Rede eher an die heimische Bevölkerung als an ein internationales Publikum. "Er weiß, dass er auf der internationalen Bühne damit durchkommt. Für ihn ist es wichtiger, seine Wählerschaft zusammenzuhalten“, sagte Kasim Han gegenüber Qantara.de.

Auch der Journalist Fehim Taştekin meinte, Erdoğan habe erst das Beitrittsprotokoll unterzeichnet und dann dem Westen und Israel quasi gesagt: "Es tut mir leid, ich muss jetzt etwas Radau machen“.

"Der Westen ist an Erdoğans Krawallstrategie ebenso gewöhnt wie Israel. Israel ist nicht an Worten interessiert, sondern an Taten, die das Potenzial haben, die Situation in den palästinensischen Autonomiegebieten zu verändern. Die Beziehungen der Türkei zur Hamas sind sowohl für die USA als auch für Israel von Nutzen, denn auch zwischen Feinden braucht man einen Kommunikationskanal“, sagte Taştekin und verwies darauf, dass die Türkei ihren Botschafter noch nicht aus Tel Aviv abberufen habe.

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Während in der Türkei im März nächsten Jahres Kommunalwahlen anstehen und die politischen Parteien neue Wahlbündnisse schmieden, versucht man dort, mit der Gaza-Politik öffentliche Unterstützung zu gewinnen. Die Mehrheit der Türken missbilligt das israelische Vorgehen im Gazastreifen.

Devlet Bahçeli, Vorsitzender der „Partei der Nationalistischen Bewegung“ (MHP) und Koalitionspartner in der Regierung Erdoğan, forderte am 21. Oktober in einer Erklärung in den sozialen Medien sogar eine militärische Intervention der Türkei im Gazastreifen. Einige Oppositionsparteien unterstützten seine Forderung.

Doch trotz der weit verbreiteten anti-israelischen Stimmung in der türkischen Öffentlichkeit und der starken Sympathie für die Palästinenser haben die Menschen historisch gesehen unterschiedliche Ansichten zum aktuellen Konflikt.

Mehrheit distanziert sich von Hamas

Während sich die Lage im Gazastreifen verschärft und viele Opfer unter der palästinensischen Zivilbevölkerung fordert, hat sich der Diskurs in Ankara verschoben, insbesondere nach der Explosion am Al-Ahli-Krankenhaus am 17. Oktober.

Das Vermittlungsangebot der Türkei wurde nicht überall mit Begeisterung aufgenommen. US-Außenminister Antony Blinken besuchte die wichtigsten Staaten der Region – Israel, Ägypten, Jordanien, Saudi-Arabien, Bahrain, die Vereinigten Arabischen Emirate und Katar –, ließ aber die Türkei aus. Parallel zu den geopolitischen Umwälzungen ist in der türkischen Öffentlichkeit eine zunehmende anti-israelische Stimmung zu beobachten.

In einer Fraktionssitzung der AKP am 25. Oktober verteidigte Erdoğan die Hamas und warf Israel vor, den Gazastreifen brutal anzugreifen und "nicht wie ein Staat“, sondern wie eine "Organisation“ zu handeln – die übliche türkische Bezeichnung für Terrorgruppen.


 

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Eine pro-palästinensische Kundgebung, die Präsident Erdogan einen Tag vor dem 100. Jahrestag der Türkischen Republik veranstaltete, stieß in Teilen der Bevölkerung auf Ablehnung. Die Kundgebung dränge dieses wichtige Ereignis im nationalen Kalender in den Hintergrund, so hieß es. Dies ist vor dem Hintergrund der anhaltenden Kritik an der Regierung zu sehen, die die langjährige Tradition der Feierlichkeiten zum Tag der Republik ändern will.

Schwierige Entscheidungen stehen bevor

Laut Nuray Babacan, Journalistin und erfahrene Beobachterin der türkischen Innenpolitik, haben die Äußerungen Erdoğans selbst bei einigen AKP-Abgeordneten für Aufregung gesorgt.

Sie verwies auf den Kursverlust der türkischen Lira gegenüber dem US-Dollar und die Turbulenzen am Aktienmarkt nach Erdoğans Äußerungen. Babacan fügte hinzu, dass Erdoğans Kommentare der Pendeldiplomatie der Türkei und der Anwerbung ausländischer Investitionen schaden könnten.

Sie sagte, die AKP-Abgeordneten seien auch besorgt über den möglichen Verlust der öffentlichen Unterstützung aufgrund der Haltung der Regierung gegenüber der Hamas.

Erdoğans Bemerkungen über die Hamas mögen in der Türkei und im Westen Stirnrunzeln hervorrufen. Nachdem Israel jedoch seine Bodenoffensive gegen den Gazastreifen gestartet hat, könnte sich die Situation für die Türkei wieder ändern. Die Regierung Erdoğan könnte zwischen den Forderungen ihrer Anhänger nach einer Intervention und dem Druck des Westens in die Zange genommen werden.

Ayse Karabat

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