Tradition im Kreuzfeuer

Auf dem Kongress "Horizonte islamischer Theologie" in Frankfurt trafen sich Wissenschaftler aus aller Welt zur Debatte über den Islam. Die Veranstaltung stand jedoch im Schatten des vom "Islamischen Staat" und von anderen extremistischen Organisationen ausgeübten Terrors. Von Claudia Mende

Von Claudia Mende

Islamische Theologie an deutschen Hochschulen, das ist ein Fach in den Kinderschuhen, gerade einmal vier Jahre alt. Seit 2010 wurden an fünf Standorten Lehrstühle für Islamisch-Theologische Studien etabliert. Mit dem internationalen Kongress "Horizonte islamischer Theologie" in Frankfurt hat sich dieses junge Fach nun Anfang September der Öffentlichkeit präsentiert. 175 Wissenschaftler aus Europa, den Vereinigten Staaten, der arabischen Welt, der Türkei und aus Südafrika stritten über neue Wege der Koranauslegung, über politische Theologie und feministische Ansätze, aber auch über Fragen der Bioethik und der Ausbildung von Religionslehrern.

Unter ihnen waren einige der zurzeit prominentesten Verfechter eines reformorientierten Islam wie der Iraner Abdolkarim Soroush oder der Befreiungstheologe Farid Esack aus Südafrika. Man wolle "das Spektrum, die Breite und die Relevanz einer islamischen Theologie als Wissenschaft dokumentieren", sagte Bekim Agai, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Kultur und Religion des Islam an der Goethe-Universität in Frankfurt.

Endlich sind Muslime in der akademischen Landschaft angekommen. Und dann ist das neue Forschungsgebiet schon wieder bedroht durch den "Zerfall seines Subjekts", wie es der Berner Islamwissenschafter Reinhard Schulze in seinem Eröffnungsvortrag formuliert hat. Die jüngsten Ereignisse im Nahen Osten und das brutale Vorgehen der Extremistenorganisation Islamischer Staat zeigten eine "Desintegration des Islam", die sich in erschreckendem Maße beschleunige. Die nahöstlichen Gesellschaften befänden sich in einem epochalen Umbruch. Der Raum eines traditionell gelebten Islam mit einem Konsens über gemeinsame Werte schrumpfe zusehends. An den Rändern entstehe auf der einen Seite eine reine Innerlichkeit, die fröhlich dem Konsumismus fröne, so zum Beispiel am Golf.

Auf der anderen Seite stünden die "ultraislamischen Gruppen" von Salafisten bis zum Islamischen Staat, die massiv Raum einforderten, ja diese Gesellschaften regelrecht überrollten. Wie kann die Theologie dem begegnen?

Verbannte Vordenker des Islam

Abdolkarim Soroush, iranischer Theologe und Regimekritiker; Foto: ISNA
Für zeitgemäße Islaminterpretationen: Abdolkarim Soroush, iranischer Theologe und Regimekritiker

Als der iranische Reformtheologe Abdelkarim Soroush die Vielfalt der Interpretationen und Auffassungen im Islam beschwor, klang das fast schon verzweifelt. Soroush, 1945 in Teheran geboren und einer der profiliertesten islamischen Denker unserer Zeit, versteht den Islam als eine "Serie von Interpretationen", eher vergleichbar mit einem Strom der Auffassungen als mit einem fest umrissenen Kernbestand an Glaubenswahrheiten.  Mit seiner Unterscheidung zwischen der Religion selbst und dem religiösen Wissen, das niemals die ganze Wahrheit erfassen kann, gilt er als wichtiger Kritiker eines politisierten Islam.

Aber das Beispiel Soroush zeigt auch, wie begrenzt der Einfluss islamischer Reformdenker in Iran und in der arabischen Welt derzeit ist. Seit dem Jahr 2000 lebt der Iraner nun schon im Exil. Er lehrte an Universitäten in den USA und in Deutschland. Über seine Kritik an der Monopolstellung der schiitischen Geistlichkeit wird im Iran heute kaum noch diskutiert, und in Europa fehlt ihm der Resonanzboden für seine Ideen.

Die kritische Auseinandersetzung mit der Tradition ist in vollem Gange und wird vom Scheitern des "Arabischen Frühlings" noch beschleunigt, aber sie geschieht hauptsächlich durch Muslime in der westlichen Welt, in Asien oder der Türkei. Umso interessanter war daher der Auftritt der Politologin Heba Raouf Ezzat von der Cairo University. Sie hat sich aus sozialwissenschaftlicher Perspektive dem Koran genähert und die schleichende Politisierung des Islam in den letzten hundert Jahren untersucht.  Aus dem ursprünglichen Lobpreis von Gottes Größe, Allahu Akbar, sei heute zumindest in Teilen ein Schlachtruf geworden. Andere theologische Begriffe aus dem Koran wie "tamkin", Ermächtigung, erhielten ebenfalls eine politische Konnotation.

Teilnehmer "Kongress 2014 - Horizonte der Islamischen Theologie"; Foto: Goethe Universität Frankfurt am Main
Die Deutungshoheit über den Islam müsse in Deutschland aus der Mitte der Gesellschaft heraus und an den Universitäten errungen werden, so eines der Fazite der rund 140 Wissenschaftler auf dem ersten internationalen Kongress islamischer Theologie in Deutschland.

Die Politologin, die auch an der renommierten London School of Economics lehrte, sieht das orientalische Unterlegenheitsgefühl seit der Kolonialzeit als eine wesentliche Ursache für diesen Paradigmenwechsel im Koranverständnis. Eine defensive Haltung habe zur Ablehnung philosophischer und sozialwissenschaftlicher Ansätze aus Europa geführt. "Von den sozialwissenschaftlichen Analysen aus dem Westen hätten wir enorm profitieren können", betonte Heba Raouf Ezzat. Stattdessen habe man "in die heiligen Schriften hineingelesen, was man sucht". Muslimische Wissenschafter müssten sich jetzt vermehrt gegen eine ideologische Lesart des Koran wehren und zurück zu seinem spirituellen Kern finden: der Beziehung des Menschen zu Gott.

Schmerz angesichts des Terrors

Auch bei den feministischen islamischen Theologinnen geht die Auseinandersetzung mit der Tradition in eine neue Phase; sie wird schärfer. Für die erste Generation islamischer Feministinnen ist der Koran grundsätzlich nicht patriarchal, wurde aber über Jahrhunderte von Männern interpretiert und daher einseitig gelesen. Der Versuch, auch frauenfeindlich klingende Verse in einer für Frauen akzeptablen Art und Weise zu lesen, hat Ikonen wie Amina Wadud und Asma Barlas inspiriert, beide lehren in den USA. Jüngere Theologinnen sehen die beiden Pionierinnen zunehmend kritisch. Jerusha Tanner Lamptey vom Union Theological Seminary in New York sprach am Kongress lieber von Muslima Theology denn von feministisch-islamischer Theologie.

Für Lamptey gibt es auch Koranverse, die sich beim besten Willen nicht im Sinne eines egalitären Geschlechterverhältnisses verstehen liessen – etwa Sure 4, 34, wo die Gehorsamspflicht der Frau gegenüber dem Ehemann festgeschrieben wird. Darauf überzeugende Antworten zu finden, wird die Aufgabe der jüngeren islamischen Feministinnen in den USA und Europa sein.

An den Rändern der muslimischen Welt ist es vielleicht auch leichter, zu den jüngsten Ereignissen um den Islamischen Staat Stellung zu beziehen. Einer der schärfsten Kritiker war in Frankfurt der Südafrikaner Farid Esack. Er drückte einen Schmerz aus, den viele Muslime in diesen Tagen empfinden: das tiefe Bedauern darüber, dass sich einige Texte im Koran als Rechtfertigung für die Barbarei einer Terrortruppe lesen lassen. Für die innerislamischen Debatten wird das noch folgenreich sein.

Claudia Mende

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