Die deutsche Antisemitismusdebatte hat eine Schlagseite

Der indische Kunstkritiker Ranjit Hoskote
Der indische Autor und Kunstkritiker Ranjit Hoskote trat nach Kritik an einer Unterschrift unter einer BDS-Petition von seiner Position in der Findungskommission für die internationale Kasseler Kunstausstellung Documenta zurück. (Foto: Vishal Bhatnagar/NurPhoto)

Wer gleichermaßen gegen Antisemitismus und gegen Rassismus ist, sieht sich dieser Tage vor eine schwierige Wahl gestellt, wie zahlreiche Fälle aus jüngster Zeit belegen. Wo muss man ansetzen, um das zu ändern?

Essay von Stefan Weidner

Kulturstaatsministerin Claudia Roth hat wiederholt gesagt, dass Antisemitismus und Rassismus gemeinsam bekämpft werden müssen, so etwa im Tagesspiegel vom 3. Juni 2023. So vernünftig das ist, so schwierig ist es, diese Vorgabe umzusetzen. Schon vor dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 zeichnete sich ein Konflikt zwischen beiden Anliegen ab. Seither liegt das Dilemma offen zutage.

Die in den Medien diskutierten Antisemitismusvorwürfe und Veranstaltungsabsagen betreffen zunehmend nicht-weiße Künstlerinnen und Intellektuelle, also People of Color. Es wird der Eindruck erweckt, sie trügen den Antisemitismus in unsere Gesellschaft; weshalb man sie besser ausschließt und zurechtweist. 

Der erste prominente Fall betraf den kamerunischen Intellektuellen Achille Mbembe, einen postkolonialen Theoretiker und Historiker. Er sollte die Ruhrtriennale mit einer Rede eröffnen. Felix Klein, Antisemitismusbeauftragter der Bundesregierung, protestierte dagegen, weil Mbembe Israels Politik mit der rassistischen südafrikanischen Apartheid gleichgesetzt habe, was "einem bekannten antisemitischen Muster“ folge, so Klein.  

Der Fall Mbembe liegt zwar drei Jahre zurück. Aber er hat die Koordinaten für die Debatten bis heute gesetzt. Welche Hautfarbe der Beschuldigte hatte, schien damals keine Rolle zu spielen. Rückblickend jedoch fällt es auf. Denn inzwischen ist aus dem Antisemitismus-Vorwurf gegen nicht-weiße Menschen ein Muster geworden, das sich wiederholt.   

Erfahrener Kurator mit dem Blick fürs Ganze: Bonaventura Ndikungg
Bonaventure Ndikung, seit 2003 Leiter des Hauses der Kulturen der Welt in Berlin, wurde der Inhalt von Facebook-Posts zum Gaza-Krieg von 2014 zum Verhängnis; oder jedenfalls beinah. Trotz lautstarker Kritik verzichtete die Politik damals darauf, ihn sogleich wieder abzusetzen. Aber Ndikung ist gewarnt. Über den aktuellen Konflikt in Nahost hört man aus dem Haus der Kulturen der Welt auffällig wenig. (Foto: Sonsbeek)

Zufall oder Rassismus?

Ähnlich erging es 2022 dem ebenfalls aus Kamerun stammenden Bonaventure Ndikung. Ihm wurde der Inhalt von Facebook-Posts zum Gaza-Krieg von 2014 zum Verhängnis; oder jedenfalls beinah!

Ndikung, der seit Jahrzehnten in Berlin lebt, war gerade zum neuen Leiter des Hauses der Kulturen der Welt berufen worden. Trotz lautstarker Kritik verzichtete die Politik damals darauf, ihn sogleich wieder abzusetzen. Aber Ndikung ist gewarnt. Über den aktuellen Konflikt in Nahost hört man aus dem Haus der Kulturen der Welt auffällig wenig. 

Sind nicht-weiße Akteure weniger prominent oder weniger vorsichtig als Ndikung, haben sie kaum Chancen, die Antisemitismusvorwürfe abzuwehren. Die Verleihung des LiBeratur-Preises an die palästinensische Autorin Adania Shibli, die auf der letzten Frankfurter Buchmesse hätte stattfinden sollen, wurde mitsamt ihrer Rede ohne Absprache mit der Autorin ausgesetzt, weil eine winzige Minderheit von Literaturkritikern meinte, in ihrem Roman antisemitische Klischees zu erkennen.  

Das war Mitte Oktober 2023. Jetzt, sechs Wochen später, wird die aus Ghana stammende, in Berlin lebende Autorin Sharon Dodua Otoo den ihr zuerkannten Peter-Weiss Preis der Stadt Bochum doch nicht bekommen. Nachdem ihre Unterschrift unter einer BDS-Petition aus dem Jahr 2015 zum Skandal aufgebauscht wurde, verzichtete sie von sich aus auf den Preis und leistete Abbitte. Die Feuilletons waren begeistert.

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Im Visier der Antisemitismusjäger

Bereits im Jahr 2019, als der pakistanisch-britischen Autorin Kamila Shamsie der Nelly-Sachs Preis der Stadt-Dortmund zuerkannt wurde, nahm man die Entscheidung wegen BDS-Vorwürfen kurz nach Bekanntgabe zurück. Bei Shamsie, wie im Fall von Otoo, wurde der Vorwurf durch eine für ihre anti-muslimische Haltung auffällige Webseite lanciert. Ausgerechnet drei nicht-weiße, nicht deutsche Frauen: Zufall oder Rassismus

Prominenter war der Fall des indischen Autors und Kunstkritikers Ranjit Hoskote, der in der Findungskommission für die internationale Kasseler Kunstausstellung Documenta saß. Nachdem ihm von der Süddeutschen Zeitung wiederum eine Unterschrift unter einer BDS-Petition vorgeworfen worden war (diesmal im indischen Kontext), wurde er von der Documenta-Leitung zur Klarstellung aufgefordert. Hoskote, einer der bedeutendsten indischen Intellektuellen, ließ sich nicht lange bitten und verkündete in einem fulminanten, lesenswerten Brief seinen Rücktritt aus der Kommission.

Die übrigen Kommissionsmitglieder traten daraufhin ebenfalls zurück. In Deutschland sei derzeit kein Raum für eine freie Entfaltung von Ideen, hieß es in ihrer erschütternden Erklärung. Der einst weltberühmten Kunstausstellung droht der Absturz in die Provinzialität. Die Idee, Deutschland einem kulturellen Boykott zu unterziehen, kursiert bereits.

Den neuen Rechten, die unser Land liebend gern provinzieller sähen, würde es zupass kommen. Es war die AfD, die die Bundestagsresolution zur Ächtung der Boykottbewegung BDS 2019 als erste Fraktion in die Wege leitete. Inzwischen sind die anderen Bundestagsparteien in dieser Frage auf Linie (außer der Linken).  

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Juden besonders betroffen

Auch und gerade jüdische Akteure sind von Absagen und Denunziationen zum Zweck der Antisemitismusbekämpfung betroffen. Dem Neuköllner Kulturzentrum Oyoun, einer Anlaufstelle der migrantisch-alternativen Szene, ist die weitere öffentliche Förderung versagt worden, weil es seine Räume der "Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost“  zur Verfügung gestellt hat. Das wertete der Berliner Kultursenator Joe Chialo als "versteckten Antisemitismus“. Die "Jüdische Stimme für gerechten Frieden“ hat es gewagt, den Zionismus abzulehnen.

Auch jüdische Persönlichkeiten sind in den letzten Wochen häufig als antisemitisch gebrandmarkt und gecancelt worden. Eine Ausstellung der jüdisch-südafrikanischen Künstlerin Candice Breitz im Saarlandmuseum ist "wegen kontroverser Stellungnahmen zum Gaza-Krieg“ abgesagt worden.

Die Bundeszentrale für Politische Bildung hat ein für Anfang Dezember geplantes Seminar zur Erinnerungskultur auf unbekannte Zeit verschoben. Opfer der Absage: Candice Breitz, der US-amerikanische Holocaustforscher Michael Rothberg und zahlreiche andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. 

Schließlich verdient der Pianist Igor Levit Erwähnung. "Sein Wirken geht weit über die Musik hinaus: Er erhebt seine Stimme gegen Rassismus, Antisemitismus und jede Art von Menschenhass“, hieß es in der Ankündigung seines Buchs "Hausmusik“ aus dem Jahr 2021.  

Am 19. November hat er seine Stimme gegen die in Berlin lebende amerikanisch-jüdische Autorin Deborah Feldman erhoben. Sie sei eine "old-school-Antisemitin aus Brooklyn“.  

Die jüdisch-südafrikanische Künstlerin Candide Breitz
Eine Ausstellung der jüdisch-südafrikanischen Künstlerin Candice Breitz im Saarlandmuseum ist "wegen kontroverser Stellungnahmen zum Gaza-Krieg“ abgesagt worden. (Foto: Matthias Reichelt/IMAGO)

Wie wir es besser machen

Während Frauen, Nicht-Weiße, Jüdinnen und Juden in dieser Debatte verstärkt aufs Korn genommen werden, war der letzte prominente weiße Mann, dem massiv Antisemitismus vorgeworfen wurde, Hubert Aiwanger. Das war vor dem 7. Oktober, und Aiwanger ist nicht gecancelt worden, im Gegenteil. Seine Partei Freie Wähler hat bei der letzten Landtagswahl mit 15,8 Prozent mehr Stimmen bekommen als je zuvor. 

Aiwanger ist zum zweiten Mal stellvertretender bayrischer Ministerpräsident geworden und spielt mit dem Gedanken, seine Partei auf Bundesebene antreten zu lassen. In der Hochphase des deutschen Kampfes gegen den Antisemitismus ist der letzte weiße, deutsche Mann, den diese Vorwürfe trafen, auf dem Höhepunkt seiner Karriere angekommen.  

Dass hier etwas schiefläuft, dürfte klar sein. Mit den bislang üblichen Formeln kann man Rassismus und Antisemitismus nicht gemeinsam bekämpfen. Statt darüber zu lamentieren, hier eine Idee, die auf Bonaventure Ndikung zurückgeht. Wie aufgezeigt, werden die meisten Antisemitismus-Vorwürfe mit einer "BDS-Nähe“ begründet. Die Idee lautet nun, zwar klar gegen einen Boykott Israels Stellung zu beziehen, auf den Boykott der Boykotteure oder "BDS-naher“ Personen aber zu verzichten.

Der Kreislauf wechselseitigen Boykotts muss durchbrochen werden. In diesem Zusammenhang ist auch die zuletzt vielgescholtene, aber pragmatische "Initiative GG 5.3 Weltoffenheit“ von Institutionen aus Kultur und Wissenschaft zu rehabilitieren. Sie lehnt den BDS ab, stellt sich jedoch ebenfalls gegen einen Boykott der Boykotteure.  

Gewiss: Das fordert der gegenwärtigen deutschen Politik und ihren Medien einiges an Selbstdisziplin ab. Mit dem Finger auf Andersaussehende und Andersdenkende zu zeigen, ist ein Mittel, um sich beliebt zu machen. Wenn die gemeinsame Bekämpfung von Antisemitismus und Rassismus keine leere Phrase sein soll, verzichtet man jedoch besser darauf. 

Stefan Weidner 

© Qantara.de 2023 

Stefan Weidner ist Autor und Islamwissenschaftler. Von ihm erschien zuletzt bei der Bundeszentrale für politische Bildung das Buch "Ground Zero. 9/11 und die Geburt der Gegenwart“.