Was heißt "Nie wieder“? 

Als Solidaritätsbekundung wurde die israelische Flagge auf das Brandenburger Tor projiziert.
Als Solidaritätsbekundung wurde die israelische Flagge auf das Brandenburger Tor projiziert. (Foto: Fabian Sommer/dpa/picture alliance)

Aufgrund der Geschichte steht Deutschland an Israels Seite. Aus dem gleichen Grund muss es Völker- und Menschenrechte verteidigen. Das ist jetzt ein Dilemma. Eine wertegeleitete Außenpolitik muss sich an die universalistische Lesart des "Nie wieder“ erinnern.    

Von Daniel Bax

Nie wieder – darüber war sich die Welt nach dem Zweiten Weltkrieg und dem deutschen Völkermord an den Juden Europas einig. Aber wofür genau steht dieses "Nie wieder“? Nie wieder Krieg und Völkermord? 

Das war das Motiv, das zur Gründung der Vereinten Nationen im Oktober 1945, zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 und zur Verabschiedung der ersten Genfer Flüchtlingskonvention 1951 führte. Oder sollte es vor allem bedeuten, dass Jüdinnen und Juden so etwas nie wieder zustoßen dürfe? Diese Überzeugung führte zur Staatsgründung Israels 1948 und prägt dessen Sicherheitsdoktrin bis heute. 

Diese beiden Vorstellungen müssen sich nicht widersprechen. Noch nie aber standen die unterschiedlichen Lesarten des "Nie wieder“ in einem so schroffen Widerspruch wie jetzt. 

Auf der einen Seite steht eine israelische Regierung, die nach dem schrecklichen Massaker der Hamas für sich "freie Hand“ beansprucht, um ihre Vorstellung von Sicherheit wiederherzustellen. Auf der anderen Seite stehen die Prinzipien des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte, die von Menschenrechtsorganisationen und Institutionen wie der UNO verteidigt werden. 

Zerstörte Gebäude nach israelischen Angriffen auf Ziele in Rafah im südlichen Gazastreifen (Aufnahme vom 11.11.2023
Zerstörte Gebäude nach israelischen Angriffen auf Ziele in Rafah im südlichen Gazastreifen (Aufnahme vom 11.11. 2023) (Foto: Said Khatib/AFP/Getty Images)

Angriffe auf Kirchen, Krankenhäuser und Moscheen

Im aktuellen Krieg in Gaza scheint die israelische Armee wenig rote Linien zu kennen, und israelische Amtsträger haben mehrfach deutlich gemacht, dass das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und der Schutz der Zivilbevölkerung nicht ihre höchste Priorität haben. Israels Präsident Isaac Herzog machte die gesamte Bevölkerung von Gaza für die Taten der Hamas verantwortlich. 

Premier Netanjahu stilisiert den Krieg in religiöser Sprache zu einem Kampf mit dem absolut Bösen, der keine Zwischentöne zulasse. "Der Fokus liegt auf Zerstörung, nicht auf Genauigkeit“, sagte der israelische Armeesprecher Daniel Hagari über die militärische Strategie seiner Streitkräfte. 

Solchen Worten folgen Taten. Israel stoppte die Zufuhr von Wasser, Strom, Treibstoff und Medikamenten – was alle Menschen trifft, die im Gazastreifen leben, nicht nur die Hamas. Ende Oktober bombardierte Israels Armee das dichtbesiedelte Flüchtlingslager Dschabalia im Norden des Gazastreifens.

Zur Begründung hieß es, ein Hamas-Führer wäre das Ziel gewesen. Mitte November stürmte es das Al-Shifa-Krankenhaus im Norden von Gaza und ließ es räumen, weil es darunter eine Kommandozentrale der Hamas vermutete. Israelische Bomben treffen Wohngebiete, Moscheen, Kirchen, Krankenhäuser und Schulen. Das lässt an Sinn und Zweck der Militärstrategie zweifeln.  

Rekordzahl an getöteten Kindern und Journalisten 

Israels Kriegsführung hat aber dramatische Folgen. Nach sieben Wochen Krieg ist die Zahl der Toten im Gazastreifen nach palästinensischen Angaben bereits auf die Rekordzahl von über 12.000 gestiegen, darunter mehr als 5.000 Kinder – mehr Kinder, als in den vergangenen vier Jahren in allen anderen Konfliktzonen der Welt zusammengerechnet umkamen, wie die Organisation Save the Children klagt. 

Aufgrund der Blockade warnte die Weltgesundheitsorganisation WHO Ende November zudem vor, dass sich Hunger und Krankheiten im Gazastreifen ausbreiten werden. 

Über 100 Mitarbeiter des UN-Hilfswerks für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) sind nach sechs Wochen Krieg ums Leben gekommen. So viele Tote aus ihren Reihen hatte die UN bisher noch in keinem Konflikt zu beklagen. Mitte November setzen Vereinten Nationen deshalb am Hauptquartier in New York ihre Fahnen auf halbmast. 

Außerdem wurden seit Beginn des Krieges bis Mitte November 48 Journalisten getötet, die meisten von ihnen durch israelische Luftangriffe – mehr als in jedem anderen Krieg der vergangenen 30 Jahre, wie das Committee to Protect Journalists in New York sagt. Die französische Organisation Reporter ohne Grenzen (RDF) hat sich deshalb an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gewandt.

Einige der getöteten Journalisten kamen mitsamt ihrer gesamten Familie um, darunter der palästinensische Reporter Mohammed Abu Hattab, der mit seinen Angehörigen nach israelischen Warnungen vor einem Einmarsch aus dem Norden geflohen war. Doch im Gazastreifen ist keine Gegend mehr sicher.  

Kinder drängeln sich um eine Essensausgabe bei Rafah im südlichen Gazastreifen.
Kinder drängeln sich um eine Essensausgabe bei Rafah im südlichen Gazastreifen. (Foto: AP Photo/Hatem Ali/picture alliance)

Die israelische Lesart von "Nie wieder"

Im Westjordanland gehen radikale Siedler im Schatten des Kriegs unterdessen immer brutaler gegen dort lebende Palästinenserinnen und Palästinenser vor. Rund 200 von ihnen wurden dort in den vergangenen Wochen getötet. Auf Tiktok machten Videos von israelischen Soldaten die Runde, die palästinensische Gefangene misshandeln und demütigen. 

Angesichts dieser Entwicklungen wirkt es naiv, wenn Bundeskanzler Olaf Scholz beim EU-Gipfel Ende Oktober in Brüssel behauptet, er habe keine Zweifel daran, dass die israelische Armee das Völkerrecht beachte.

Und es wirkt kurzsichtig, wenn sich Außenministerin Baerbock in der UN-Generalversammlung kurz zuvor zusammen mit den rechten Regierungen Großbritanniens und Italiens der Stimme enthält, statt mit zwei Dritteln aller Staaten, darunter den EU-Partnern Frankreich und Spanien, für eine "sofortige, nachhaltige und dauerhafte Waffenruhe“, ungehinderte humanitäre Hilfe für Gaza und die "Freilassung aller gefangenen Zivilisten“ zu stimmen. 

Am 16. November einige sich der UN-Sicherheitsrat erstmals auf die Forderung nach humanitären Feuerpausen im Gaza-Streifen, weil sich die Vetomächte USA und Großbritannien enthielten.  

Die deutsche Regierung macht sich wie kaum eine andere die israelische Lesart des "Nie wieder“ zu eigen. Aber damit macht sie es sich zu einfach. Natürlich hat Israel das Recht, sich gegen den brutalen Terrorangriff der Hamas zu verteidigen, dem über 1.200 seiner Bürgerinnen und Bürger auf schreckliche Weise zum Opfer fielen. Das heißt aber nicht, dass dies in der Form passieren muss, in der es nun geschieht, zumal es damit auch das Leben israelischer Geiseln gefährdet. 

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen.

Wertegeleitete Außenpolitik

Selbst US-Präsident Joe Biden warnte Israels Regierung davor, nicht die Fehler zu begehen, welche die USA nach dem 11. September gemacht hätten. Allein mit brachialer militärischer Gewalt lässt sich dieser Krieg nicht gewinnen. 

Die Bundesregierung sollte sich daher an die andere, die universalistische Bedeutung des "Nie wieder“ erinnern und auf dem Völkerrecht und der Achtung der Menschenrechte beharren. Sie sollte auf Menschenrechtsorganisationen hören und die internationalen Regeln verteidigen.

Und sie sollte dafür sorgen, dass der internationale Strafgerichtshof in den Haag mögliche Kriegsverbrechen verfolgt, die im Nahost-Konflikt von beiden Seiten begangen werden. Das könnte sich sowohl gegen israelische Politiker und Offiziere als auch gegen Mitglieder von Hamas und Islamischem Dschihad richten. Deutschland sollte solche Ermittlungen unterstützen. 

Dass es dies bisher unterlassen hat, trägt zu einer Kultur der Straffreiheit bei, die neue Kriegsverbrechen begünstigt und Israels Sicherheit letztlich schadet. Eine wertegeleitete Außenpolitik müsste anders aussehen. Ansonsten droht das schrankenlose Recht des Stärkeren weltweit noch weiter um sich zu greifen. 

Daniel Bax

© Qantara.de 2023