Unpolitische Jugend?

Nach jüngsten Meinungsumfragen ist das politische Engagement junger Menschen ein Jahrzehnt nach den arabischen Aufständen von 2011 und den darauf folgenden Protestbewegungen neu zu bewerten.
Nach jüngsten Meinungsumfragen ist das politische Engagement junger Menschen ein Jahrzehnt nach den arabischen Aufständen von 2011 und den darauf folgenden Protestbewegungen neu zu bewerten.

Jüngsten Meinungsumfragen zufolge engagieren sich junge Menschen im Nahen Osten und in Nordafrika ein Jahrzehnt nach den arabischen Aufständen zwar durchaus noch für ihre Gesellschaften, aber ihr Aktivismus ist unpolitisch geworden. Von Valerie Boutros 

Von Valerie Boutros

Umfragen von Arab Barometer haben in den letzten zehn Jahren immer wieder die öffentliche Meinung junger Menschen in den Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas erfragt. In den Umfragen hat die Jugend der Region dabei häufig ihre Sorge über die wirtschaftliche Situation in ihren Ländern, die Lage auf dem Arbeitsmarkt, die Qualität der Bildung sowie politische und bürgerliche Rechte zum Ausdruck gebracht. 

Obwohl das Wunsch nach Veränderung besteht und sich nach den arabischen Aufständen von 2011 Reformbewegungen entwickelt haben, scheint die Jugend in der arabischen Welt nicht in der Lage zu sein, einen echten politischen Wandel herbeizuführen. 

Junge Menschen, die sich im Nahen Osten und in Nordafrika während der zweiten Protestwelle in den Jahren 2018 und 2019 erneut an revolutionären Protesten beteiligt haben, scheinen heute nicht mehr politisch aktiv zu sein. Wenig überraschend ist daher bei jungen Menschen in der Region der Wunsch auszuwandern besonders stark ausgeprägt. Er steht für ein tiefes Gefühl von Resignation. 

"Unpolitischer Aktivismus“ 

Nach den arabischen Aufständen von 2011 haben Wissenschaftler bei der arabischen Jugend einen "unpolitischen Aktivismuskonstatiert. Mit diesem Begriff versuchten sie zu erklären, dass junge Menschen sich abseits der klassischen politischen Arena durchaus für Entwicklung und gemeinschaftliches Handeln in ihren Gesellschaften engagieren. 

Bosnien Herzegowina Migranten auf dem Weg nach Europa; Foto: Danilo Balducci/Sentesi/Photoshot/picture-alliance
Ein Migrant auf dem Weg nach Europa: Nach der Enttäuschung über den Arabischen Frühling wollen viele junge Menschen im Nahen Osten und in Nordafrika nur noch weg. Junge Menschen, die sich während der zweiten Protestwelle in den Jahren 2018 und 2019 erneut an revolutionären Protesten beteiligt haben, scheinen heute nicht mehr aktiv zu sein. Wenig überraschend ist bei ihnen der Wunsch nach Auswanderung besonders stark ausgeprägt. Er steht für das tiefe Gefühl der Resignation. 



Beispielsweise haben junge Menschen in Syrien humanitäre Hilfsmaßnahmen auf kommunaler Ebene organisiert und koordiniert. Im Libanon engagieren sich Freiwillige, um Städte zu verschönern. In Beirut setzten sich junge Leute für Müllentsorgung in benachteiligten Vierteln und für Landgewinnung ein. In Algerien engagieren sie sich für nachhaltigen Tourismus und führen in den Slums von Algier Programme zur Verbesserung der Lebensqualität der Bewohner durch. 

Diese Art des Aktivismus soll vor allem Menschen zugutekommen, die keine staatliche Unterstützung erhalten, zum Beispiel Menschen, deren Versorgung mit Lebensmitteln nicht gewährleistet ist. Ziel der Aktionen ist es, sinnvolle Veränderungen für normale Bürger zu erreichen, ohne dafür bei den Verantwortlichen systemische Reformen einzufordern. 

Junge Menschen, die sich an solchen Aktionen beteiligten, verstehen diese Art von sozialem und kulturellem Aktivismus als "unpolitisch". Sie wollen das eigene Handeln klar von Regierungspolitik und staatlichem Agieren abgrenzen. 

Auf diese Weise hoffen die jungen Aktivisten, sozioökonomische Klientelnetzwerke, die unerlässlich für das Navigieren in den staatlichen Bürokratien sind, umgehen zu können zum Wohl von gemeinschaftlichen, kommunalen Projekten, frei von formalen "politischen“ Zwängen. 

Politikverdrossenheit und der Wunsch nach Auswanderung 

Die zweite Aufstandswelle quer durch die Region im Jahr 2019 führte zum vorübergehenden Wiederaufleben klassischer Formen von politischem Aktivismus. Insbesondere im Zuge der COVID-Pandemie und ihren anhaltenden wirtschaftlichen Auswirkungen kam es dann jedoch verbreitet zu politischer Demobilisierung und Abwanderung aus der Region. 

Grafik zur Migration aus dem Nahen Osten; Quelle: Arab Baromter
Schon mal an Auswanderung gedacht? Das Thema beschäftigt die Menschen in den Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas, aber es denken jeweils mehr Männer als Frauen an Migration. Die Jugendstudie von Arab Barometer 2020 legt nahe, dass sich die Jugend im Nahen Osten und in Nordafrika sowohl von der formellen als auch von informellen Fomen von Politik abwendet. Dieses Ergebnis steht im Einklang mit einem breiteren regionalen Trend der Politikverdrossenheit und der Enttäuschung über die Ergebnisse des Arabischen Frühlings.



Die Jugendstudie von Arab Barometer 2020 legt nahe, dass sich die Jugend im Nahen Osten und in Nordafrika sowohl von der formellen als auch von informellen Fomen von Politik abwendet. Dieses Ergebnis steht im Einklang mit einem breiteren regionalen Trend der Politikverdrossenheit und der Enttäuschung über die Ergebnisse des Arabischen Frühlings. Angesichts der demografischen Gegebenheiten in der Region besteht Anlass zur Sorge, denn die Jugend macht 55 Prozent der Bevölkerung aus. 

Vielleicht noch besorgniserregender ist, dass sowohl in der fünften als auch in der sechsten und siebten Erhebungswelle von Arab Barometer der überwältigende Wunsch junger Menschen in der Region zum Ausdruck kommt, auswandern zu wollen, um bessere Perspektiven für ihr Leben zu finden. 

In allen Ländern, die an den jüngsten Umfragen teilgenommen haben, zeigten junge Menschen zwischen 18 und 29 Jahren einen um mindestens sechs Prozentpunkte höheren Wunsch auszuwandern als ältere Befragte. 

Mehr als die Hälfte der jungen Menschen mit Hochschulbildung will den Umfragen zufolge am liebsten den Nahen Osten ganz verlassen. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit eines regionalen "Brain Drain“ mit langfristig negativen Auswirkungen. 

Die Zukunft des Jugendaktivismus 

Trotz der jüngsten Ergebnisse von Arab Barometer über Auswanderung und Demobilisierung unter jungen Menschen stellt das Konzept des "unpolitischen Aktivismus“ weiterhin eine Begrifflichkeit dar, mit der sich das Engagement der Jugend in der Region gegenwärtig sinnvoll beschreiben lässt. 

Forscher führen die systemische sozioökonomische Ungleichheit, die Vereinnahmung von Reformagenden durch die politischen Eliten und die Übernahme politischer und sozialer Bewegungen durch konterrevolutionäre Kräfte als Faktoren an, die die Jugend in der Vergangenheit zu anderen Formen von Aktivismus getrieben haben. 

Mit anderen Worten: Die Ursachen, die zum Anstieg des "unpolitischen Aktivismus“ geführt haben, bestehen auch nach dem Wiederaufleben des politischen Protests während der zweiten Welle der arabischen Aufstände weiter. Aufgrund der Unfähigkeit, mit den politischen Institutionen in Kontakt zu treten und politische Reformen in Gang zu setzen, bleiben viele Fragen zur Zukunft der Jugend in der Region offen. Auch wenn Verbesserungen auf lokaler Ebene den Betroffenen unmittelbar helfen, können langfristige Lösungen nicht erreicht werden, solange bestehende Institutionen nicht politisch reformiert werden. 

Valerie Boutros 

© sada  / Carnegie Endowment for International Peace 2023 

Übersetzt aus dem Englischen von Karola Klatt

Valerie Boutros studierte Politikwissenschaft und Philosophie an der University of California, Irvine, und wurde für ihre Bachelorarbeit über die arabischen Aufstände ausgezeichnet. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die Region Naher Osten und Nordafrika, hier interessiert sie sich besonders für den Aktivismus der Jugend.