Marokkos jüdisches Erbe

Marokkos jüdisches Erbe: ein jüdischer Bürger in seinem Haus in Marrakesch.
Marokkos jüdisches Erbe: ein jüdischer Bürger in seinem Haus in Marrakesch.

Marokko will das Judentum als Bestandteil der nationalen Identität präsentieren: Das ist das Ziel des "Hauses der Erinnerung" in Essaouira. Zugleich hält das Thema Einzug in den Schulunterricht. Aus Essaouira informiert Abdessamad Jattioui

Von Abdessamad Jattioui

Es ist eine Premiere: Erstmals in der marokkanischen Geschichte widmet sich das Schulwesen des Landes dem Erbe und der Geschichte seiner jüdischen Bürger. Der Schritt erfolgte auf die Eröffnung des jüdischen "Hauses der Erinnerung" in Essaouira durch König Mohammed VI. Die Ausstellung findet Platz in den Räumen eines restaurierten jüdischen Tempels. "Das ist ein regelrechter Paradigmenwechsel", sagt die marokkanisch-jüdische Sängerin Susan Haroush, mitverantwortlich für die Konzeption der Einrichtung. "Dieses Haus bietet eine ganz neue Möglichkeit, etwas über die gemeinsame Geschichte der Marokkaner, Juden und Muslime zu erfahren."

Mit dem "Haus der Erinnerung" setzt Marokko einen seit langem gepflegten interreligiösen Kurs fort. Das Königreich war eines der ersten arabischen und muslimischen Länder, die sich an dem vor 20 Jahren von der UNESCO initiierten "Projekt Aladin" beteiligten. Diese zielt auf den Dialog der Religionen und Kulturen und tritt zugleich den antisemitischen Strömungen in der Region entgegen, die von extremistischen Gruppen verbreitet werden.

Im Jahr 2011 verabschiedete Marokko eine neue Verfassung. Mit dieser ist das Königreich das erste arabisch-muslimische Land, das die jüdische Kultur als grundlegendes Element seines multikulturellen Erbes und Fundament seiner gegenwärtigen Identität anerkennt.

Für ein multikulturelles Marokko (v.l.n.r.): André Azoulay, Berater von König Mohammed VI., Serge Berdugo, Präsident des Rates der jüdischen Gemeinden in Marokko und der ehemalige Präsident des Deutschen Bundestags, Norbert Lammert. (Foto: DW/M. Massad)
Für ein multikulturelles Marokko (v.l.n.r.): André Azoulay, Berater von König Mohammed VI., Serge Berdugo, Präsident des Rates der jüdischen Gemeinden in Marokko und der ehemalige Präsident des Deutschen Bundestags, Norbert Lammert. (Foto: DW/M. Massad)

"Ein bedeutsamer historischer Schritt"

Das Programm zur Präsentation des jüdischen Erbes startete zu Beginn des neuen Schuljahrs in Marokko. Erstmals wurden die Schüler mit Zeugnissen des jüdischen Lebens in Marokko vertraut gemacht, sehr zur Freude der jüdischen Gemeinde des Landes. Die Eröffnung des Hauses sei ein "bedeutsamer historischer Schritt", sagte Serge Berdugo, Vorsitzender der Gemeinde und ehemaliger Tourismusminister des Landes. "Die jüngeren Generationen haben das Recht, ihre Geschichte zu kennen." Zudem empfänden viele seiner Landsleute den tiefen Wunsch, die gelebte Geschichte Marokkos zu erzählen.

Die Aufnahme des jüdischen Erbes in den Schulunterricht dürfte die künftigen Generationen auf zweierlei Weise beeinflussen, erwarten Experten. Sie würde ein Bewusstsein für die multikulturelle Geschichte des Landes schaffen und damit zur Förderung von Toleranz beitragen. Zugleich würde sie auf diese Weise dem Antisemitismus sowie antijüdischen Stereotypen entgegenwirken.

Engagierter Einsatz für das jüdische Erbe

"Als jüdische Gemeinde sind wir sehr stolz auf dieses Haus", sagt die Sängerin Susan Haroush im DW-Interview. Auch aus dem Ausland kommende Juden seien von der Einrichtung angetan. Sie schätzten, wie sehr sich der König für das jüdische Erbe Marokkos einsetze.

Wie viele Juden genau derzeit in Marokko leben, ist nicht bekannt. Auf Grundlage von Statistiken kann man aber von rund dreitausend Personen ausgehen - eine verschwindend kleine Summe im Vergleich mit den rund 250.000, die noch in den 1940er Jahren, vor dem Massenexodus nach Israel, dort lebten. Die Juden stellten damals rund ein Zehntel der gesamten marokkanischen Bevölkerung.

 Vertraute Bande: israelisch-marokkanische Zeremonie in der Synagoge von Marrakesch. (Foto: FadeL/ Senna/ AFP/Getty Images)
Vertraute Bande: israelisch-marokkanische Zeremonie in der Synagoge von Marrakesch. (Foto: FadeL/ Senna/ AFP/Getty Images)

Historikern zufolge schützte Marokko die jüdischen Bürger während der französischen Kolonialzeit wie auch nach der Unabhängigkeit. Während des Zweiten Weltkriegs verweigerte sich König Mohammed V. der antisemitischen Politik des mit den Nazis kooperierenden Vichy-Regimes. "Es gibt keine Juden in Marokko", erklärte der König damals. "Es gibt nur Marokkaner, und die sind alle meine Untertanen."

In Anerkennung seiner Verdienste um den Schutz der Juden errichte Israel in der Stadt Ashkelon ein Denkmal zu Ehren Mohammed V. und nannte ihn einen "Freund des jüdischen Volkes".

"Teil unserer Erinnerung"

Infolge der arabisch-israelischen Kriege von 1948, 1967 und 1973 ging die Zahl der marokkanischen Juden zurück. In Israel hingegen stieg die Zahl der Juden mit marokkanischen Wurzeln. Derzeit wird sie auf rund sechshundert- bis neunhundert Tausend geschätzt. Entsprechend ist auch ihr politischer Einfluss gewachsen. Die in Marokko verbliebenen Juden haben erheblich dazu beigetragen, die marokkanisch-israelischen Beziehungen lebendig zu halten. Insbesondere über Wirtschaft und Tourismus sind beide Länder miteinander verbunden. Im Laufe des arabisch-israelischen Konflikts war Marokko oft als Vermittler aktiv.

Jährlich besuchen sehr viele marokkanische Juden Israel, um dort an Wallfahrten teilzunehmen. Marokko seinerseits hat über 500 jüdische Kultstätten, die sich überwiegend im Süden des Landes befinden. Zentren des jüdischen Lebens waren und sind unter anderem Essaouira, Casablanca, Rabat, Fez, Marrakesch und Meknes.

"Die Juden leben seit langem mit uns", sagt ein alter muslimischer Passant. "Wir haben miteinander gearbeitet, und es gab nie nennenswerten Streit. Sie waren im Handel und der Industrie tätig, wir Muslime in der Landwirtschaft und dem traditionellen Handwerk. Die Juden hier sind Teil unserer gemeinschaftlichen Erinnerung."

Abdessamad Jattioui

© Deutsche Welle 2021

Aus dem Arabischen übersetzt von Kersten Knipp