"Alles ist besser als Netanjahu“

Nimrod Flaschenberg during an "Israelis for Peace" protest in front of the German Foreign Ministry in Berlin
"Es ist ganz einfach. Wir erwarten, dass sich Deutschland gegen die Haltung der israelischen Regierung stellt. Deutschland hat sich den Menschenrechten, dem Völkerrecht und der Zwei-Staaten-Lösung verpflichtet. Also muss Deutschland auch entsprechend handeln, statt Israel vorbehaltlos zu unterstützen“, sagt Nimrod Flaschenberg. (Foto: Mohammed Magdy/Qantara.de)

Seit Ende Januar demonstriert der linke Aktivist Nimrod Flaschenberg zusammen mit anderen gleichgesinnten Israelis vor dem Auswärtigen Amt für einen Waffenstillstand und eine politische Lösung des Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern.

Interview von Mohammed Magdy

Nimrod Flaschenberg engagiert sich in der Chadasch-Partei (Demokratische Front für Frieden und Gleichberechtigung), einer Listenverbindung von sozialistischen Parteien in Israel. Drei Jahre lang beriet er die israelische Knesset-Abgeordnete Aida Touma-Suleiman. Derzeit studiert Flaschenberg Geschichte in Berlin und ist Gründungsmitglied der Initiative "Israelis for Peace". Im Interview mit Qantara.de spricht er über die Agenda der Gruppe, den andauernden Krieg in Gaza, die Forderungen an Deutschland und darüber, was die israelische Linke nach dem Ende des aktuellen Konflikts erwartet. 

Herr Flaschenberg, Sie waren vor kurzem in Tel Aviv. Wie war die Stimmung dort nach vier Monaten Krieg in Gaza? 

Nimrod Flaschenberg: Es ist merkwürdig, aber die Stimmung hat sich trotz des Krieges wieder normalisiert. Es herrscht viel weniger Angst als in den ersten ein, zwei Monaten nach dem Angriff der Hamas. Damals standen alle unter Schock. Man hörte im Grunde nur Säbelrasseln. 

Ich glaube nicht, dass die Mehrheit der Israelis das derzeitige Gemetzel unterstützt. Aber der rechte Flügel hat die Oberhand gewonnen. Das Gerede über die Unterstützung der Armee und des Krieges hat sich mit den hemmungslosen Angriffen im Gazastreifen vermischt. 

Viele Menschen unterstützen inzwischen alles, was die israelischen Streitkräfte tun, und verschließen die Augen vor den Zuständen im Gazastreifen. Die israelische Presse – mit Ausnahme kleinerer Zeitungen wie Haaretz und Local Call – berichtet nicht über das Leid der Menschen im Gazastreifen. 

Doch das scheint sich zu ändern. Eine kleine, aber wachsende Antikriegsbewegung entsteht. Immer mehr Menschen begreifen, dass es keine militärische Lösung gibt. Wir haben das schon immer gesagt. In Israel beginnen die Menschen zu verstehen. Vor allem die Liberalen. 

Ein Raum für israelische Gegner des Gaza-Kriegs

Wie ist die Bewegung "Israelis for Peace“ entstanden? 

Flaschenberg: Als der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu im vergangenen Jahr während der Proteste gegen seine Justizreformen Berlin besuchte, beschlossen einige linke israelische Aktivisten und ich, eine Initiative zu gründen, um linke, progressive israelische Stimmen in der deutschen Hauptstadt zu vertreten.  

In Berlin gibt es die wohl größte Gruppe linker Israelis und auch die größte palästinensische Community in Europa. Die Idee für eine solche Initiative gab es schon vor dem 7. Oktober. Dann begann der Krieg und wir waren alle schockiert. Dennoch sahen wir darin einen entscheidenden Wendepunkt. Innerhalb weniger Wochen kam der Ball ins Rollen. 

Mit unseren Demonstrationen vor dem Auswärtigen Amt fordern wir die deutsche Regierung auf, ihre Politik gegenüber Israel zu ändern. Wir erkannten auch, dass viele Israelis, die der 7. Oktober zutiefst erschüttert hatte, nicht an pro-palästinensischen Demonstrationen teilnehmen wollten. Deshalb wollten wir den Israelis einen Raum geben, die gegen den Krieg sind. 

Seit Ende Januar protestiert "Israelis for Peace“ vor dem Auswärtigen Amt gegen den Krieg im Gazastreifen. Was sind Ihre Forderungen? 

Flaschenberg: Im Wesentlichen fordern wir drei Dinge: einen sofortigen Waffenstillstand, die Freilassung der Geiseln und eine diplomatische Lösung für den Krieg im Gazastreifen und für die Palästinafrage.   

Unsere Forderung an Deutschland ist ganz einfach: Wir erwarten von Deutschland keine so umfassende Unterstützung, wie sie beispielsweise von Irland geleistet wird. Wir erwarten, dass sich Deutschland gegen die Haltung der israelischen Regierung stellt.

Deutschland hat sich den Menschenrechten, dem Völkerrecht und der Zwei-Staaten-Lösung verpflichtet. Entsprechend dieser Haltung muss Deutschland handeln, statt Israel vorbehaltlos zu unterstützen. Die Bundesaußenministerin hat sich kürzlich für einen Waffenstillstand ausgesprochen, aber sie meinte damit einen befristeten Waffenstillstand. Das ist nicht, was wir wollen.

Israelis for Peace protest in front of the German Foreign Ministry in Berlin
Deutscher Druck auf Israel: "Wenn Berlin seine Haltung ändern würde – und sei es nur geringfügig – und zum Beispiel signalisieren würde, dass es keine Waffen mehr liefert, solange die Operation im Gazastreifen läuft, könnte das ein wichtiger Impuls für Israel sein, die Operation zu beenden“, sagt Flaschenberg. (Foto: Mohammed Magdy/Qantara.de)

"Der Krieg zerstört die israelische Gesellschaft"

Was erwarten Sie von Deutschland in diesem Konflikt? 

Flaschenberg: Dass es Druck auf Israel ausübt. Deutschland unterstützt Israel mit Waffenlieferungen. Außerdem leistet Deutschland diplomatische Rückendeckung. Wenn Berlin seine Haltung ändern würde – und sei es nur geringfügig – und zum Beispiel signalisieren würde, dass es keine Waffen mehr liefert, solange die Operation läuft, könnte das ein wichtiger Anreiz für Israel sein, die Operation zu beenden. 

Natürlich kann man Deutschland nicht mit den USA oder Großbritannien vergleichen. Aber Deutschland ist einer der wichtigsten Verbündeten Israels, vielleicht sogar noch wichtiger als Großbritannien. Je nachdem, wie man es betrachtet. 

So wie die internationale Gemeinschaft Israel in den ersten Wochen den Rücken gestärkt hat, als alle Staats- und Regierungschefs der Welt nach Jerusalem gekommen sind und sich hinter Benjamin Netanjahu gestellt haben, so können sie das jetzt auch tun, um den Krieg zu beenden. 

Nicht nur, weil der Krieg schrecklich für die Palästinenser ist, sondern auch, weil er die israelische Gesellschaft zerstört und die zukünftige Sicherheit der Israelis bedroht. 

Deutsche Unterstützung für israelische Verbrechen

Wie reagieren deutsche Regierungsvertreter auf Ihre Forderungen? Haben Sie Ihre Forderungen auch mit deutschen Politikern diskutiert? 

Flaschenberg: Noch nicht. Wir wollten uns zunächst an die Öffentlichkeit wenden, um Unterstützung in der Bevölkerung zu gewinnen. Wir haben bereits Anfang Februar in Berlin eine große Veranstaltung für Israelis in hebräischer Sprache organisiert. 

Von den fast hundert Teilnehmenden konnten wir eine ganze Reihe als Unterstützer gewinnen. Wir wollen uns zunächst als relevante Gruppe etablieren und dann mit Amtsträgern und Politikern sprechen. 

Auch viele Deutsche, die irritiert sind über die pro-palästinensischen Proteste, haben sich unseren Demonstrationen angeschlossen. Liberale und linke Deutsche erkennen, dass ihr Staat die Verbrechen Israels mitträgt. Offensichtlich sehen diese Menschen in uns eine glaubwürdige Möglichkeit, ihre Ablehnung dieser Haltung zum Ausdruck zu bringen. 

Wie konnte es dazu kommen, dass nunmehr seit zwei Jahrzehnten rechtsstehende Parteien die politische Szene in Israel dominieren? 

Flaschenberg: Israel durchläuft seit vielen Jahren einen Prozess der Rechtsradikalisierung. Das gilt mehr oder weniger seit den Neunzigerjahren, spätestens aber seit 2009, als Netanjahu wieder an die Macht kam. 

Die Siedler haben an politischem Einfluss gewonnen. Mit dem Bündnis zwischen der Likud-Partei und der ultraorthodoxen Fraktion konnten sie eine neue fundamentalistisch-religiöse Mehrheit schaffen. 

Gleichzeitig hat die religiöse Rechte immer mehr Positionen in den israelischen Medien und in der staatlichen Verwaltung erobert. Sie sehen in den Palästinensern ihren größten Feind. 

Deshalb haben sie eine Realität genährt und geschaffen, in der das Westjordanland vom Gazastreifen getrennt ist. Dabei hilft ihnen, dass es keine einheitliche palästinensische Führung und keine Chance auf konstruktive Verhandlungen gibt.

Die letzten 20 Jahre haben deutlich gezeigt: Wir führen keine Verhandlungen, die diesen Namen verdienen. Auch die palästinensische Führung hat in dieser Zeit viele Fehler gemacht. 

Aber seitdem die Rechtsextremen an die Macht gekommen sind, kauft die israelische Öffentlichkeit das Narrativ der Regierung nicht mehr ab. Kaum waren sie an der Macht, trieben sie die umstrittene Justizreform voran. Der Mehrheit der Israelis wurde klar, dass sie eine solch extreme Führung nicht wollte. Deshalb sind die Umfragewerte der Regierung seit den Wahlen stark gesunken. 

Der Zionismus hat das jüdische Volk nicht beschützt

Was bedeutet das für die Friedensperspektiven im Nahen Osten? 

Flaschenberg: Der Rechten ist es gelungen, die Palästinafrage zu einem Nichtthema zu machen. Aber angesichts dessen, was seit dem 7. Oktober passiert ist, gibt es jetzt eine Chance auf Veränderung. Ich glaube, die Israelis haben begriffen, dass man die Palästinafrage nicht länger ignorieren kann und dass wir irgendwann unsere Haltung ändern und uns auf eine diplomatische Lösung zubewegen müssen. 

Gleichzeitig behaupten die rechtsgerichteten israelischen Minister Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir, dass die Idee einer vorsichtigen Annäherung an die Palästinenser gescheitert sei. 

Dies habe sich am 7. Oktober bewahrheitet und nun müssten wir viel aggressiver, viel gewaltsamer, viel energischer in unserem Krieg und in unseren militärischen Anstrengungen vorgehen. Das sehen wir jetzt an dem, was wir in Gaza erleben. Dennoch glaube ich, dass es immer noch den Wunsch gibt, diese Haltung zu ändern.

Der renommierte israelische Historiker Moshe Zimmermann sagte in einem Interview mit der Zeitung Haaretz, das Pogrom der Hamas sei der Beweis dafür, dass der Zionismus beim Schutz des jüdischen Volkes versagt habe. Stimmen Sie dem zu? 

Flaschenberg: Als erste Gerüchte über Antisemitismus aufkamen und meine Frau und ich von deutschen Verwandten angerufen wurden, die uns fragten, ob wir in Sicherheit seien, ob wir bedroht würden, habe ich geantwortet: "Warum um Himmels willen ruft ihr mich an? Hunderte von Israelis sind gerade in ihren Häusern getötet worden und ihr ruft mich an, um zu fragen, ob ich in Sicherheit bin?“.  

Es gibt derzeit keinen sicheren Ort für Israelis und Juden in Israel. So gesehen ist es wahr, dass der Zionismus beim Schutz der Israelis und Juden versagt hat. Aber die Beschäftigung mit den Problemen des Zionismus als Konzept lenkt von den relevanten politischen Fragen der Gegenwart ab. 

Ebenso wichtig ist es, über die Nakba zu sprechen, die die Israelis anerkennen müssen. Aber das ersetzt nicht die Diskussion über gegenwärtige und zukünftige Lösungen. Manchmal geht die Diskussion über den Zionismus in eine Richtung, die eher der israelischen Rechten nützt. 

Sprechen wir stattdessen über die Siedlungen und die anhaltende ethnische Säuberung im Westjordanland und nun auch im Gazastreifen sowie über die Pläne der Rechten, den Gazastreifen wieder zu besiedeln. Diese werden noch mehr Probleme schaffen. 

Wir sind davon überzeugt, dass nur eine Zusammenarbeit zwischen Palästinensern und Juden die Region voranbringen kann. Es gibt zwar noch gewisse Verbindungen zwischen der israelischen und der palästinensischen Linken, aber die haben natürlich unter dem Krieg gelitten. Und selbstverständlich gibt es zahlreiche Nichtregierungsorganisationen und Gruppen, in denen sowohl Palästinenser und Israelis zusammenarbeiten.  

Die ehemalige US-Außenministerin Hillary Clinton sagte vergangene Woche dem US-Nachrichtensender MSNBC, der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu sei "kein vertrauenswürdiger Führer und sollte gehen“. Auch viele westliche Politiker sehen in Netanjahu ein Hindernis für den Frieden im Nahen Osten. Wie sehen Sie das? 

Flaschenberg: Netanjahu und der rechte Flügel können nur an der Macht bleiben, wenn sie den Krieg verlängern. Ein Ende des Krieges würde auch ihr Ende bedeuten. Damit es Fortschritte geben kann, muss die Regierung ausgewechselt und die israelische extreme Rechte entmachtet werden. 

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Ich glaube auch, dass ein Frieden mit der Hamas aus vielen Gründen nicht möglich ist. Darüber gibt es in unserer Fraktion unterschiedliche Meinungen, aber das ist meine Meinung. Sowohl die Hamas als auch der Likud waren gegen den Oslo-Prozess und haben ihre politische Agenda auf der Ablehnung von Oslo aufgebaut.  
 
Ich sage nicht, dass wir zu Oslo zurückkehren sollten, aber wir müssen den rechten Flügel auf beiden Seiten entmachten. Und die Hamas gehört zum rechten Flügel der Palästinenser. Weder mit dem Likud noch mit der Hamas wird es Frieden geben. Aber mit anderen Repräsentanten könnte die Geschichte ganz anders aussehen. 

Wer wird der nächste Premierminister Israels? 

Flaschenberg: Benny Gantz, Mitglied des Kriegskabinetts, ist in meinen Augen der nächstliegende Kandidat, da seine Partei bei den Wahlen 38 Sitze gewonnen hat. Wenn es zu einer radikalen Wende kommt, könnte jemand wie Gadi Eisenkot, die Nummer zwei im israelischen Kriegskabinett, oder Yair Lapid an der Spitze der nächsten Regierung stehen. 

Sie verfolgen eine schreckliche Politik, vor allem Gantz, der ein Befürworter des Krieges ist. Aber wenigstens verfolgen sie nicht das politische Ziel, einen palästinensischen Staat zu verhindern. Sie spielen Politik. Ich glaube nicht, dass sie in den nächsten fünf Jahren einen unabhängigen palästinensischen Staat wollen, aber wenn sie an der Regierung sind, dann spielen sie wenigstens mit. 

Die Amerikaner, die Ägypter, die Saudis – sie alle haben die Chance, etwas zu bewegen. Auch die Palästinensische Autonomiebehörde wird wieder aufleben, weil sie einen Partner auf der anderen Seite hat, mit dem sie verhandeln kann. Ich mache mir zwar keine allzu großen Hoffnungen, aber alles ist eindeutig besser als Netanjahu. 

Interview: Mohammed Magdy 

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