Sieben unbequeme Erkenntnisse

Grafik: der Nahostkonflikt
"Der historische Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern um Land dient vielerorts als Projektionsfläche, Brandbeschleuniger oder Vorwand", schreibt Kristin Helberg. "Er lässt sich weder mit Sicherheitsmaßnahmen managen noch militärisch lösen." (Foto: DW)

Wer die aktuelle Krise im Nahen Osten verstehen will, muss sich der Realität vor Ort stellen. Diese entspricht allerdings nicht dem schematischen Bild, das viele hierzulande haben. Sieben unbequeme Erkenntnisse, die für Bemühungen um Deeskalation und für die Suche nach Lösungen grundlegend sind.

Von Kristin Helberg

Ohne einen Waffenstillstand in Gaza keine Entspannung in der Region. Der Krieg zwischen Israel und der Hamas betrifft sämtliche Staaten, ihre politischen Führungen und 400 Millionen Menschen im Nahen Osten direkt oder indirekt. 

Der militärische Schlagabtausch an der israelisch-libanesischen Grenze, der Beschuss von Handelsschiffen im Roten Meer, die Anschläge auf US-Truppen im Irak, in Syrien und Jordanien sowie darauffolgende amerikanische Vergeltungsaktionen, Israels Raketenangriffe in Syrien und gezielte Tötungen von hochrangigen Milizenführern – all das sind Nebenschauplätze, die Teile der Region destabilisieren. 

Zwar leiden die Menschen in Syrien und im Libanon, in Saudi-Arabien, Ägypten und im Iran in erster Linie an der Skrupellosigkeit und Unfähigkeit ihrer Machthaber, aber der historische Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern um Land dient vielerorts als Projektionsfläche, Brandbeschleuniger oder Vorwand. Er lässt sich weder mit Sicherheitsmaßnahmen managen noch militärisch lösen. 

Die Achse des Widerstands kann mehr als Terror. Ihre Mitglieder – die Hisbollah im Libanon, die Hamas in den palästinensischen Gebieten, die Huthis im Jemen, der Islamische Widerstand im Irak und vom Iran gesteuerte Milizen in Syrien – teilen mit ihrem Sponsor Iran eine Ideologie: die Feindschaft zu Israel und den USA. 

Damit rechtfertigen sie jedoch nicht nur den bewaffneten Kampf, sondern gewinnen in den jeweiligen Ländern auch an politischer Macht und gesellschaftlichem Einfluss. Sie sind an Regierungen beteiligt, kontrollieren Gebiete und profitieren von Ungerechtigkeit, Staatsversagen und lokalen Konflikten. Der Krieg in Gaza steigert ihre Popularität – im Inneren und in der Region. 

Laut einem US-amerikanischen Medienbericht sollen etwa 70 Prozent der Häuser und Wohnungen im Gazastreifen zerstört sein.
Laut einem US-amerikanischen Medienbericht sollen etwa 70 Prozent der Häuser und Wohnungen im Gazastreifen zerstört sein (Foto: Hatem Ali/AP Photo/picture alliance )

Hamas, Hisbollah und Co. sind eigene Akteure

Dabei sind Hisbollah, Hamas, Huthis und Co. keine Befehlsempfänger Teherans, sondern hybride Akteure mit eigenen Interessen. Sie als irrationale Terrorbanden im Dienste Irans zu betrachten, greift zu kurz. Zwar wären sie ohne die finanzielle und militärische Unterstützung der Islamischen Republik kaum handlungsfähig, aber nicht jede abgefeuerte Rakete, nicht jeder Drohnenangriff ist mit der Führung in Teheran abgesprochen.  

Auch in die Pläne für den 7. Oktober waren sie nicht eingeweiht. Operationelle Eigenständigkeit bei gleichzeitiger strategischer Koordination durch die iranischen Revolutionsgarden – diese Formel ermöglicht es den Machthabern in Teheran, den Druck auf den gemeinsamen Feind Israel und die USA zu erhöhen, ohne dafür Verantwortung zu übernehmen. 

Keiner will einen großen Krieg, aber einzelne Brandherde können trotzdem außer Kontrolle geraten. Eine direkte Konfrontation zwischen den USA und Israel auf der einen und Iran und seinen Verbündeten auf der anderen Seite hätte für alle immense Kosten und liegt deshalb in niemandes Interesse. Man poltert und droht, aber die militärischen Angriffe bleiben begrenzt. Sie sollen den Gegner abschrecken und zum Rückzug bewegen, gleichzeitig signalisieren sie der eigenen Klientel Entschlossenheit und Stärke. 

Doch Proxy-Kriege bergen das Risiko, ungewollt zu eskalieren, da Befehlsketten unklar sind und die Konfliktparteien nicht direkt kommunizieren. Um das zu verhindern, müssten die Beteiligten weniger schießen und mehr reden.  

US-Angriffe auf Huthis sind kontraproduktiv

Amerikanische und britische Raketenangriffe auf Huthi-Stellungen im Jemen machen nicht die Schifffahrt im Roten Meer sicherer – dafür reicht die Drohnen-Abwehr – sondern die Huthis zu Helden im Kampf für die Palästinenser und gegen westlichen Imperialismus. Ebenso kontraproduktiv sind Israels Versuche, die Hisbollah mit militärischer Gewalt von der Grenze zu vertreiben, damit Zehntausende evakuierte Israelis in ihre Häuser zurückkehren und in Sicherheit leben können. 

Zwar könnte die Hisbollah von dem Gebiet nördlich des Litani-Flusses, 30 km von der Grenze entfernt, keine präzisen Lenkwaffen mehr auf die Grenzorte abfeuern, aber mit ihren Raketen kann sie weiterhin Ziele in Israel erreichen. Außerdem verstärken israelische Drohgebärden den Rückhalt der Hisbollah in der Bevölkerung. Auch im Libanon sind Zehntausende aus dem Süden geflohen, Israel gilt als Aggressor. 

Angesichts einer bevorstehenden israelischen Offensive betrachten viele die Hisbollah als notwendigen Widerstand, selbst diejenigen, die mit der schiitischen Partei Gottes nichts gemein haben und in ruhigeren Zeiten ihre Entwaffnung fordern. Erfolgversprechender sind diplomatische Bemühungen, diese laufen ohne Fortschritte in Gaza jedoch ins Leere, da die Hisbollah erst bereit ist, über ihren Rückzug zu verhandeln, wenn Israel seine Angriffe auf Gaza einstellt.  

Netanjahu und seine Partner: ein Friedenshindernis

Netanjahu braucht den Krisenmodus, um an der Macht zu bleiben. Israels Premierminister war bereit, die Unabhängigkeit der Justiz abzuschaffen, um seine politische Karriere zu retten, und hat sich dafür mit Rechtsextremen eingelassen. Diese haben Teile der israelischen Armee für die Durchsetzung ihre Siedlungs- und Annexionspläne in der Westbank benutzt, was zum Versagen der Sicherheitskräfte am 7. Oktober beigetragen hat. Sobald der Krieg vorbei ist, wird die Aufarbeitung dieser politischen und militärstrategischen Fehler beginnen, schon jetzt fordert die Mehrheit der Israelis Netanjahus Rücktritt. 

Der Premier hat deshalb kein Interesse an einem baldigen Ende des Krieges. Er braucht einen Dauerzustand der Bedrohung, um sein Image als Mr. Security wiederherzustellen. Er verspricht, die Sicherheitskontrolle über Gaza nicht aus der Hand zu geben, einen souveränen palästinensischen Staat zu verhindern und den Hisbollah-Beschuss im Norden zu beenden, selbst wenn das eine offene Konfrontation mit dem Libanon zur Folge hätte.  

Statt mit Zugeständnissen weitere Geiseln freizubekommen, befeuern Netanjahu und seine rechtsextreme Regierung den Konflikt, um eigene Machtfantasien durchzusetzen. Sie sind keine Partner, sondern ein Hindernis auf dem Weg zum Frieden.  

Einmalige Gelegenheit für die Siedlerbewegung

Israels radikale Siedler und Nationalisten meinen es ernst und was in Gaza passiert, dient ihren Zielen. Der Hamas-Angriff hat Israels Rechtsextremisten gestärkt, ihre rassistischen Ansichten finden sich zum Teil in der breiten Öffentlichkeit wieder. Für die Siedlerbewegung ist der Krieg in Gaza die einmalige Gelegenheit, ihre Vision eines Groß-Israel voranzutreiben: die dauerhafte Besiedlung des Westjordanlandes und Gazas, die mit der institutionalisierten Ungleichbehandlung der Palästinenser (im Völkerrecht Apartheid genannt) oder ihrer Vertreibung einhergeht. 

Diese offen geäußerten Pläne stehen im Widerspruch zum Völkerrecht, zu UN-Resolutionen und zu dem, was der Rest der Welt, einschließlich enger Verbündeter Israels, als Lösung des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern betrachtet. 

Dennoch regt sich kaum Widerstand. Amerikaner und Europäer wiederholen, was in Gaza nicht passieren darf, ohne sich einzugestehen, dass Israels Kriegsführung genau darauf hinausläuft. Keine territorialen Veränderungen? Die Armee baut südlich von Gaza-Stadt eine Militärstraße von Ost nach West, die das Gebiet zerteilt und errichtet eine Pufferzone entlang der Grenze, die doppelt so groß werden soll wie zuvor. Von den dort stehenden 2.850 Gebäuden hat sie laut Israels TV-Sender Channel 12 bereits 1.100 zerstört, auch landwirtschaftliche Nutzflächen sind betroffen.  

Keine dauerhafte Vertreibung der lokalen Bevölkerung? 1,9 Millionen Menschen sind in Gaza auf der Flucht, die Vernichtung von Wohnraum und Infrastruktur – mehr als die Hälfte der Wohngebäude, Krankenhäuser, Universitäten, Schulen, Moscheen und Kirchen sind zerstört oder beschädigt – erschwert ihre Rückkehr und eine zukünftige Existenz.   

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Netanjahus Day-After-Plan: neue Besatzung

Keine israelische Besatzung und Besiedlung von Gaza? Netanjahus Day-After-Plan sieht zwar keinen Siedlungsbau, aber eine militärische Dauerpräsenz vor. Die israelische Armee soll in Gaza "unbefristete Handlungsfreiheit“ behalten und in allen Gebieten westlich des Jordan die Sicherheit kontrollieren, also sämtliche Zugänge zu Land, zu Wasser und aus der Luft. Die Palästinenser sollen sowohl "demilitarisiert“ als auch "deradikalisiert“ werden und sich "so weit wie möglich“ selbst verwalten. Diesen Zustand kennen diese schon, er heißt Besatzung. 

Die konkretesten Pläne für ein Nachkriegs-Gaza stammen von siedlernahen Organisationen und Immobilienfirmen: Villen am Strand und die "Förderung der freiwilligen Auswanderung“ mit dem Ziel, die palästinensische Bevölkerung von Gaza in der ganzen Welt zu verteilen, sie also als Gruppe zu zerstören (völkerrechtlich der Tatbestand des Genozids). 

Der Internationale Gerichtshof hat die israelische Regierung aufgefordert, Aufrufe zu Hetze, Hass und Vertreibung zu unterbinden und die Menschen in Gaza davor zu schützen. Elf Minister dieser Regierung haben bei der "Konferenz des Sieges“ in Jerusalem die Wiederbesiedlung des Gazastreifens gefeiert. Höchste Zeit, die Unterstützung für diese Regierung an Bedingungen zu knüpfen.  

Israels Premierminister Benjamin Netanjahu hat dem Sicherheitskabinett erstmals Pläne für Gaza nach dem Krieg vorgelegt.
Israels Premierminister Benjamin Netanjahu hat dem Sicherheitskabinett erstmals Pläne für Gaza nach dem Krieg vorgelegt. (Foto: Ohad Zwigenberg/AFP/Getty Images)

Realitätsverweigerung auf beiden Seiten

Die Hamas ausschließlich militärisch zu bekämpfen, stärkt sie politisch. Schon jetzt ist die Hamas populärer als vor dem 7. Oktober – nicht unbedingt in Gaza, aber im Westjordanland haben sich ihre Zustimmungswerte verdreifacht. Viele Menschen teilen zwar nicht ihre islamistische Ideologie, respektieren sie aber als "Widerstandsbewegung“.

Obwohl die Menschen im Nahen Osten Verbrechen wie die des 7. Oktober – sexuelle Gewalt, das Abschlachten von Zivilisten und das Verschleppen von Frauen und Kindern – ablehnen, feiern sie sie Hamas als einzigen Akteur, der etwas für die palästinensische Sache bewirkt hat – und sei es nur internationale Aufmerksamkeit für das Leid des palästinensischen Volkes. Die Gräueltaten des 7. Oktober werden dabei kleingeredet oder als Fake-News abgetan. 

Die Realitätsverweigerung hat auf beiden Seiten ein erschreckendes Ausmaß angenommen: In der arabischen Welt ignoriert und verleugnet man die Massaker vom 7. Oktober, in Israel will man das Leid der Zivilisten in Gaza nicht sehen. Existenzängste vermischen sich mit dem Wunsch nach Vergeltung. Der andere wird entmenschlicht, um ihm maximal schaden zu können. So schafft man jedoch keine Sicherheit, sondern mehr Terror und Gewalt.  

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"Die Welt muss einen Umgang mit der Hamas finden"

Das Ziel, die Hamas als Miliz vollständig zu zerschlagen, erweist sich nach Monaten des Krieges als unrealistisch. Selbst wenn in Gaza die meisten Kämpfer tot und alle Tunnel und Raketen zerstört sind, werden sich verbliebene Anhänger neuformieren und Nachwuchs finden. 

Und sie brauchen nicht viel, um als sogenannte "Spoiler“ jedes Bemühen um eine Nachkriegsordnung zu torpedieren. Allein deshalb erscheint es sinnvoll, die für die Geisel-Verhandlungen bestehenden Kanäle zur Hamas-Führung in Doha zu nutzen und Pragmatiker innerhalb der Hamas indirekt mit einzubinden. 

Auch als politische Partei, soziale Bewegung und Ideologie wird die Hamas fortbestehen. Die Welt muss deshalb einen Umgang mit ihr finden wie einst mit der Fatah von Yassir Arafat – diese wurden von Terroristen zu Verhandlungspartnern, als es im Zuge des Oslo-Prozesses Hoffnung auf eine politische Lösung des Konflikts gab. 

Dass es innerhalb der Hamas Politiker gibt, die zu einer solchen Entwicklung in der Lage sind, zeigen die Dokumente der letzten Zeit. Im Gegensatz zur Gründungscharta von 1988 finden sich im Grundsatzpapier von 2017 keine anti-jüdischen Bezüge mehr, die Hamas erklärte sich bereit, einen palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967 zu akzeptieren. Sie führe keinen Krieg gegen Juden, sondern bekämpfe die Besatzung, heißt es darin. 

Im Januar veröffentlichte die Hamas eine 16-seitige Stellungnahme, die auch auf den Terrorangriff vom 7. Oktober eingeht. Das Dokument trägt den Titel "Unser Narrativ… Operation Al Aqsa-Flut“ und verdient Beachtung – erst recht, wenn man es als Propaganda liest. 

Wer die Hamas dämonisiert, macht sie stärker

Die "Operation“ habe sich gegen israelische Militäreinrichtungen gerichtet und darauf abgezielt, Soldaten für einen Gefangenenaustausch festzunehmen. Eigentlich seien die Kämpfer der Al-Qassam-Brigaden verpflichtet, "Zivilisten, insbesondere Kinder, Frauen und ältere Menschen nicht zu verletzen“, Fälle von zivilen Opfern bezeichnet die Hamas als "Versehen“ und "Fehler“ im Zuge des raschen Zusammenbruchs des israelischen Sicherheitssystems. Was nach einer Verhöhnung der Opfer klingt, entspricht dem Narrativ in Nahost. 

In der Stellungnahme geht die Hamas auch auf Ermittlungen und Stellungnahmen des Internationalen Strafgerichtshofes und des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag ein, damit spricht sie die Sprache des Westens. An die anti-koloniale Linke und den Globalen Süden gerichtet, schreibt sie, sie kämpfe nicht gegen Juden, weil sie Juden sind, sondern gegen die Zionisten, die Palästina besetzen. Es seien jedoch "die Zionisten, die das Judentum und die Juden ständig mit ihrem eigenen kolonialen Projekt und illegalen Gebilde identifizieren“. 

Das Dokument zeigt, dass die Mitglieder der Hamas-Führung strategisch denken. Sie werden versuchen, die derzeitige Popularität in politischen Einfluss umzuwandeln, kein Weg zu einer Lösung der Palästinafrage soll an ihnen vorbeiführen. Verhandlungen zwischen Fatah und Hamas laufen bereits, mittelfristig könnte die Hamas der PLO beitreten.  

Einer übergangsweisen palästinensischen Regierung von Technokraten soll die Hamas zwar nicht angehören, aber zustimmen. Gegen sie zu regieren, wird nicht funktionieren, die Hamas auszuschließen und zu dämonisieren, macht sie nur stärker. Diese Erkenntnis ist bitter, aber unausweichlich, auch für Amerikaner und Europäer.   

08.02.2024: Außenminister Prinz Faisal bin Farhan bin Abdullah trifft arabische Minister zu Beratungen über den Israel-Hamas-Krieg
08.02.2024: Außenminister Prinz Faisal bin Farhan bin Abdullah trifft arabische Minister zu Beratungen über den Israel-Hamas-Krieg. Für eine Normalisierung ihrer Beziehungen zu Israel bestehen Saudi-Arabien und andere – im Gegensatz zu früher – auf eine Selbstbestimmung der Palästinenser. (Foto: Saudi Press Agency/APA/ZUMA/picture alliance)

Die Zwei-Staaten-Lösung ist tot, aber ohne palästinensische Souveränität gibt es keine Zukunft für Gaza und keine arabisch-israelische Normalisierung. Für eine Lösung in Gaza, die den Palästinensern ein Leben in Würde und den Israelis Sicherheit bringt, sind der Abzug der israelischen Armee und ein freier, aber international überwachter Waren- und Personenverkehr grundlegend. 

Denn unter einer dauerhaften israelischen Militärkontrolle wird sich in Gaza kein arabisches Land engagieren. Die finanzielle, politische, wirtschaftliche und womöglich militärische Unterstützung der Nachbarstaaten ist für eine Wiederauferstehung Gazas jedoch unverzichtbar. 

Deshalb reist US-Außenminister Anthony Blinken regelmäßig nach Saudi-Arabien, Katar, Jordanien und Ägypten, bevor er Gespräche in Tel Aviv und Ramallah führt. Um der israelischen Regierung ein Bekenntnis zu einem souveränen palästinensischen Staat abzuringen, lockt er mit besseren Beziehungen zur arabischen Nachbarschaft. Blinken weiß: Für eine Normalisierung ihrer Beziehungen zu Israel bestehen Saudi-Arabien und andere – im Gegensatz zu früher – auf eine Selbstbestimmung der Palästinenser. 

Da diese nicht absehbar ist, muss sie zumindest von Israel in Aussicht gestellt und von den USA und Europa vorangetrieben werden. Verweigert die israelische Regierung den Palästinensern weiterhin das Recht auf staatliche Souveränität, sollten Amerikaner und Europäer dem Beispiel der mehr 100 Länder folgen, die Palästina bereits als Staat anerkannt haben. Unilateral wäre dann nicht die weltweite Anerkennung, sondern Israels Verweigerung palästinensischer Staatlichkeit.  

Am Ende wird nicht die 1993 in Oslo anvisierte Zwei-Staaten-Lösung stehen, da die Mehrheit der mittlerweile 700.000 israelischen Siedler im Westjordanland und in Ost-Jerusalem sich nicht in Luft auflösen und nirgendwo hingehen wird. Realistischer erscheint deshalb eine Konföderation zweier Staaten – ein seit Jahren in Fachkreisen diskutierter Vorschlag, der die beiden größten Probleme lösen würde: das Fortbestehen Israels als jüdischer Staat und das Rückkehrrecht der Palästinenser. 

Dabei gäbe es einen israelischen und einen palästinensischen Staat (ungefähr in den Grenzen von 1967), deren Staatsbürger – ähnlich wie innerhalb der Europäischen Union – im jeweils anderen Land wohnen können, ohne jedoch die dortige Staatsangehörigkeit zu erwerben. Ein Siedler bleibt israelischer Staatsbürger und wählt in Israel, auch wenn er im Westjordanland lebt und den dortigen Gesetzen untersteht. 

Ein Palästinenser aus Berlin oder Bethlehem wird palästinensischer Staatsbürger und wählt das Parlament in Ramallah, auch wenn er nach Haifa oder Tel Aviv zieht. Einwanderungsgesetze würden den Zuzug auf beiden Seiten steuern. Dadurch bliebe Israel jüdisch und Palästina arabisch – und doch könnten Menschen wohnen, wo sie wollen oder bleiben, wo sie sind. 

Eine derartige Lösung ist schwer vorstellbar in der aktuellen Situation, zu groß sind Misstrauen, Angst und Hass auf beiden Seiten. Aber ohne Vision keine Annäherung. Und ohne Annäherung nur mehr Gewalt und Eskalation – in der gesamten Region. 

Kristin Helberg 

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