Wunderbare Brücke zwischen zwei Welten

Cover art of Özgür Akgul's album "Hediye"
Das Album "Hediye“ des Komponisten Özgür Akgül verbindet auf wunderbare Weise moderne und traditionelle Musik (...). Özgür Akgüls Musik ist ebenso schön wie elektrisierend“, schreibt Richard Marcus. (Foto: Asphalt Tango Records)

Özgür Akgül komponiert normalerweise Musik für Film und Fernsehen. Vor kurzem hat er unter dem Namen "Schnieke“ sein erstes Album veröffentlicht. Es ist ein Beispiel dafür, wie Moderne und Tradition in perfekter Harmonie nebeneinander existieren können. Von Richard Marcus

Von Richard Marcus

Hediye (dt. "Geschenk“) ist das Debütalbum von Özgür Akgül. Unter seinem Alias "Schnieke“ – berlinerisch für "schick“ – präsentiert der in Deutschland lebende türkische Komponist von Film- und Fernsehmusik ein Album, das elektronische Musik mit verschiedensten Streichinstrumenten verbindet.

Auch wenn das im Grunde nichts Neues ist – seit der Disco-Hochphase in den 1970er Jahren werden Streicher immer wieder mit elektronischer Musik kombiniert –, haben er und seine Mitmusiker auf diesem Album doch etwas deutlich Komplexeres und Anspruchsvolleres geschaffen.

Drei der neun Titel des Albums sind Neuinterpretationen traditioneller Melodien. Die anderen sechs Stücke sind Eigenkompositionen von Akgül. Es sind allesamt Instrumentalstücke. Dass man die Texte nicht vermisst, liegt auch daran, dass jedes Stück eine einzigartige Sammlung verschiedener Klänge und Themen ist.

Man kann gar nicht anders, als sich von der Stimmung der Musik mitreißen zu lassen und in die Szenarien einzutauchen. Hier sind es nicht bunte Videoclips, sondern die Klänge von Hediye, die die Bilder in unseren Köpfen erzeugen.

Beim Hören des Albums denkt man unweigerlich an die Roma, die auf ihrer Wanderung von Nordindien nach Europa durch die Türkei kamen. Auch wenn keines der Stücke direkt auf die Roma-Tradition zurückgeht, sind die Anklänge an diesen Stil im ganzen Album zu hören, besonders im achten Stück des Albums, "Gayda". Die wirbelnden Streicher und die treibenden Rhythmen erinnern an so manches osteuropäische Streichorchester.

Neues schaffen

Doch diese Band ist nicht einer einzigen Tradition verhaftet. Aus einem traditionellen Rahmen heraus schafft sie etwas Neues. Zwar spielt Akgül neben der Violine als einziger auch elektronische Instrumente, nämlich analoge Synthesizer und Drumcomputer, aber der Beitrag zum Gesamtsound ist nicht zu unterschätzen. 

Diese Instrumente geben nicht nur den Rhythmus vor, sondern beeinflussen unmittelbar die Atmosphäre und den emotionalen Kontext der Stücke.

Das schmälert keineswegs die Beiträge der anderen Musiker – Hasan Gözetlik (Trompete und Posaune), Göksun Çavdar (Saxophon), Korhan Erol (E-Gitarre und Bass), Burhan Hasdemir und Barış Güney (Live-Schlagzeug), Zafer Tunç Resuloğlu (Live-Schlagzeug), John Gürtler (Kirchenorgel) und die Istanbul Strings. Jeder leistet einen wertvollen Beitrag zum Ganzen. Aber die Elektronik ist das Element, das Hediye in eine neue Richtung bringt.

Die Tracks, die auf traditionellen Stücken basieren, wurden ebenso wie die Eigenkompositionen mit Bezügen zur zeitgenössischen Musik komponiert, ohne jemals zu vergessen, wo und wie der Klang entstanden ist. Das Album ist ein Lehrstück darüber, wie man eine Brücke zwischen zwei Welten schlagen kann, ohne eine der beiden Welten zu verleugnen.

Ein Schlüssel zu Sound und Atmosphäre sind die Elektronik und – wie die Band es nennt – Live-Schlagzeug und Percussion. Der Klang und das Gefühl von akustischer Percussion und Drums verleihen der Musik emotionale Tiefe. Wenn nur Drumcomputer verwendet werden, wirken die Songs leicht etwas mechanisch. Werden sie jedoch als Ergänzung eingesetzt, bereichern sie ihre Begleiter und verleihen den Stücken zusätzliche Tiefe.

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Elektronische und akustische Klangwirbel

Der Opener des Albums, "Tanz mir den Untergang", ist ein perfekter Einstieg. Die ersten 90 Sekunden sind ein Wirbel aus elektronischen und akustischen Klängen mit einer Rhythmik, wie man sie von ekstatischer Sufi-Musik bis hin zu den Hochzeitsliedern der Roma kennt. Dann wechselt die Stimmung fast abrupt: Eine Solo-Violine wird von gezupften Streichern und leichtem Schlagwerk begleitet.

Doch die Atempause ist nur von kurzer Dauer – das Stück nimmt wieder an Fahrt auf. Die Streicher und der Rhythmus kehren zu ihrem vorherigen schnellen Tempo zurück. Hört man das Stück mit dem Wissen um den Titel, klingt es tatsächlich wie eine Art makabre Feier des Aufstiegs und späteren Falls eines Protagonisten. Die Person steigt in einem Wirbel auf, erreicht kurz ein Plateau und wird von demselben Wirbel wieder dorthin zurückgeworfen, wo ihr Aufstieg begann.

Nicht alle Titel lassen solche düsteren Interpretationen zu, aber alle enthalten vielschichtige Gedanken und Gefühle. Der fünfte Titel, "Kadıoğlu", interpretiert eine traditionelle Zeybek-Volkstanzmelodie. Der Zeybek hat seinen Ursprung in den aufständischen Milizen und Banditen der südwestanatolischen Bergregion.

Traditionell gibt es zwei Arten von Zeybek-Tänzen, die sich je nach dem Tempo eines Stückes unterscheiden: agir (langsam) und kivrak (schnell). Nach dieser Definition fällt das Stück "Kadıoğlu“ in die Kategorie agir. Über dem Grundton schwebt eine elegante, fast melancholische Violine. Gelegentlich wird sie von tiefen, resonanten Klängen unterbrochen, die Akgül mit gekonnter Hand auf den Tasten erzeugt.

Das Tempo ist bei weitem nicht so hoch wie in anderen Stücken auf Hediye, baut aber gezielt und kontinuierlich Energie auf. Manchmal wirkt es fast tranceartig.

Das Album Hediye des Komponisten Özgür Akgül verbindet auf wunderbare Weise moderne und traditionelle Musik. Ob Bearbeitungen traditioneller türkischer und Musik vom Balkan oder eigene Kompositionen, Özgür Akgüls Musik ist ebenso schön wie elektrisierend. Sie ist ein Beispiel dafür, wie Moderne und Tradition in perfekter Harmonie nebeneinander existieren und das Beste aus beiden Welten vereinen können.

Richard Marcus

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