Klang gewordenes Raum-Zeit-Kontinuum 

Die Produzentin Ipek Ipekcioglu hat sich als DJ weit über ihre Heimatstadt Berlin hinaus einen Namen gemacht. Mit ihrem Bandprojekt "Karmatürji“ hat sie nun ihr erstes Album veröffentlicht.
Die Produzentin Ipek Ipekcioglu hat sich als DJ weit über ihre Heimatstadt Berlin hinaus einen Namen gemacht. Mit ihrem Bandprojekt "Karmatürji“ hat sie nun ihr erstes Album veröffentlicht.

Die Produzentin Ipek Ipekcioglu hat sich als DJ weit über ihre Heimatstadt Berlin hinaus einen Namen gemacht. Mit ihrem Bandprojekt "Karmatürji“ hat sie nun ihr erstes Album veröffentlicht. Von Daniel Bax

Von Daniel Bax

War es Zufall, war es Schicksal? Als DJ Ipek vor einigen Jahren der Bağlama-Spielerin und Folk-Sängerin Petra Nachtmanova das erste Mal über den Weg lief, funkte es jedenfalls sofort zwischen ihnen. Auf einen Beat, den Ipek gebastelt hatte, improvisierte die Sängerin bei einem gemeinsamen Auftritt in Berlin spontan mit ihrer Stimme und ihrem Instrument eine passende Melodie.



Das Resultat gefiel Ipek so gut, dass sie Petra Nachtmanova umgehend in ihr Heimstudio einlud, um das Stück professionell aufzunehmen. Der trancehaft-meditative Track mit der orientalischen Melodie erschien 2016 beim bekannten Berliner Elektronik-Label "Katermukke“ unter dem Titel "Uyan“, zu Deutsch "Wach auf“.  

"Die Botschaft passte gut in die Zeit“, sagt DJ Ipek rückblickend beim Gespräch in ihrem Berliner Heimstudio, beim Tee und mit einer Zigarette in der Hand. Das Studio befindet sich in einem Wohnhaus im Bezirk Neukölln, direkt an der Grenze zu Kreuzberg, und ist mit anatolischen Kelim-Teppichen ausgelegt.



Ihr Stück "Uyan“ ist ebenfalls in anatolische Traditionen eingebettet: Es geht auf ein Gedicht des anatolischen Dichters und Derwisch-Mystikers Pir Sultan Abdal zurück, der im 16. Jahrhundert zur Blütezeit des Osmanischen Reichs wirkte und in seinen Gedichten auch soziale Missstände anprangerte. Von Angehörigen der religiösen Minderheit der Aleviten in der Türkei wird er dafür bis heute als Freiheitskämpfer und wie ein Heiliger verehrt. "Heute würde man ihn wohl einen Protestsänger nennen“, sagt DJ Ipek.

 

 

Gegen die resignative Stimmung

Ihre elektronische Version habe wohl auch deshalb einen Nerv getroffen, weil sie an eine lange und von Rückschlägen geprägte Geschichte des Widerstands erinnere, meint sie: "Bei den sogenannten Gezi-Protesten in der Türkei vor zehn Jahren sind so viele Menschen auf die Straße gegangen. Aber das hatte nicht die erhoffte Wirkung, im Gegenteil: In der Türkei ist seitdem alles schlimmer geworden, teurer, repressiver und konservativer. Sehr viele Menschen wurden verhaftet oder haben ihr Leben verloren. Auch der Arabische Frühling brachte nicht den erhofften Aufbruch. Viele waren deshalb niedergeschlagen und haben für sich daraus den Schluss gezogen: Besser, ich tue gar nichts und protestiere nicht“.

Gegen diese resignative Stimmung habe sich ihr Song gerichtet: "Die Botschaft war: Du bist nicht allein. Und: Wir müssen weiter gemeinsam für den Wandel auf die Straße gehen.“



Auch das Video zu dem Track, in der Trümmerlandschaft eines ehemaligen Schwimmbads und auf einem freien Feld vor den Toren Berlins aufgenommen, vermittelt diese Botschaft: "Am Anfang sind wir vereinzelt zu sehen. Aber später kommen wir zusammen und tanzen gemeinsam um ein Lagerfeuer. Auch das ist ein alter alevitischer Brauch.“  

Jetzt, sieben Jahre später, haben DJ Ipek und Petra Nachtmanova ein ganzes Album produziert und veröffentlicht. "Karmatürji“ nennt sich ihr Bandprojekt, für das sie auch den Multiinstrumentalisten Ceyhun Kaya mit an Bord nahmen. "Karmatürji“ verbindet traditionelle anatolische Lieder mit elektronischen Klängen zu einer neuen, kraftvollen Synthese.

Die Folk-Sängerin Petra Nachtmanova schreibt die Songs und übernimmt Passagen aus alten Volksliedern für ihre Texte, sie spielt die türkische Langhalslaute Bağlama und hat das mehrsprachige Konzept des Albums erdacht. Der Multiinstrumentalist Ceyhun Kaya steuert Synthesizer-Sounds und Beats sowie auf der Klarinette, dem Saxophon oder der griechischen Bouzouki auch Instrumentalparts bei. Ipek Ipekcioglu alias DJ Ipek sorgt für den finalen Schliff, und macht das Ganze mit TripHop, Techno, Deephouse und anderen elektronischen Stilen noch atmosphärischer und tanzbarer. 

 

 

Zeremonienmeisterin der transkulturellen Völkerverständigung

Dabei hilft ihr ihre langjährige Erfahrung als DJ. Ihre ersten Griffe am Mischpult machte die Produzentin bei den monatlichen "Gayhane“-Parties im Berliner Szeneclub SO36, die kürzlich ihr 25-jähriges Jubiläum feierten. Diese Partyreihe richtete sich ursprünglich an türkeistämmige Lesben, Schwule und Transgender, zog mit der Zeit aber ein immer größeres, auch heterosexuelles und nicht-türkisches Publikum an. Zum Höhepunkt dieser Partynächte tanzen häufig alle berauscht zu anatolischen Volkstanz-Rhythmen zusammen im Kreis, ein magischer Moment.

Diese Partyreihe begründete DJ Ipeks Ruf als Schamanin an den Turntables und "Zeremonienmeisterin der transkulturellen Völkerverständigung“. Ihr Ruf drang rasch bis in die Türkei vor, doch das urbane Publikum dort tat sich anfangs schwer mit ihrem eklektischen Mix. "Ich wurde gefragt: Warum legst du so etwas auf? Das ist doch Bauernmusik? Denn in der Türkei waren damals nur westlicher Rock und elektronische Musik angesagt“, erzählt Ipek.

"Arabische Rhythmen und anatolischer Folklore-Pop, aus denen meine Sets auch bestanden, galten als hinterwäldlerisch. Für die Hipster in Istanbul war das, als würde ich deutsche Schlager spielen: ein Geschmacksverbrechen. Das hat sich inzwischen zum Glück verändert, das Publikum ist in dieser Hinsicht toleranter geworden.“  

Inzwischen ist Ipek weltweit gefragt: Sie gibt Workshops in Spanien und Mexiko, legt in Istanbul und Amsterdam auf und an wechselnden Orten auch immer wieder in Berlin. Beim Berliner "Kultursommer“-Festival in diesem Jahr teilte sie im Hof des Humboldt-Forums, des wieder aufgebauten Stadtschlosses in Berlins historischer Mitte, die Bühne mit dem türkischen Popstar Ezhel und der deutsch-iranischen Stand Up-Komikerin Enissa Amani.

Auftritt beim Bundespräsidenten

Zur Feier des 60sten Jubiläums des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens legte sie vor zwei Jahren sogar im Schloss Bellevue beim Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier auf. Beim renommierten Trikont-Label, das in München beheimatet ist, hat sie mehrere Compilations herausgegeben, auf Spotify veröffentlicht sie immer wieder einzelne Tracks. Mit "Karmatürji“ erscheint nun ihr erstes Album mit eigener Musik und einer richtigen Band. 

DJ Ipek Ipekcioglu; Foto: Philippe Freese
Ipek Ipekcioglu ist eine der angesagtesten DJ's der Berliner Clubszene und wird als international bekannte Queen des Eklektik BerlinIstan nicht umsonst als »Zeremonienmeisterin der transkulturellen Völkerverständigung« bezeichnet.



"Karmatürji“ bestehen aus der Folk-Sängerin Petra Nachtmanova, dem Multiinstrumentalisten Ceyhun Kaya und Ipek, sind also ein Trio. Petra Nachtmanova hat einen polnisch-tschechischen Hintergrund, ist in Österreich aufgewachsen und lebt jetzt in Deutschland. Sie hat Geschichte studiert und sich tief in türkische, osteuropäische und zentralasiatische Musiktraditionen eingearbeitet. Dafür hat sie nicht nur die türkische Langhalslaute Baglama, sondern auch gleich die türkische Sprache erlernt.

"Sie ist unsere Enzyklopädie“, sagt Ipek. Ceyhun Kaya wiederum ist ein Berufsmusiker, Komponist und Sounddesigner, der vor knapp zehn Jahren aus der Türkei nach Berlin gezogen ist. In der Türkei spielte er unter anderem in den Bands Cümbüs Cemaat und Bandista mit. In Berlin wirkt er in unterschiedlichen Projekten mit, und mit Petra Nachtmanova kuratiert er das monatliche Event Beynel Milel (Osmanisch für "international”) in der Villa Neukölln. 

Auf ihrem gemeinsamen Album greifen "Karmatürji“ traditionelle Gedichte von klassischen anatolischen Poeten wie Yunus Emre, aber auch andere Volksweisen auf und kleiden sie in ein neues, elektronisches Gewand. Das dunkel dräuende "Aşk Eri“ ("Soldat der Liebe“) geht auf ein Poem des Dichters und Mystikers Yunus Emre zurück, der zwischen dem 13. und 14. Jahrhundert gelebt hat.

Eine bekannte Vertonung des Stücks stammt von dem 1985 verstorbenen Folksänger Ruhi Su, einem der wichtigsten Interpreten traditioneller Musik in der Türkei. Auch Ruhi Su ist eine Symbolfigur der türkischen Linken.  

Cover des Albums Karmatuerji von DJ Ipek, Petra Nachtmanova und  Ceyhun Kaya; Quelle: Trikont
"Karmatürji“ bestehen aus der Folk-Sängerin Petra Nachtmanova, dem Multiinstrumentalisten Ceyhun Kaya und DJ Ipek, sind also ein Trio. Petra Nachtmanova hat einen polnisch-tschechischen Hintergrund, ist in Österreich aufgewachsen und lebt jetzt in Deutschland. Sie hat sich tief in türkische, osteuropäische und zentralasiatische Musiktraditionen eingearbeitet. Dafür hat sie nicht nur die türkische Langhalslaute Baglama, sondern auch gleich die türkische Sprache erlernt. Ceyhun Kaya wiederum ist ein Berufsmusiker, Komponist und Sounddesigner, der vor knapp zehn Jahren aus der Türkei nach Berlin gezogen ist.



Das Stück "Zevk-ü Sefa“ hat das "Karmatürji"-Trio bereits 2019 im Auftrag des Museums für Islamische Kunst in Berlin komponiert. Im Rahmen einer Konzertreihe beauftragte das Museum, das im berühmten Pergamon-Museum in Berlins Mitte residiert, damals sechs Crossover-Bands, jeweils ein Kunstwerk aus ihrer Sammlung musikalisch zu interpretieren.

Übersetzt in musikalische Sprache von heute

"Karmatürji“ entschied sich für die so genannten "Kairener Schmuckleisten“ – dekorative Rahmen, die im 11. Jahrhundert im östlichen Mittelmeerraum verbreitet waren und ausgewählte Alltagsszenen zeigen: Menschen am Hof oder bei der Jagd, beim Genuss von Musik, Früchten oder Getränken. Petra Nachtmanova und Ceyhun Kaya komponierten dazu einen sanften, somnambul treibenden Track und dichteten dazu märchenhaft anmutende Zeilen, die von Ipek auf Deutsch gesprochen und von Petra auf Türkisch gesungen werden.

Der osmanische Titel "Zevk-ü Sefa“ bedeutet, ins heutige Deutsch übersetzt, so viel wie "Sinnesfreuden“ oder "Hedonismus“. "Ich liebe diese alten osmanischen Wörter“, erklärt Ipek die Wahl des altmodisch klingenden Titels.  

"Evlerinin Önü Yonca“ geht auf ein irakisch-turkmenisches Lied zurück, in dem die Schönheit einer Geliebten besungen wird. Es erzählt von einem Haus, das von Kleeblättern und Tulpen umgeben ist, um es vor fremden Blicken zu schützen. Märchenhaft und verträumt kommt auch "Kolysanka“ daher, ein elektronisch untermaltes und sich zum immer schnelleren Tempo aufschwingendes polnisches Wiegenlied, das von einer Art Spieluhr-Melodie eingeleitet wird.



Und auf "Tangomatika“, einem elegisch pulsierenden Elektro-Tango, zitiert Petra aus einem russischen Mathematikbuch und zählt die arabischen Kalendermonate auf Russisch auf. "Wir wollen diese Lieder, die uns etwas bedeuten, der Welt bekannt machen, sie elektronisch interpretieren und damit auch Menschen zugänglich machen, die keine traditionelle türkische Musik hören“, erklärt Ipek.



"Wir haben uns gefragt: Wie würde dieses Lied in zeitgemäßer Fassung klingen? Wir wollten die Originalität und die Seele der Lieder beibehalten, aber sie in unsere heutigen musikalischen Sprachen übersetzen“. Das ist "Karmatürji" gelungen. Ihr Album schlägt eine Brücke vom Anatolien des frühen Mittelalters und alter osteuropäischer Folklore ins pulsierende Berliner Nachtleben von heute: ein Klang gewordenes Raum-Zeit-Kontinuum.  

Daniel Bax

© Qantara.de 2023

Karmatürji: "Karmatürji“ (Trikont)