Das Leiden der Zivilbevölkerung in Gaza

Nach den brutalen Angriffen der Hamas läuft die israelische Offensive. Sie führt zu hohen Opfern unter der Zivilbevölkerung, dringende humanitäre Zugänge sind notwendig. Eine Rückkehr zur Situation vor den Hamas-Angriffen darf es nicht geben.
Nach den brutalen Angriffen der Hamas läuft die israelische Offensive. Sie führt zu hohen Opfern unter der Zivilbevölkerung, dringende humanitäre Zugänge sind notwendig. Eine Rückkehr zur Situation vor den Hamas-Angriffen darf es nicht geben.

Nach den brutalen Terror-Angriffen der Hamas läuft die israelische Offensive in Gaza. Sie führt zu hohen Opfern unter der Zivilbevölkerung, dringende humanitäre Zugänge sind notwendig. Eine Rückkehr zur Situation vor den Hamas-Angriffen darf es nicht geben. Eine Analyse von René Wildangel

Von René Wildangel

Zu Beginn des derzeitigen Angriffes auf den Gazastreifen verfügte der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant die vollkommene Abriegelung des Gazastreifens: "Kein Strom, keine Nahrung, kein Wasser, kein Benzin“, da Israel gegen "menschliche Tiere“ kämpfe.

Die Aussage kam Stunden nach den menschenverachtenden Terror-Angriffen der Hamas, bei denen über 1000 Zivilisten in israelischen Gemeinden nahe des Gazastreifens ermordet wurden. Zugleich erklärte ein Armeesprecher, es ginge bei den Angriffen auf den Gazastreifen darum, größtmögliche Schäden zu erzielen, nicht um Präzision.

Die Folgen sind in erster Linie für Gazas Zivilbevölkerung fatal: Schon einen Tag später endeten die Versorgungsvorräte, mit massiven Folgen. Derzeit ist kein Nachschub für grundlegende humanitäre Güter möglich. Der Ausfall der Stromversorgung bedeutet, dass auch Krankenhäuser und Basis-Infrastruktur nicht mehr funktionieren, tausende Verletzte können nicht oder nur unzureichend behandelt werden.

Ein derartig umfassender Versorgungsstopp ist völkerrechtlich ebenso verboten wie direkte Angriffe auf zivile Ziele; die israelische Menschenrechtsorganisation Gisha warnt vor Kriegsverbrechen. Dazu kommt die Tatsache, dass diese Kriegsführung in erster Linie die Zivilbevölkerung, nicht aber die Hamas trifft. Denn die Hamas hat durch ihre langjährige autoritäre Herrschaft über den Gazastreifen vorgesorgt und sich Zugänge und Schutzmöglichkeiten geschaffen, die der Bevölkerung verwehrt bleiben. 

Blick auf ein Viertel von Gaza-Stadt am Dienstag, 08.10.2023; Foto: BELAL AL SABBAGH/AFP
Blick auf ein Viertel von Gaza-Stadt nach israelischen Luftangriffen am Dienstag, den 10. Oktober 2023: Zu Beginn der israelischen Luftschläge nach den menschenverachtenden Terrorangriffen der Hamas verfügte Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant die vollkommene Abriegelung des Gazastreifens: "Kein Strom, keine Nahrung, kein Wasser, kein Benzin“, da Israel gegen "menschliche Tiere“ kämpfe. Diese Kriegsführung trifft in erster Linie die Zivilbevölkerung, nicht aber die Hamas. Denn sie hat durch ihre langjährige autoritäre Herrschaft über den Gazastreifen vorgesorgt und sich Zugänge und Schutzmöglichkeiten geschaffen, die der Bevölkerung verwehrt bleiben. 

Die Mehrheit der Hamas-Führer sitzt im Ausland

Die Ankündigung, die Hamas-Führung zu zerschlagen, scheint schon deshalb realitätsfremd zu sein, weil die Mehrheit ihrer Führer im Ausland sitzt – nach der Ausweisung aus der Türkei vor allem in Katar und im Libanon. Für viele Beobachter ist der terroristische Radikalkurs der Hamas überraschend – nicht zuletzt für die israelische Regierung.

Sie hatte nach den letzten Auseinandersetzungen immer wieder indirekt mit der Hamas verhandelt, in den letzten Monaten auch viel mehr Arbeiter aus Gaza nach Israel gelassen. Entweder wollte die Hamas die israelische Regierung angesichts eines bereits vorbereiteten Überfalls in Sicherheit wiegen oder besonders radikale Stimmen innerhalb der Organisation setzen sich mit ihrem Kurs durch.

Nachdem die Hamas 2017 ihre Charter geändert hatte, antisemitische Propaganda wie die Verweise auf die antisemitischen "Protokolle der Weisen von Zion“ gestrichen und ihre prinzipielle Zustimmung zu einer Regelung in den Grenzen von 1967 angedeutet hatte, waren viele Experten eher davon ausgegangen, die Organisation sei moderater geworden.

"Die Hamas befürwortet die Befreiung ganz Palästinas, ist aber bereit, die Grenzen von 1967 zu unterstützen“, erklärte der damalige Hamas-Chef Khaled Mashal in einer Pressekonferenz. Derselbe Mashal hat jetzt, nach den Anschlägen, die radikale Marschrichtung der Hamas deutlich gemacht und die Staaten der Region zum Kampf gegen Israel aufgerufen

Für die Bevölkerung in Gaza kommen die aktuellen Bombardierungen nach einer bereits über 15-jährigen Blockade und vielfachen kriegerischen Auseinandersetzungen mit weitreichenden Zerstörungen im Gazastreifen. Seit 2007 wird der Gazastreifen von der Hamas beherrscht. Ursprung war der Wahlsieg der Islamisten bei den palästinensischen Parlamentswahlen 2006, der von der internationalen Gemeinschaft nicht akzeptiert wurde.

Nach einem kurzen, blutigen Bürgerkrieg zwischen den verfeindeten palästinensischen Parteien Hamas und Fatah und der alleinigen Machtübernahme der Hamas in Gaza beschloss die israelische Regierung vor über 15 Jahren die weitgehende Abriegelung Gazas.

Jugend ohne Perspektive in Gaza; Foto: Tania Kraemer/DW
Jugend ohne Perspektive: Bereits 2012 veröffentlichten die Vereinten Nationen einen Bericht, der davon ausging, dass es eine grundsätzliche Änderung des Status quo brauche, andernfalls werde die Bevölkerung keine ausreichenden Lebensgrundlagen mehr haben. Elektrizität war seit 2007 auch nach wiederholtem Beschuss des einzigen Elektrizitätswerkes ebenso Mangelware wie sauberes Trinkwasser – jetzt fehlen sie völlig. Die Böden der einst produktiven Landwirtschaft sind durch Überdüngung, Munition und Abwasser vergiftet. 



Zwei Jahre zuvor hatte Premier Ariel Sharon israelische Siedler und Soldaten aus Gaza abgezogen, aber die Kontrolle zu Land, Wasser und in der Luft aufrechterhalten. Daher gilt Gaza völkerrechtlich weiterhin als besetzt und Israel kommen entsprechende Pflichten als Besatzungsmacht zu. Auch Ägypten, seit der Machtübernahme der Hamas ein entschiedener Gegner der Islamisten, hat seinen Grenzübergang in Rafah stets weitgehend geschlossen gehalten.  

Gaza war vorher keine unumstrittene Hochburg der Hamas. Nach der durch Oslo in Aussicht gestellten Autonomie herrschte große Hoffnung, 1998 kam US-Präsident Clinton zur feierlichen Eröffnung des Flughafens, der Gaza mit Welt verbinden sollte. 20 Jahre später lag dieser in Schutt und Asche.

Nach dem blutigen Putsch der Hamas 2007 in Gaza wurden die Fatah-Leute vertrieben. Hunderttausende Angestellte der von Palästinenserpräsident Abbas' Fatah dominierten Palästinensischen Autonomiebehörde mussten zu Hause bleiben, die Hamas übernahm Verwaltung, Polizei und Gerichtswesen. Seither regiert sie den kleinen Küstenstreifen mit harter Hand und im Sinne ihrer militanten islamistischen Ideologie. 

Kein sicherer Ort, kein Ausweg  

"Verlasst Gaza“, sagte Israels Ministerpräsident Netanjahu der Bevölkerung nun und kündigte zugleich massive Luftangriffe an. Dass Zivilisten Gaza nicht verlassen können, war Netanjahu klar, denn seit Beginn der Blockade 2007 ist nicht nur die israelische, sondern auch die ägyptische Grenze weitgehend dicht. Der Gazastreifen gehört heute zu den am dichtesten besiedelten Orten der Welt – auf einer Fläche, die kleiner ist als das Stadtgebiet von Köln, leben rund 2,3 Millionen Menschen.

Es gibt in Gaza keinen sicheren Ort mehr. Bei den israelischen Angriffen werden immer wieder auch Krankenhäuser, Schulen, Moscheen und Wohnhäuser bombardiert, trotz israelischer Zusicherung, keine zivilen Ziele anzugreifen. Die Vereinten Nationen sprechen aktuell von über 1100 Getöteten, über 5000 Verletzten und 340.000 intern Vertriebenen. Ein Teil davon nutzt ausgewählte Schulen des UN-Palästina-Hilfswerks UNRWA als Zufluchtsort, aber der Weg dorthin und der Aufenthalt dort sind inmitten der Bombardierungen gefährlich.

Gaza-Stadt im Mai 2023: Fünf Tag dauerte die erneute EskalationBild: Belal Salem/APA Images/ZUMA Press/picture alliance
Luftangriffe auf Gaza: Immer wieder gab es israelische Luftschläge als Vergeltung für Angriffe der Hamas: 2008, 2012, 2014, 2018 und 2021 mit über 4000 getöteten Palästinensern in Gaza. "Ein 16-Jähriger in Gaza hat nichts anderes erlebt als die Hamas-Herrschaft und wiederkehrende Kriege", schreibt René Wildangel. "Eine Rückkehr zum Status quo vor den Hamas-Angriffen ist nicht denkbar. Wenn es eine wie auch immer geartete Waffenruhe gibt, muss eine belastbare politische Regelung her, die Zivilisten auf beiden Seiten der Grenze schützt.“



Andere Schutzräume oder Fluchtmöglichkeiten gibt es für die Bevölkerung nicht. Präsident Biden hat Ausweichmöglichkeiten nach Ägypten in Aussicht gestellt, doch die ägyptische Regierung sperrt sich mit Blick auf die eigene Sicherheitslage dagegen.  

Jugend ohne Perspektive

Die Bevölkerung von Gaza gehört zu den jüngsten der Welt, 50 Prozent der Menschen sind jünger als 18 Jahre. Der Anteil an Kindern unter 15 Jahren ist sehr hoch. Sie sind besonders schwer von den wiederkehrenden Angriffen traumatisiert. Ein 16-Jähriger in Gaza hat nichts anderes erlebt als Hamas-Herrschaft und wiederkehrende Kriege: 2008, 2012, 2014, 2018 und 2021 kam es zu brutalen Kriegen mit über 4000 getöteten Palästinensern aus Gaza.  

Auf israelischer Seite kamen in diesen Jahren unter anderem durch Raketenangriffe der Hamas und anderer militanter Gruppen 100 Menschen ums Leben, eine Zahl, die durch die brutalen Hamas-Angriffe und das systematische Morden der Hamas seit Samstag um ein Vielfaches überschritten wurde. Die Blockade verhinderte in den letzten Jahren jede normale wirtschaftliche Betätigung im Gazastreifen, die Jugendarbeitslosigkeit ist mit über 70 Prozent enorm hoch. Über 80 Prozent der Menschen sind auf Lebensmittelhilfen angewiesen.

Bereits 2012 veröffentlichten die Vereinten Nationen einen Bericht, der davon ausging, dass es eine grundsätzliche Änderung des Status quo brauche, andernfalls werde die Bevölkerung keine ausreichenden Lebensgrundlagen mehr haben. Elektrizität war seit 2007 auch nach wiederholtem Beschuss des einzigen Elektrizitätswerkes ebenso Mangelware wie sauberes Trinkwasser – jetzt fehlen sie völlig. Die Böden der einst produktiven Landwirtschaft sind durch Überdüngung, Munition und Abwasser vergiftet. 

Gazas Zivilgesellschaft wird kaum gehört

Wie groß die Unterstützung für die Hamas im Gazastreifen ist, lässt sich nur schwer beurteilen. Doch obwohl die Hamas den kleinen Gazastreifen gewaltsam kontrolliert und kaum Kritik duldet, existiert noch eine enorm breite Zivilgesellschaft. Im Sommer kam es zuletzt zu groß angelegten Protesten gegen die Hamas, die von den Islamisten brutal niedergeschlagen wurden.

 

 

 

Die großen, auch aus Deutschland geförderten Menschenrechtsorganisationen wie Al-Mizan oder PCHR, dokumentierten in der Vergangenheit nicht nur die Folgen der israelischen Blockade und der wiederholten Angriffe gegen den Gazastreifen, sondern mit viel Mut auch die Menschenrechtsverletzungen der Hamas.  

Andere Organisationen versuchen auch unter schwersten Bedingungen Frauenrechte, Kultur und Sportgelegenheiten zu erhalten. Der Hamas sind solche Aktivitäten zuwider – sie verbreitet zumeist erfolgreich ihre Propaganda von einem kollektiven bewaffneten "Widerstand“. Bilder von den Hunderttausenden  junger Menschen, die gegen alle Widerstände ihre Ausbildung beginnen, einen Surfclub am Strand betreiben oder für den Klimaschutz demonstrieren, gehen dagegen selten um die Welt. 

Nur eine neue Gaza-Politik kann dauerhafte Sicherheit schaffen 

Jetzt ist mit einem langen Anhalten der Gewalt zu rechnen. Netanjahu hat – nicht zum ersten Mal – angekündigt, die Hamas und ihre Machtstrukturen zu vernichten. Wie bisher wird er dieses Ziel aber auch durch massive Luftschläge nicht erreichen. Stattdessen ist wieder mit enorm vielen zivilen Opfern zu rechnen. Eine Bodenoffensive und die Wiederbesetzung des Gazastreifens wären riskant und sind in Israel wohl noch umstritten, könnten aber folgen.  

Doch was folgt, wenn die Gewalt endet? Die bisherige Blockadepolitik mit ihrem erklärten Ziel, die Hamas zu schwächen, ist gescheitert. Eine Rückkehr zum Status quo vor den Hamas-Angriffen ist nicht denkbar. Wenn es eine wie auch immer geartete Waffenruhe gibt, muss eine belastbare politische Regelung her, die Zivilisten auf beiden Seiten der Grenze schützt.

Dafür braucht Israel die Hilfe der Nachbarstaaten, insbesondere Ägyptens und der Golfstaaten, sowie der internationalen Gemeinschaft. Gemeinsam muss eine neue Strategie entwickelt werden: Statt einer gefängnisartigen Enklave, die die Hamas nach Belieben beherrschen kann, braucht es wirtschaftliche Perspektiven und eine kontrollierte Öffnung, die gezielt der Zivilbevölkerung zu Gute kommt. 

René Wildangel

© Qantara.de 2023 

René Wildangel ist Historiker und Politikwissenschaftler. Er leitete von 2011 bis 2015 das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah und bereist regelmäßig den Gazastreifen, zuletzt im Mai 2023.