Wer Wind sät, wird Sturm ernten

Viele Türken, sowohl in der Türkei als auch in Deutschland, fühlen sich missverstanden. Ziel des Einmarschs in Syrien sei eine Befriedung, keine ethnische Säuberung, zudem gebe es in der Türkei keinen Rassismus. Ein Trugbild, meint Tayfun Guttstadt in seinem Debattenbeitrag.

Von Tayfun Guttstadt

Rassismus ist ein prägender Bestandteil des türkischen Nationalbewusstseins. Nicht nur wird der Völkermord an den Armeniern und weiteren Christenvölkern Anatoliens bis heute aggressiv geleugnet, auch wird bis heute jegliche Abweichung von der türkisch-sunnitischen Nationalidentität unterdrückt.

Bei der Gründung der Republik wurden Nicht-Muslime durch gezielte Gesetze ausgegrenzt und enteignet. Massenauswanderungen und Pogrome, wie 1934 in Thrakien sowie 1955 in Istanbul waren die Folge. 

Kurden und Aleviten wurden nicht vertrieben, sondern sollten nach Wunsch des türkischen Staates durch Absehen von ihren ethnischen und religiösen Eigenheiten assimiliert werden. Kurden sollten ihre Sprache, Bräuche und Geschichte vergessen - darüber hinaus verdrängen, dass viele von ihnen Verwandte hatten, die nun Syrer, Iraker und Iraner sein mussten. Für all dies wurde von den Kurden auch noch Dankbarkeit verlangt. Jede Form des Widerstands gegen die Zwangsassimilierung wurde mit Gewalt unterdrückt. 

So etwa 1938 in Dersim. Die Bewohner der Provinz sprechen das dem kurdischen verwandte Zaza, sind alevitischen Glaubens und wollten sich nicht assimilieren. Hierfür wurden sie zu zehntausenden ermordet - eine der Pilotinnen in diesem Feldzug war Sabiha Gökçen, nach der ein Flughafen Istanbuls benannt ist. Die Provinz wurde perfiderweise nach der Militäroperation benannt - nicht mehr Dersim, sonder Tunceli (Bronzehand) lautet der offizielle Name.

Regelmäßige Angriffe auf Kurden

Doch der Rassismus geht nicht nur vom Staat aus: Regelmäßig werden Menschen in der Türkei auf offener Straße von Zivilisten angegriffen, weil sie Kurdisch sprechen, Musiker mit Gegenständen beworfen, weil sie kurdische Lieder singen, und Hochzeitsgesellschaften aufgelöst, weil kurdische Volksweisen gespielt werden. Zahlreiche Größen der kurdischen Musik leben aus diesen Gründen in Europa.

Ekrem Yaşlı nach seiner Behandlung im Krankenhaus von in Canakkale; Foto: Mezopotamya Agency
Opfer nationalistischer Gewalt: Erst vor wenigen Tagen wurde der 74-jährige Ekrem Yaşlı im Krankenhaus von sechs jungen Männern zusammengeschlagen, weil er mit seiner dort stationierten Frau kurdisch gesprochen hatte. Die Angreifer riefen "Dies ist die Türkei!", Herr Yaşlı muss nun ebenfalls im Krankenhaus versorgt werden.

Erst vor wenigen Tagen wurde der 74-jährige Ekrem Yaşlı im Krankenhaus von sechs jungen Männern zusammengeschlagen, weil er mit seiner dort stationierten Frau kurdisch gesprochen hatte. Die Angreifer riefen "Dies ist die Türkei!", Herr Yaşlı muss nun ebenfalls im Krankenhaus versorgt werden. Kurz zuvor wurde der 19-jährige Şirin Tosun regelrecht gelyncht und anschließend erschossen, ebenfalls, weil er Kurdisch gesprochen hatte.

Vorige Woche schrieb Ciğdem Toprak in der "Welt", es gebe in der Türkei Vorurteile und Diskriminierung, aber keinen "Rassismus" - sprich: es gebe keine institutionellen Mechanismen, die Kurden qua Rasse etwa von hohen Positionen im Staat ausschließe. Es stimmt, ein Kurde kann in der Türkei Präsident werden - aber nur, wenn er niemals Kurdisch spricht und noch jede menschenverachtende Politik des türkischen Staates mitmacht - etwa die grausamen "Antiterroreinsätze" in den mehrheitlich kurdischen Gebieten.

Es ist darüber hinaus auch rassistisch, den Kurden das Recht auf einen eigenen Staat abzusprechen: warum sollen sie nicht haben dürfen, was Türken, Araber, Perser, Deutsche und Franzosen haben? Der Nationalstaat ist sicher nicht die schönste Erfindung der letzten Jahrhunderte, aber es ist wichtig zu begreifen, dass sich die Diskriminierung der Kurden nicht bloß in direkter Gewalt ausdrückt.

An türkischen Universitäten wird türkische Literatur unterrichtet und die Größe der türkischen Nation und Geschichte besungen - in Syrien und Irak wird dasselbe Menü auf Arabisch serviert. Warum sollen die Kurden keine eigenen Universitäten haben, um ihren Nationalwahn an kurdischen Universitäten auszuleben?

Ausgrenzung von Nichtmuslimen

Frau Toprak spricht weiterhin davon, dass Türken, Kurden und Armenier, Muslime, Aleviten und Christen gemeinsam in der Armee dienen. Zunächst sollte daran erinnert werden, dass der türkische Staat lange ein internes System zur Markierung von Staatsbürgern verwendete, in dem Menschen gemäß ihrer Abstammung mit bestimmten Buchstaben versehen werden - Nichtmuslime waren für höhere Dienstgrade nicht zugelassen. Diese Methode wurde ohne Wissen der Betroffenen über Jahrzehnte angewandt.

Gedenken an den ermordeten Agos-Journalisten Hrant Dink; Foto: AFP/Getty Images
Als Hrant Dink am 19. Januar 2007 von einem jungen türkischen Nationalisten vor der Redaktion seiner Zeitung "Agos" in Istanbul erschossen wurde, sandte dies eine Schockwelle durch das Land. Tausende Türken gingen nach dem Mord an dem türkisch-armenischen Journalisten unter dem Motto "Wir sind alle Armenier" auf die Straße, um ihre Solidarität zu zeigen.

Was nicht-Muslimen innerhalb der Armee (außer der alltäglichen Erniedrigung und der zahllosen Schwüre auf die türkische Nation und den Islam) so blüht, lässt das Schicksal von Sevag Balıkçı erahnen. Zunächst unterrichtete die Armee seine Familie, er habe Selbstmord begangen, zufälligerweise am 24. April, dem Gedenktag an den Völkermord an den Armeniern. Später stellte sich heraus, dass seine Kameraden ihn mit einem Kopfschuss gezielt ermordet hatten, auch wenn die Behörden nach wie vor von "fahrlässiger Tötung" sprechen.

Er ist nicht der einzige Armenier, der in jüngerer Vergangenheit Opfer des türkischen Nationalismus wurde. Noch frisch im Gedächtnis ist der Mord am armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink, der auf offener Straße in Istanbul von einem jungen Nationalisten erschossen wurde. Viele Menschen in der Türkei, gerade unter den Sicherheitskräften, solidarisierten sich mit dem Mörder, nicht mit dem Opfer.

Kriegsunterstützung ist kein harmloser Lokalpatriotismus

Die Kriegsbegeisterung vieler Menschen in der Türkei soll als familiäre Sentimentalität entschuldigt werden - jeder habe einen Cousin, einen Bruder, einen Sohn oder einen Vater beim Militär. Das stimmt, jeder Mensch hat Verwandte, und solange der türkische Staat alle jungen Männer zu oft gemeingefährlichen und nicht selten völkerrechtswidrigen Einsätzen einzieht, wird sich hieran nichts ändern.

Türkische Panzer; Foto: picture-alliance/Zuma Press/Turkish Defense Ministry
"Man muss hier nichts beschönigen: Motivation hinter dem türkischen Einmarsch ist die Zerstörung kurdischer Autonomie, die Massenabschiebung von Syrern in die besetzten Gebiete - was eine ethnische Säuberung der kurdischen Bevölkerung voraussetzt - und das Ablenken von innenpolitischen Problemen. Nicht zuletzt winken millionenschwere Bauaufträge, die der schwächelnden türkischen Wirtschaft neues Leben einhauchen könnten", schreibt Tayfun Guttstadt

Auch ich habe Cousins im Militär, blutjunge Burschen, die ich gerne lebendig wiedersehen würde. Es sind jedoch genau diese Mechanismen, die durchbrochen werden müssten. Die türkische Gesellschaft sollte begreifen, dass Krieg etwas Verabscheuungswürdiges und der türkische Staat in ganz erhebliche Verbrechen verwickelt ist. Selbst wenn man gesetzlich dazu verpflichtet ist, seine Söhne in den Krieg zu schicken, sollte man daran erinnert werden, dass das Beschwören der nationalen Einheit gegen eine zu großen Teilen herbeifantasierte Bedrohung noch nie zu Frieden und Glück geführt hat. 

Langfristig keine Friedensperspektive

Natürlich birgt die Präsenz einer vornehmlich kurdischen und mit der PKK organisch verbundenen militärischen Einheit aus Sicht der Türkei ein Risiko mit sich, doch hat die PYD bis heute kein einziges Mal türkisches Territorium angegriffen. Interessanterweise machte die Türkei solche Sicherheitsbedenken nie während all der Jahre geltend, in denen der IS große Teile des Iraks und Syriens kontrollierte.

Man muss hier nichts beschönigen: Motivation hinter dem türkischen Einmarsch ist die Zerstörung kurdischer Autonomie, die Massenabschiebung von Syrern in die besetzten Gebiete - was eine ethnische Säuberung der kurdischen Bevölkerung voraussetzt - und das Ablenken von innenpolitischen Problemen. Nicht zuletzt winken millionenschwere Bauaufträge, die der schwächelnden türkischen Wirtschaft neues Leben einhauchen könnten.

Die Kurden hingegen werden sich weiter politisieren und im schlimmsten Fall radikalisieren. Auch die Türkei wird so langfristig keinen Frieden finden. 

Diesen völkerrechtswidrigen Einmarsch zu unterstützen, ob durch das Hissen von Flaggen, das Zeigen des Militärgrußes oder durch Verharmlosung der türkischen Aggression, verträgt sich in keiner Weise mit den Grundprinzipien einer demokratischen und gerechten Gesellschaft.

 

Tayfun Guttstadt

© Qantara.de 2019

Tayfun Guttstadt ist in Hamburg geboren und hat Islamwissenschaften und Musikwissenschaften in Hamburg sowie den „Master Religion und Kultur“ an der HU Berlin studiert. Er lebt als Musiker und Autor in Berlin.