"Das Demokratiedefizit schadet der Türkei"

Patente statt politische Prozesse, Nobelpreise statt Kulturkampf: Der türkische Ökonom und Schriftsteller Mehmet Altan, der für 21 Monate in Haft war, analysiert im Interview mit Gezal Acer die politische Entwicklung nach dem Ende des Ausnahmezustands.

Von Gezal Acer

Offiziell ist der Ausnahmezustand in der Türkei zu Ende. Stattdessen gibt es nun Staatspräsidenten-Dekrete. Was ändert sich wirklich?

Mehmet Altan: Es gibt die Vermutung, dass der Ausnahmezustand in ein ständiges Rechtssystem verwandelt werden soll. Ich habe immer gesagt, dass Gesellschaften keinen Frieden finden, wenn es bei ihnen keine Demokratie nach EU-Standards, Pluralismus, Freiheit und Grundrechte gibt. Deswegen bin ich auch bestraft worden.

Je mehr eine Gesellschaft Demokratie verinnerlicht, umso gesünder und friedlicher ist sie. Alles, was im Widerspruch zu Demokratie steht, schadet der Türkei.

Sie haben EU-Standards angesprochen. Wie bewerten Sie die Haltung der EU gegenüber der Türkei?

Altan: Ein Problem der Türkei ist, dass es ihr nicht gelingt, eine Außenpolitik und eine Zukunft zu gestalten, die der Dynamik des 21. Jahrhunderts entspricht. Es wäre gut, wenn die EU klar machen würde, dass auch die Türkei von Demokratie profitieren und dass Demokratie der Gesellschaft Frieden bringen würde. Die Türkei wird die EU nicht so schnell aufgeben. Sie ist ein wichtiger wirtschaftlicher Partner.

Einsatz für die Freilassung Mehmet Altans in der Türkei Foto Getty Images _Rose
"Es gibt die Vermutung, dass der Ausnahmezustand in ein ständiges Rechtssystem verwandelt werden soll. Ich habe immer gesagt, dass Gesellschaften keinen Frieden finden, wenn es bei ihnen keine Demokratie nach EU-Standards, Pluralismus, Freiheit und Grundrechte gibt": Der Ökonom und Schriftsteller Mehmet Altan, Bruder des inhaftierten Journalisten Ahmet, war selber für 21 Monate in Haft“.

Sie selbst wurden mit der Begründung, "unterschwellig" Botschaften zu verbreiten, festgenommen und wegen "Teilnahme am Putschversuch" inhaftiert. Das Verfassungsgericht entschied, dass die Haft rechtswidrig war. Auf Beschluss eines regionalen Gerichts kamen Sie frei. Wie ist ihre rechtliche Situation heute?

Altan: Lassen Sie es mich ganz einfach erklären: Das Verfassungsgericht ist die oberste Instanz der türkischen Justiz. Sowohl das Verfassungsgericht als auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte haben meine Akte geprüft. In ihr stand, ich sei zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Beide Gerichte kamen aber zu dem Ergebnis, dass ich nicht einmal in Gewahrsam hätte genommen werden dürfen.

Dass ich 21 Monate inhaftiert war, ist illegal. Noch immer muss ich einmal pro Woche bei der Polizei vorstellig werden. Ich darf das Land nicht verlassen. Am 21. September geht mein Prozess weiter.

Tausende Menschen wurden im Rahmen der Ermittlungen zum Putschversuch im September 2016 festgenommen und verurteilt, darunter auch ihr Bruder, der Journalist Ahmet Altan. Haben die Ermittlungen wirklich dazu beigetragen, den Putschversuch aufzuklären?

Altan: Der Grund, weshalb ich festgenommen wurde, waren zwei Artikel und ein Kommentar im Fernsehen. Die Aufklärung des Putschversuchs war notwendig. Doch die Bestrafung der Schuldigen hätte nicht so ablaufen dürfen, denn bestraft wurden nicht diejenigen, bei denen wirklich Beweise gefunden wurden. Genau das Gegenteil passierte. Es wurde nicht zwischen den wirklich Schuldigen und denjenigen unterschieden, die die Politik einfach bestrafen wollte.

 

 

Auch Tausende Akademiker wurden entlassen. Gegen viele von ihnen laufen Gerichtsprozesse, und Studenten sind in Gefängnissen, weil sie die Regierung kritisiert haben. Welche Auswirkungen wird all das auf das Land haben?

Altan: In dem Moment, in dem die Politik überall eingreift, führt das zum Zusammenbruch der Gesellschaft. Doch die Türkei bräuchte mehr Nobel-Preise und mehr Patente. Man sollte das 21. Jahrhundert begreifen und danach Bildung und Gesellschaft entsprechend ausformen. Doch es herrscht gerade ein Kulturkampf. Diejenigen, die sich dazu nicht in der Lage fühlen, vertreiben nun auch diejenigen, die dazu fähig wären.

Wie steht es um Ihren Bruder, den weltweit bekannten Autor Ahmet Altan?

Altan: So, wie es für mich keine Gerechtigkeit gab, gibt es auch für ihn keine. In der Türkei spricht man in solchen Fällen von einem "politischen Prozess". Die größten internationalen NGOs, der Europäische Rat und die Vereinten Nationen haben den Prozess verfolgt. Sie haben sich die Akten übersetzen lassen. Sie alle sprechen von einer Inszenierung, in der Ahmet ein inhaftierter Autor, Literat und Denker ist.

Das, was Ahmet im Gefängnis zu Papier bringt, wird heute in der ganzen Welt als Literatur verbreitet. Seine Erfahrungen, die er an einem kleinen Plastiktisch mit zwei weiteren Insassen, die er bis dahin nicht kannte, zu Papier brachte, erscheinen am 21. September beim deutschen Fischer Verlag.

Auch wenn irgendwo das Recht so sehr mit Füßen getreten wird, so gibt es doch zum Glück eine Weltöffentlichkeit, die darauf aufmerksam macht.

Das Gespräch führte Gezal Acer

© Deutsche Welle 2018

Mehmet Altan ist Journalist, Schriftsteller und Ökonom. Er wurde im September 2016 inhaftiert und verbrachte 21 Monate im Gefängnis. Von seiner Professur für Volkswirtschaft an der Universität von Istanbul wurde er per Dekret entlassen. Er arbeitete mehr als 20 Jahre als Kolumnist und schrieb über 50 Bücher. Nach seiner Entlassung wurde im Juni 2018 an der Goethe Universität Frankfurt bei einer Konferenz, an der er nicht teilnehmen konnte, seine Analyse zum Thema "Nationalismus und Islamismus in der Türkei" vorgestellt.