Der Staat bin ich

An vergangenen Montag trat in der Türkei das Präsidialsystem in Kraft. Damit erhält Staatschef Recep Tayyip Erdoğan Befugnisse wie kein anderer politischer Führer in der Türkei vor ihm. Kurz zuvor gab es erneut Massenentlassungen im Staatsdienst. Einzelheiten von Aram Ekin Duran

Von Aram Ekin Duran

Die Türkei ist am Montag (09.07.2018) offiziell vom parlamentarischen System zum Präsidialsystem übergegangen, nachdem Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan seinen Amtseid im Parlament abgelegt hat. Noch am Sonntag hatte er per Erlass mehr als 18.600 Staatsbedienstete entlassen, darunter fast 9.000 Polizisten, rund 6.000 Angehörige der Streitkräfte und 199 Akademiker. Es ist vermutlich der letzte Erlass, bevor der Ausnahmezustand aufgehoben wird, der nach dem Putschversuch im Juli 2016 verhängt worden war. Das könnte nach der Vereidigung Erdoğans am Montag erfolgen.

Gerade einmal 13 Jahre sind vergangen, seit die AKP, deren Gründer und Chef Erdoğan ist, mit der Unterstützung der Bevölkerung die Beitrittsverhandlungen mit der EU begonnen hatte. Damals schien es, als seien Demokratie, Meinungsfreiheit und gesellschaftlicher Frieden auf dem Vormarsch.

Jetzt aber schickt sich die Türkei an, seinen mit den Jahren immer islamistischeren, nationalistischeren und autoritäreren Präsidenten mit einer bislang beispiellosen Machtfülle auszustatten. Er erhält durch die Abschaffung der parlamentarischen Kontrollfunktion die alleinige Verfügungsgewalt über die Exekutive. Und durch seine Befugnis, die wichtigsten Mitglieder des Justizapparats selbst zu bestimmen, wird er auch die Gerichtsbarkeit kontrollieren.

Ersin Kalaycıoğlu vom "Politischen Zentrum" der Sabancı-Universität Istanbul weist darauf hin, dass noch nicht ganz klar sei, wie genau sich das System ändern wird: "Bislang wurde das neue System nur in Grundzügen mit uns diskutiert. Daher kennen weder die Öffentlichkeit noch die Wissenschaftler die genauen Details", so Kalaycıoğlu.

Die autokratischen Züge des Präsidialsystems

Immer wieder betonte Erdoğan, dass auch andere wichtige Demokratien ein Präsidialsystem besitzen. Allerdings unterscheidet sich das neue System der Türkei deutlich etwa vom Präsidialsystem in den USA und dem semipräsidentiellen Regierungssystem in Frankreich. So hat in den USA der Präsident nicht die Befugnis, den Kongress aufzulösen. Erdoğan hingegen kann das Parlament auflösen und Wahlen ausrufen. In Frankreich bestimmt das Parlament die Mitglieder des Verfassungsgerichts. In der Türkei hingegen trifft der Präsident die Entscheidungen, die das hohe Gericht betreffen.

Vereidigung Recep Tayyip Erdoğans im türkischen Parlament in Ankara am 09.07.2018; Foto: picture-alliance/AA
Schalten und walten nach Belieben: Recep Tayyip Erdoğan ist an diesem Montag (09.07.2018) erneut als Präsident vereidigt worden und hat damit mehr Macht als je ein Staatschef der Türkei vor ihm. In einer Zeremonie im Parlament in Ankara legte Erdoğan seinen Amtseid ab. Mit den nun geltenden Verfassungsänderungen übernimmt er die Leitung der Regierung, da das Amt des Ministerpräsidenten abgeschafft wird. Zudem kann das Staatsoberhaupt mit Dekreten teilweise das Parlament umgehen.

Ersin Kalaycıoğlu macht auf die autokratischen Züge des Präsidialsystems in der Türkei aufmerksam. "Sowohl im US-amerikanischen als auch im französischen System gibt es eine ausgeprägte Zivilgesellschaft. Bei uns gibt es diese nicht."

Auch kann Erdoğan in Zukunft regulär mit präsidentiellen Dekreten operieren. Bislang durfte er das nur unter den Regelungen des noch immer geltenden Ausnahmezustands. Damit kann Erdoğan die Judikative jederzeit aushebeln.

Ein Präsidialsystem, das unter einer unabhängigen und unparteiischen Justiz agiert, sei daher so gut wie unmöglich. Der Politikwissenschaftler Doğu Ergil teilt die Befürchtungen seines Kollegen Kalaycıoğlu. Die für eine Demokratie so wichtige Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz seien faktisch aufgehoben, so Ergil.

Ultranationalismus als Gefahr

Offen ist auch die Frage, ob die Allianz, die Erdoğan bei den Wahlen am 24. Juni mit der nationalistischen MHP eingegangen ist, die Anspannung im Land steigern wird. Viele befürchten, dass die harte Haltung der MHP besonders in der Kurdenfrage und ihre Ablehnung einiger demokratischer Werte eine noch nationalistischere Atmosphäre in der Türkei schaffen könnten. Erdoğan braucht die MHP für eine Mehrheit im Parlament. Das könnte das größte Hindernis darstellen für eine friedliche Lösung des Kurdenproblems und für die Annäherung der Türkei an die Normen der Europäischen Union.

Symbolbild Fahnen der Europäischen Union und der Türkei; Foto: picture-alliance/dpa
EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei unter schlechtem Stern: Zwar hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan unlängst den EU-Beitrittswunsch seines Landes bekräftigt und erklärt, dieser Beitritt bleibe strategisches Ziel. Praktisch liegen die Gespräche darüber wegen der innenpolitischen Situation in der Türkei jedoch schon seit geraumer Zeit auf Eis. Die EU-Kommission hatte der Türkei erst im vergangenen April in ihrem letzten Bericht zur EU-Beitrittsreife ihr bisher schlechtestes Zeugnis ausgestellt. Sie attestiere der Türkei schwerwiegende Rückschritte bei der Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit und der Unabhängigkeit der Justiz.

Im Zentrum des Interesses steht auch die Frage, wie sich die Beziehungen zum Westen entwickeln werden. 1999 stellte die Türkei einen offiziellen Antrag auf Mitgliedschaft in der EU, am 3. Oktober 2005 begannen die Verhandlungen zur Mitgliedschaft. In den vergangenen 13 Jahren wurden allerdings keine großen Fortschritte erzielt. Mit dem Beginn des Ausnahmezustands vor zwei Jahren wurden die Verhandlungen de facto gestoppt. Kati Piri, Türkei-Berichterstatterin des EU-Parlaments, sprach sich für eine offizielle Aussetzung der Beitrittsverhandlungen aus.

Während die EU-Türkei-Beziehungen Gefahr laufen, gänzlich auf Eis gelegt zu werden, erlebt auch das Verhältnis zu den USA eine der schwersten Phasen in der Geschichte. Gleich mehrere Streitpunkte belasten die Beziehungen beider Länder: Der von Erdoğan als Drahtzieher des Putschversuchs von 2016 bezichtigte Fetullah Gülen lebt in den USA. Washington arbeitet in Syrien mit der kurdischen YPG zusammen, die von der Türkei als Terrororganisation betrachtet wird. Und die Türkei beabsichtigt trotz Widerspruchs der NATO russische S-400-Raketen zu kaufen. All das hat die Beziehungen zwischen den USA und der Türkei in eine Sackgasse geführt.

Doğu Ergil weist in diesem Zusammenhang auf die jüngsten Meinungsumfragen in der Türkei hin: Demnach seien die USA in der Türkei unbeliebter als im Iran. In der Gesellschaft breite sich eine immer USA- und EU- feindlichere Haltung aus, so Ergil - auch unabhängig von der Politik Erdoğans.

Aram Ekin Duran

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