"Gestohlene Jahre meines Lebens"

Beril Eski besuchte den türkischen Kulturmäzen und Geschäftsmann Osman Kavala im Gefängnis und sprach mit ihm exklusiv über sein Gerichtsverfahren, das Leben im Gefängnis und über sein zivilgesellschaftliches Engagement.

Von Beril Eski

Osman Kavala ist eine der prägendsten Figuren der türkischen Zivilgesellschaft. Seit Oktober 2017 sitzt er im Gefängnis von Silivri in Untersuchungshaft. Die türkische Justiz wirft ihm vor, die Gezi-Park-Proteste im Jahr 2013 finanziert und initiiert zu haben - mit der Absicht, die türkische Regierung zu stürzen. Ihm droht eine lebenslange Freiheitsstrafe.

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Herr Kavala, Sie befinden sich seit über zwei Jahren in Untersuchungshaft. Wie geht es Ihnen?

Osman Kavala: Im Gefängnis bekommt man nicht viel davon mit, was sich draußen abspielt. Ich kann die Ereignisse nicht beeinflussen – manchmal hat man dann Gewissensbisse, weil man nichts unternehmen kann, um negative Entwicklungen zu unterbinden. Oft ist man beunruhigt, weil einem Monate und Jahre des Lebens gestohlen wurden. Ein positiver Nebeneffekt ist wenigstens, dass man ins Grübeln darüber kommt, wie man seine bevorstehende Zeit aktiver und sinnvoller nutzen könnte.

Befinden Sie sich nach wie vor in Isolationshaft?

Kavala: Ich bin in einer Einzelzelle untergebracht, doch ich teile meinen Hof mit einem Häftling aus der Nachbarzelle. Man kann nicht sagen, dass ich ganz allein bin. Denn ich hatte einen Wellensittich in meiner Zelle. Doch leider mussten wir uns verabschieden, weil er krank wurde. Im Frühling siedeln sich aber Spatzen in den vorgefestigten Nestern im Hof an – dann wird es lebendiger. Zurzeit ist der Hof jedoch sehr ruhig. Ich füttere außerdem zwei kleine Schnecken, die ich in meinem Salat gefunden habe – doch wie man sich denken kann, sind die nicht besonders gesprächig.

Was war die schwierigste Erfahrung für Sie hier im Gefängnis?

Gezi-Park-Proteste in Istanbul im Jahr 2013; Foto: picture-alliance/dpa
Haltlose Anschuldigungen: Die Türkei wirft Mehmet Osman Kavala versuchten Sturz der Regierung vor. Er soll 2013 gewaltsame Unruhen rund um den Istanbuler Gezi-Park mitorganisiert haben und am versuchten Staatsstreich 2016 beteiligt gewesen sein. Seit Oktober 2017 sitzt er ohne Gerichtsverfahren in Untersuchungshaft. Türkische Gerichte lehnten mehrere Anträge Kavalas auf Freilassung ab.

Kavala: Diese lange Haftstrafe ist nicht nur für einen selber, sondern auch für die eigene Familie und all diejenigen, die man liebt, eine Qual. Das Leben meiner Frau wurde vollkommen auf den Kopf gestellt.

Und dann ist da noch diese Sache mit den Handschellen. Es ist noch schlimmer, als in einem Raum eingesperrt zu sein, weil es ein Übergriff auf den Körper ist. Wenn ich gesundheitliche Probleme habe, ist das ziemlich schwer für mich, in Handschellen ins Krankenhaus gebracht zu werden oder dort in Handschellen herumgeführt zu werden. Daher bete ich, dass ich keine schweren Krankheiten bekomme.

Es war sehr erdrückend, 16 Monate im Gefängnis zu warten, bis die Anklageschrift endlich vorbereitet war. Ich wusste nicht genau, was mir vorgeworfen wird. Als die Anklageschrift vorlag, wurde mir die Diskrepanz zwischen Anschuldigungen und Beweisen klar. Daher hoffte ich, am ersten oder zweiten Prozesstag freigelassen zu werden. Dass das Gericht weiter am Haftbefehl festhielt, hat mein Vertrauen in die türkische Justiz stark erschüttert.

Wie beurteilen Sie den bisherigen Verlauf des Prozesses?

Kavala: Ich habe keinen Zweifel daran, dass ich freigesprochen werde. Es ist eine höchst unsinnige Behauptung, dass die Gezi-Proteste von ausländischen Mächten geplant, finanziert und durchgeführt wurden - mit dem Ziel die Regierung zu stürzen. Daher gibt es keine Beweise in der Anklageschrift, die die Anschuldigungen stützen. Deshalb mache ich mir keine Sorgen über den Ausgang des Prozesses. Meine Anträge auf Freilassung wurden mit der Begründung abgelehnt, dass für eine Verhaftung keine schlüssigen Beweise erforderlich seien. Ich bin der Einzige, der aufgrund der Gezi-Proteste - an denen mehr als drei Millionen Menschen teilnahmen - noch immer verhaftet ist. Das zeigt doch, wie absurd das Ganze ist.

Der Hauptgrund für Ihre Verhaftung war Ihr Engagement bei den Gezi-Protesten im Jahr 2013. Wie kam es, dass Sie sich damals an den Protesten beteiligten?

Kavala: Wie viele andere habe ich mich damals gegen das Bauvorhaben im Gezi-Park und die damit verbundene Zerstörung des Parks positioniert. Ich kenne den Park seit meiner Kindheit; er war ein Ort, den ich sehr geliebt habe, der mir Ruhe gab. Menschen aus allen Schichten, aus der gesamten Umgebung profitierten von diesem Park. Da auch mein Büro direkt am Gezi-Park liegt, bin ich während der Proteste oft dort vorbei gekommen.

Was hat sich von den Protesten besonders in Ihr Gedächtnis eingegraben?

Kavala: Einige Polizisten setzten Pfefferspray als Waffe ein, ohne sich Gedanken über möglichen Folgen zu machen. Dies hat auch zu Todesfällen geführt: Demonstranten wurden durch Gummigeschosse am Kopf schwer verletzt. Natürlich ist es für mich unmöglich, das zu vergessen.

Was mich damals erstaunt hat, war auch, dass viele junge Leute keine Verbindungen zu einer politischen Organisation oder NGO hatten. Ich vermute, dass die meisten von ihnen zum ersten Mal an einem Protest teilgenommen haben. Sie fühlten einfach ein starkes Verantwortungsbewusstsein zum Schutz des Parks - einen ethischen Drang.

Türkische Polizei im Einsatz gegen Gezi-Park-Demonstranten in Istanbul im Jahr 2013; Foto: picture-alliance/AP Photo
Proteste gegen Bauwahn, ökologische Zerstörung und politische Fremdbestimmung: Im Istanbuler Gezi-Park hatten sich Demonstranten vor sechs Jahren zunächst für Bäume eingesetzt, die einem Bauprojekt zum Opfer fallen sollten. Schnell entwickelten sich daraus landesweite Demonstrationen gegen die Erdogan-Regierung. Der Park ist heute zum Inbegriff für Kritik an der Regierung des damaligen türkischen Ministerpräsidenten und heutigen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan geworden.

Was hat sich in der Türkei seit den Gezi-Protesten verändert?

Kavala: Während der Gezi-Proteste haben wir eine starke Solidarität unter jungen Menschen unterschiedlicher sozialer und kultureller Herkunft erlebt. Das war ein positiver Effekt. Auf der anderen Seite führten die Proteste dazu, dass der Taksim-Platz gewissermaßen zu einer "befreiten Zone" wurde, die die Polizei fast zwei Wochen lang nicht betreten konnte. Das bewirkte eine negative Haltung des türkischen Staatspräsidenten Erdoğan zu sozialen Protesten generell.

Die Sichtweise, dass die Gezi-Proteste von ausländischen Mächten gesteuert wurden, hat sich nach dem Putschversuch am 15. Juli 2016 weiter verfestigt. Meine Verhaftung und die unsinnigen Anschuldigungen gegen mich resultieren aus dieser Veränderung. 

Sie haben sich zivilgesellschaftlich sehr engagiert, bevor Sie ins Gefängnis kamen. Beispielsweise haben Sie nach dem Erdbeben von Gölcük im Jahr 1999 viel Hilfe für die Opfer geleistet. Auch haben Sie im Südosten der Türkei Kulturprojekte und Kinderhilfen organisiert. Haben Sie eine bestimmte Vision?

Kavala: Seit dem Militärputsch von 1980 bin ich davon überzeugt, dass zivilgesellschaftliche Aktivitäten zur Entwicklung der Demokratie beitragen. Der Einfluss von Organisationen, die sich für die Zivilrechte einsetzen, ist in der Türkei nach wie vor begrenzt. Daher haben wir eine Bildungseinrichtung für junge Menschen entwickelt, die sich als Aktivisten in der Zivilgesellschaft einbringen oder in die Politik gehen wollen. Heute verstehe ich mehr denn je, wie wichtig es ist, die Motivation derjenigen zu fördern, die in die Politik gehen wollen. Ich träume davon, nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis ein Projekt aufzubauen, das mit Hilfe von Kunstwerken zu einem besseren Verständnis von rechtlichen Normen und ethischen Werten beiträgt.

Das Interview führte Beril Eski.

© Deutsche Welle 2019