Wer wird sich durchsetzen?

Niemand hätte erwartet, dass die Protestbewegung ihre friedliche Massenmobilisierung über den Verlauf von zwölf Monaten aufrechterhält. Ein grundlegender Systemwandel ist auch in der Post-Bouteflika-Ära ausgeblieben und externe Akteure sollten sich weiter auf Turbulenzen einstellen, meinen Isabelle Werenfels und Luca Miehe.

Essay von Isabelle Werenfels & Luca Miehe

Vielen Prognosen zum Trotz ist das algerische Regime ein Jahr nach Beginn von anhaltenden Massenprotesten weder kollabiert noch hat es zu massiver Gewalt gegriffen. Zur Ruhe gekommen ist das Land dennoch nicht. Daran hat auch die höchst umstrittene Wahl des neuen Präsidenten Abdelmajid Tebboune im Dezember nichts geändert. Dieser wie auch Teile seines Kabinetts stammen aus dem Umfeld des ehemaligen Präsidenten Bouteflika, und vieles spricht dafür, dass das Zentrum der Macht nach wie vor eher beim Militär als beim Präsidenten liegt.

Derweil protestieren jede Woche nach wie vor zehntausende Algerier und Algerierinnen friedlich für eine demokratische Transition und Rechtsstaatlichkeit, gegen den als illegitim betrachteten Präsidenten und für den Rücktritt aller Personen, die korrupten Netzwerken der Bouteflika-Ära (1999-2019) angehörten. Angesichts fehlender Organisations- und Führungsstrukturen, Divergenzen zu Strategien und Zielen sowie Mangel an handfesten Erfolgen ist die konstante Mobilisierung bemerkenswert.

Auch wenn das Regime bislang die Zügel in der Hand behalten hat, stellt sich angesichts der Ausdauer und Entschiedenheit der Protestbewegung (dem sogenannten Hirak) die Frage, wer resilienter sein wird: das Regime oder der Hirak? Offen ist überdies, auf welche Seite sich die "schweigende Mehrheit" der Bevölkerung schlagen wird.

Strategien der Regierung: Zuckerbrot und Peitsche

Präsident Tebboune ringt seit seinem Amtsantritt um Legitimität. Die Signale des Regimes oszillieren zwischen demokratischem Reformversprechen und autoritärer Kontinuität, zwischen Kooptation und Repression. So leitet der Präsident Schritte zur Verfassungsreform ein, ließ knapp 10.000 Gefangene frei und kündigte an, den Anti-Korruptionskampf zu intensivieren, die Verwaltung zu straffen und die Start-Up-Kultur zu stärken. Mehrere mit dem Hirak sympathisierende Personen wurden in die Regierung berufen.

Im Kontrast zu den positiven Signalen Tebbounes stehen indes weiterhin Verhaftungen von Aktivisten und die Tatsache, dass prominente Regimekritiker nach wie vor im Gefängnis sitzen. Der neue Präsident und Generalstabschef versuchen, genauso wie ihre Vorgänger, den Hirak zu spalten und zu diskreditieren, indem sie nationalistische Gefühle instrumentalisieren, Berbersymbole diskriminieren, mit Sicherheitsängsten spielen und die Protestierenden beschuldigen, von außen gesteuert zu sein.

Das Regime setzt ganz offensichtlich auf das Verpuffen der Proteste – ohne sich die Finger durch hartes Eingreifen der Sicherheitskräfte schmutzig zu machen.

Spaltung und Ritualisierung als Gefahren für den Hirak

So einfach dürfte diese Rechnung indes nicht aufgehen. Zu den zentralen Errungenschaften des Hirak gehört die Re-Mobilisierung und Re-Politisierung einer Gesellschaft, die lange Jahre von bürgerlichem Engagement abgehalten worden war: durch Demonstrationsverbote, Sicherheitsorgane, das Trauma des Bürgerkriegs der 1990er Jahre sowie großzügige staatliche Alimentierung.

Den Rückzug Bouteflikas sowie die Korruptionsprozesse gegen politische und wirtschaftliche Eliten hat der Hirak als Etappensiege verbucht.  Solange kein glaubwürdiger demokratischer Wandel in Sicht ist, will er weiter mobilisieren.

Ohne klaren Gegenentwurf zu Tebbounes „Reformagenda“ und ohne Organisationsstruktur laufen die wöchentlichen Märsche aber das Risiko, zum Selbstzweck zu werden. Sie bieten dem Regime Einfallstore für Kooptation und Manipulation. So herrscht bereits profunde Uneinigkeit darüber, wie mit Dialogangeboten des Regimes umgegangenen werden und wie viel (kulturelle) Diversität das künftige Gesellschaftsmodell beinhalten soll. Nicht zuletzt könnten mit wachsender Wirtschaftskrise sozio-ökonomische Forderungen die politischen überschatten.

Anti-Regierungsproteste in der Hauptstadt Algier am 1. Dezember 2019; Foto: AFP/Getty Images/Ryad Kramdi
"Wir sind das Volk": Vor einem Jahr hatten im größten afrikanischen Land Massenproteste gegen die Regierung begonnen. Teilweise waren mehr als eine Million Menschen auf den Straßen. Die wöchentlich anhaltenden Proteste führten schließlich zum Rücktritt von Präsident Abdelaziz Bouteflika, der 20 Jahre an der Spitze Algeriens stand. Die Demonstrationen gingen aber auch danach weiter. Viele sehen in Nachfolger Abdelmadjid Tebboune eine Fortsetzung der alten Eliten.

Allerdings kann das Regime nicht mehr wie in der Vergangenheit sozialen Frieden kaufen. Algerien hat es bislang verpasst, die Abhängigkeit von Öl- und Gaseinnahmen zu reduzieren, die über 90 Prozent der Exporteinnahmen ausmachen. Diese sinken seit 2014 und lassen die Devisenreserven schwinden.

Nun haben die landesweiten Proteste, die Inhaftierung von Konzernchefs im Zuge der Antikorruptionskampagne sowie Importrestriktionen zu massivem Stellenabbau geführt und die Wirtschaftskrise verstärkt. Selbst sofort eingeleitete Reformen könnten eine sozio-ökonomische Krise kaum mehr abwenden.

Perspektiven: Risiko eines dysfunktionalen Staates

Bei allen möglichen Zukunftsszenarien dürfte daher die Wirtschaftslage ausschlaggebend sein. Die aktuellen politischen Reformversprechen von Präsident und Regierung, der so genannte „New deal for a new Algeria“, können vor diesem Hintergrund als Flucht nach vorne gesehen werden. Dabei ist ein Unfall von oben durchaus möglich: Die angekündigten Reformen entgleiten der Kontrolle des Regimes und führen zu einer demokratischen Transition.

Paradoxerweise könnte das verbreitete Misstrauen gegen die Regierung eine solche Dynamik verhindern: Selbst wenn das Regime – oder ein Teil davon – es mit politischen Reformen ernst meinen sollte, würden es viele Algerier und Algerierinnen nicht glauben und möglicherweise gar die Umsetzung erschweren.

Umgekehrt ist eine Verstärkung des autoritären und militärischen Charakters des Systems ebenfalls denkbar, etwa wenn Spillover-Effekten aus Libyen, massive sozio-ökonomische Aufstände oder die Radikalisierung eines harten Kerns des Hirak den „Hardlinern“ im Regime einen Vorwand für mehr Repression geben.

Wahrscheinlicher aber ist: Das Regime kauft sich durch Reformversprechen Zeit. Stabilisierungsängste und wirtschaftliche Sorgen in der Bevölkerung verstärken die Angst vor politischen Experimenten wieder,  und der Hirak wird schwächer. Politische Blockaden und Legitimitätsdefizite verhindern essentielle Reformen und führen zu einer hohen Dysfunktionalität des Staates und im schlimmsten Fall zu Staatsversagen. In diesem Fall hätten sich weder Regime noch Hirak als resilient erwiesen.

Bei all diesen Entwicklungen sind europäische Staaten aufgrund der verbreiteten algerischen Angst vor externer Einmischung weitgehend zum Beobachterstatus verdammt. Der Drahtseilakt für Deutschland und die EU wird folgender sein: Stabilitätsinteressen in Nordafrika zu verfolgen und Algerien, falls gewünscht, bei Wirtschaftsreformen zu unterstützen – ohne dabei den Kampf der Algerierinnen und Algerier für Teilhabe, Freiheit und Demokratisierung durch eine Stärkung des algerischen Regimes zu unterminieren.

Isabelle Werenfels & Luca Miehe

© Qantara.de 2020

Dieser Beitrag ist zuerst bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) als „Kurz gesagt“ erschienen,

Eine Chronologie der Protestbewegung in Algerien seit Februar 2019 von Luca Miehe finden sie hier.