
Dokumentarfilm "The First 54 Years" von Avi MograbiEin "Handbuch für die Besatzung"
Avi Mograbi sitzt in seinem Sessel wie ein Märchenonkel. In der Hand hält er ein Buch, eine fiktive "Gebrauchsanweisung für militärische Besatzungen". Ab und zu raucht Mograbi eine Zigarette, eigentlich hätte ihm eine Pfeife besser zu Gesicht gestanden. Seine ruhig vorgetragenen, oft beschwörenden "Anweisungen für erfolgreiche Besatzer" werden ergänzt von schockierenden Erfahrungsberichten israelischer Soldaten.
Für den Film greift Avi Mograbi auf umfangreiches Material der israelischen Nichtregierungsorganisation Breaking the Silence (dt.: "Das Schweigen brechen") zurück. Seit 2004 hat die Organisation Zeugenaussagen von israelischen Militärangehörigen gesammelt, die in den besetzen Gebieten eingesetzt waren. Manchmal anonym, oftmals aber auch mit ihrem vollen Namen, berichten die ehemaligen Soldaten von kleineren Verstößen und schwersten Vergehen gegen die Menschenrechte. Dabei will die Organisation der israelischen Öffentlichkeit zeigen: Bei den Verstößen handelt es sich nicht um vereinzeltes Fehlverhalten, sondern sie sind ein Ergebnis der langjährigen Besatzung und eines dauerhaft etablierten Unrechtssystems, das es zu beenden gilt.
Darum geht es auch Mograbi: Die Auswahl der von Breaking the Silence gesammelten Zeugenaussagen gruppiert er für seinen „Besatzungsleitfaden“ in chronologische und inhaltliche Kapitel. So will er der Frage auf den Grund gehen: Wie ist es möglich, über 54 Jahre eine Besatzungssituation aufrecht zu erhalten?
Mit düsterer Ironie
Breaking the Silence ist in Israel massiven Angriffen ausgesetzt und längst zum Feindbild der israelischen Rechten geworden. 2017 wollten Netanyahu und seine Unterstützer verhindern, dass der damalige deutsche Außenminister Sigmar Gabriel sich mit Breaking the Silence und der prominenten israelischen Menschenrechtsorganisation Btselem trifft – letztlich ohne Erfolg.

Auch in Deutschland wurde Breaking the Silence in Frage gestellt. Wer aber jede Kritik der israelischen Linken verhindern will, leistet einen Beitrag zur Beseitigung der israelischen Demokratie. Besonders zu einem Zeitpunkt, an dem Netanyahu bei den Wahlen am 23. März mit einer Partei kooperiert, die sich in der Nachfolge der verbotenen rechtsextremistischen Kach Partei von Meir Kahane sieht. Klassische Anhänger der Zweistaatenlösung und Kritiker der israelischen Siedlungspolitik, wie die Meretz-Partei, müssen derweil bei der Wahl um den Einzug in die Knesset bangen.
Denjenigen israelischen Künstlern, die wie Mograbi den Mut haben, das Besatzungssystem anzuprangern, sollte also eigentlich größter Respekt gelten. Sie sind die Leuchttürme israelischer demokratischer Kultur, müssen aber viel Kritik von vermeintlichen Freunden Israels einstecken. Besonders Mograbi, denn sein Film ist geprägt von rabenschwarzer Ironie. Wer ein Land besetzen wolle, so seine These, könne viel von der israelischen Besatzung lernen.
In Kapitel eins („Erste Schritte 1967-87“) empfiehlt er daher Besatzern, ihr Ziel nicht aus den Augen zu verlieren: Schon 1967 ziehen die ersten Siedler in die Westbank. Wer sich besetztes Land aneignen wolle, müsse mit dem Transfer von Bevölkerung so schnell wie möglich beginnen. "Außerdem", so zitiert Mograbi aus seinem vermeintlichen Handbuch, "ist es wichtig, die Rückkehr von Flüchtlingen zu verhindern." 250.000 Menschen fliehen während des Krieges 1967 aus der Westbank, ein Fünftel der damaligen Bevölkerung. Wie alle Hinweise aus Mograbis Leitfaden wird auch ihre Flucht mit konkreten Berichten ehemaliger israelischer Soldaten illustriert.
Geboren ohne Bürgerrechte
Ein weiterer Baustein in Mograbis fatalistischem Erfolgsrezept ist die "Normalisierung" der Besatzung. "Der Lebensstandard der besetzten Bevölkerung muss verbessert werden, damit sie etwas zu verlieren haben. Am besten stellt man dazu Arbeitserlaubnisse im Land des Besatzers aus." Allerdings müsse klar sein, wer die Regeln aufstellt und dass sie befolgt werden müssen. Proteste und Widerstand müssten um jeden Preis gebrochen werden. Dazu gelte es, die Solidarität unter der besetzen Bevölkerung zu untergraben und das soziale Gefüge zu zerstören. Als Mittel dazu könne ein Netz von Informanten dienen sowie die ausgewählte Bestrafung einzelner Dörfer, Familien und Individuen.
Anhand von Zeugenaussagen von Ex-Soldaten wird klar: Mograbis bittere Empfehlungen entspringen nicht seiner Fantasie. In den besetzten Gebieten agiert die israelische Armee willkürlich. Im Gegensatz zu den Siedlern, für die israelisches Recht gilt, steht die gesamte palästinensische Bevölkerung unter Militärrecht. Wie dieses "Recht" systematisch entrechtet, hat 2019 Human Rights Watch in dem eindrücklichen Bericht "Geboren ohne Bürgerrechte" dokumentiert. Kommt es zu einem Prozess, sind Richter wie Pflichtverteidiger Angehörige der israelischen Armee. Vor dem Militärgericht sind Palästinenser auch wegen Bagatellvergehen willkürlichen Urteilen ausgesetzt, etwa wenn sie falsch geparkt oder ihre Elektrizitätsrechnung nicht bezahlt haben: Zivile Verfahren gibt es nicht.
Mograbis zynische "Empfehlungen" entblößen das reale Drehbuch der israelischen Besatzung und legen nahe, dass die Strategie von vornherein einem klaren Plan folgte. Aus den entsprechend zusammengestellten Zeugenaussagen der Soldaten fügen sich die einzelnen Taten in diesen übergeordneten Plan ein. 1978 gab es lediglich 120 Siedlungen mit 50.000 Siedlern im Westjordanland. Heute leben dort bereits 600.000 Siedler.
Die Frustration der Palästinenser über die anhaltende Besatzung bricht sich 1987 in der ersten Intifada Bahn. Jetzt beginnt für Mograbi die zweite Phase von 1987 bis 2000, die er mit "Kontrollverlust" tituliert. Die israelische Reaktion auf die Proteste ist brutal. Der spätere Oslo-Architekt und zweimalige Ministerpräsident Yitzchak Rabin empfahl seinen Soldaten, den Palästinensern "Arme und Beine zu brechen" und die Aussagen der Soldaten belegen, dass sie das durchaus wörtlich verstanden haben. Einige Soldaten haben noch heute die Armeestöcke zu Hause, mit denen sie den Widerstand regelrecht niederknüppeln sollten.