Erdoğans hausgemachte Rivalen

Seit 18 Jahren liegt die Regierungsverantwortung fest in den Händen Erdoğans. Doch jetzt steht seine Partei vor einer ernsthaften Herausforderung: Einige AKP-Schwergewichte haben das sichere Schiff verlassen, um ihre eigenen Parteien zu gründen. Von Ayşe Karabat aus Ankara

Von Ayşe Karabat

In den letzten 18 Jahren hat die türkische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) unter der strengen Führung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan das Gesicht der türkischen Politik erheblich verändert. Dies liegt größtenteils daran, dass es bislang keine wirklich starke Opposition gab. Nun aber wird die Parteiführung der AKP gleich von drei verschiedenen Gruppen herausgefordert:

Die erste von ihnen ist eine politische Partei namens "Zukunftspartei", die am 13. Dezember gegründet wurde und vom ehemaligen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu angeführt wird. Die zweite sammelt sich um den ehemaligen stellvertretenden Ministerpräsidenten Ali Babacan. Er macht mittlerweile mit dem ehemaligen Präsidenten Abdullah Gül gemeinsame politische Sache und wird vermutlich innerhalb weniger Wochen offiziell eine weitere Partei gründen.

Die dritte Gruppe setzt sich aus jenen politischen Kadern zusammen, die immer noch der AKP angehören, aber führerlos sind und zögern, sich den anderen beiden Gruppen anzuschließen. Trotzdem teilen sie eine gemeinsame Sorge: Die AKP sei nicht mehr die Partei, der sie einst beigetreten waren. Einer dieser Kritiker ist Mustafa Yeneroğlu, der seine Beschwerde über die Partei und ihre undemokratischen Praktiken offen geäußert hat. Im Oktober wurde er – auf Veranlassung Erdoğans – gezwungen, aus der AKP auszutreten.

Alle dieser Dissidenten glauben, die AKP habe sich in eine hochgradig zentralisierte Körperschaft verwandelt, die heute durch Vetternwirtschaft und Verbote bestimmt ist. Als die AKP erstmals an die Macht kam, sei ihr politisches Programm hingegen noch freiheitlich geprägt gewesen.

Klima der Angst

Als Davutoğlu seine Antrittsrede als Gründer der Zukunftspartei hielt, sprach er von der Notwendigkeit, gesellschaftliche Restriktionen abzubauen, wobei er insbesondere die Bedeutung einer freien Presse betonte: "Trotz all dem Druck und dem Klima der Angst, das immer mehr angefacht wird, sind wir gemeinsam hier, um eine blühende Zukunft für unser Land zu entwerfen."

Bildcombo Ahmet Davutoğlu (l.) und Präsident Recep Tayyip Erdoğan; Foto: REUTERS/Alp Eren Kaya/Laszlo Balogh/Getty Images
Rivalen gegen den langjährigen Regenten: Ahmet Davutoğlu ist nicht der einzige Herausforderer des mächtigen Präsidenten aus dem eigenen Lager. Ali Babacan (52), ehemaliger Wirtschafts- und Außenminister und AKP-Mitbegründer, will noch im Dezember ebenfalls eine neue Partei gründen. Der frühere Präsident Abdullah Gül soll ihn beraten; auch er war bei der AKP von Anfang an dabei.

Auch Babacan äußerte am 26. November in einem seltenen Interview mit dem Privatsender Habertürk seine Sorgen über das neue Klima der Angst: Er sagte, insbesondere die türkischen Jugendlichen fürchteten sich, Tweets zu verfassen – da sie befürchteten, sie könnten, wenn sie ihre Gedanken ausdrücken, auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt werden. "Die Probleme der Türkei werden größer, und wir haben das Gefühl, das Land habe einen dunklen Tunnel betreten", sagt er.

Ruşen Çakır, der leitende Herausgeber der unabhängigen Nachrichtenplattform Medyascope, betont hingegen, dass keiner der beiden den Namen der Person nennt, die für dieses "Klima der Angst" und den "dunklen Tunnel" verantwortlich ist: "Irgendwann werden Babacan und Davutoğlu sicherlich mit dem Finger auf Erdoğan zeigen, aber ihre momentane Einstellung stellt ihre Glaubwürdigkeit in Frage. Sie und andere Abtrünnige waren bisher in der AKP aktiv und sind daher, wenn auch nur teilweise, mitverantwortlich für die politische Atmosphäre, die sie jetzt so unerträglich finden", meint Çakır.

Damit spiegelt er auch die Meinungen anderer Kolumnisten und Experten wider, die argumentieren, diese ehemaligen AKP-Mitglieder sollten ihre eigene Rolle bei der Entstehung des momentanen Klimas kritischer hinterfragen.

Nachdem gegen Davutoğlu ein Disziplinarverfahren eröffnet wurde, trat er im September aus der AKP aus. Auch Babacan war bis zu seinem Austritt im Juli Mitglied der AKP. Beide üben nun offene Kritik an der rigorosen Parteidisziplin und haben versprochen, ihre neuen Parteien würden einen besonderen Schwerpunkt auf Mechanismen politischer Beratung legen.

Beide wehren sich auch gegen das 2017 eingeführte Präsidialsystem und setzen sich dafür ein, zur parlamentarischen Demokratie zurückzukehren. Sie versprechen, sich integer zu verhalten und die Gesellschaft nicht zu polarisieren.

Geteilte Meinung zur Kurdenproblematik

Ein weiteres Problem liegt darin, dass die AKP-Dissidenten ihren Standpunkt zum Kurdenkonflikt nicht wirklich klar artikulieren – einem der größten innen- und außenpolitischen Themen der Türkei überhaupt.

In seiner Antrittsrede betonte Davutoğlu zwar, wie wichtig das Recht auf Ausbildung in der eigenen Muttersprache ist, doch dabei erwähnte er nicht explizit die kurdische Sprache. In seinem Parteiprogramm steht allerdings, die Kurdenproblematik habe sich deshalb verschärft, weil es allgemein an Demokratie mangele.

Babacan wiederum behauptete im November in einem Interview mit der Zeitung Karar, für die Kurdenfrage sei unter anderem die sozioökonomische Unterentwicklung verantwortlich. Er versicherte, für seine Partei habe dieses Thema Priorität. Einige ehemalige Minister wie Sadullah Ergin und Beşir Atalay, die bei den vergangenen Bemühungen der AKP, dieses Problem zu lösen, aktiv beteiligt waren, arbeiten nun mit Babacan zusammen.

Pro-Kurdish People’s Democratic party (HDP) lawmakers are surrounded by riot police as they protest against detention of their local politicians on 21 October 2019 in Diyarbakir, Turkey (photo: Reuters/Sertac Kayar/File Photo)
Babacan's party more likely to appeal to the Kurds: "It is likely that Davutoglu’s party will mainly seek the votes of conservatives and religiously sensitive individuals, while Babacan’s party will seek the support of centrists. This would reflect their attitude towards the Kurdish issue and the attitude of Kurdish voters towards them," said political analyst Vahap Coskun

Vahap Coşkun, ein politischer Analyst und Rechtswissenschaftler an der Diyarbakır-Dicle-Universität, sagte gegenüber Qantara.de, in der momentanen nationalistischen Atmosphäre überrasche es nicht, dass sich beide neuen Bewegungen um einen ausgewogenen Diskurs bemühen: "Wahrscheinlich versucht Davutoğlus Partei hauptsächlich, die Stimmen konservativer und religiöser Wähler zu bekommen, während Babacans Partei sich um die Unterstützung der politischen Mitte bemüht. Dies spiegelt sich dann auch in ihrem Ansatz gegenüber dem Kurdenkonflikt und der Einstellung der kurdischen Wähler ihnen selbst gegenüber wider", meint Coşkun und deutet an, dass Babacans Partei bei den Kurden beliebter sein könnte.

Außerdem betont er, die momentane Regierung habe versucht, sämtliche Schuld für die Versäumnisse der türkischen Syrienpolitik Davutoğlu in die Schuhe zu schieben, womit einige kurdische Wähler sicherlich einverstanden gewesen seien.

Gurkan Zengin, der Verfasser von Davutoğlus Biografie, teilte Qantara.de mit, tatsächlich würden sich Davutoğlus und Babacans Partei zukünftig wohl hauptsächlich in außenpolitischer Hinsicht unterscheiden: "Davutoğlu will eine Außenpolitik fortsetzen, die er selbst mit entworfen hat – eine mehrdimensionale, vielschichtige Politik, die nicht nur die euro-atlantischen Beziehungen einbezieht, sondern auch China, Russland und den Nahen Osten. Babacan hingegen macht den Eindruck, seine Partei werde sich außenpolitisch auf den europäisch-atlantischen Raum konzentrieren."

Ein weiterer Grund dafür, dass die beiden unterschiedliche Wege verfolgen, liegt in ihrer parteipolitischen Organisationsform: Beide betonen, politische Beratung sei ihnen sehr wichtig, doch Babacan will seine Partei anhand von Kadern organisieren, während Davutoğlus Organisation ihn selbst in den Mittelpunkt stellt.

Gemeinsame Sache

Eins könnte die beiden allerdings zusammenbringen, und das ist die Möglichkeit, mit dem Oppositionsblock gemeinsame Sache zu machen. Das Präsidialsystem, das nach der Volksabstimmung im Jahr 2017 in Kraft trat und zur Wahl eines Präsidenten eine Mehrheit von über 50 Prozent der Stimmen erfordert, erfordert die Bildung von Koalitionen zwischen politischen Parteien.

Bei der Parlamentswahl von 2018 erlangten die AKP und ihre Bündnispartnerin, die Nationalistische Bewegung (MHP), eine parlamentarische Mehrheit von zusammen 53,7 Prozent. In der ersten Runde lag Erdoğan mit 52,6 Prozent der Präsidentschaftsstimmen vorn. Verliert die AKP nun einen Teil ihrer Stimmen an die neuen Parteien, können diese geringen Mehrheiten natürlich leicht verloren gehen. Mehrere Meinungsumfragen legen nahe, dass ein solches Szenario leicht möglich ist: Sie schätzen die öffentliche Unterstützung für Davutoğlus Zukunftspartei auf 3,4 Prozent und diejenige für Babacans Partei sogar auf fast 8 Prozent.

Eine Neuwahl ist vermutlich nicht vor 2023 zu erwarten, allerdings geht die Opposition davon aus, die Regierung werde sich für vorgezogene Wahlen einsetzen, bevor die beiden neuen Parteien die rechtlichen Voraussetzungen für eine Wahlbeteiligung erfüllen. Ebenso ist noch nicht klar, wie sich die Oppositionsparteien gegenüber den beiden Neubewerbern verhalten werden.

Aber die türkische Politik ist jederzeit für eine Überraschung gut. Erdoğan, der die Abtrünnigen bereits im Visier hat, könnte versuchen, sie davon zu überzeugen, sich wieder seiner AKP anzuschließen. Eins ist dabei allerdings sicher: Die Unterstützung für Erdoğan bröckelt. Allein in den letzten beiden Monaten hat seine Partei 57.000 Mitglieder verloren. Und dieser Trend wird sich in Zukunft wohl noch fortsetzen – wenn nicht gar verstärken.

Ayşe Karabat

© Qantara.de 2019

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff