Nährboden für häusliche Gewalt

Die Ausgangssperren in der Corona-Krise fördern Gewalt gegen Frauen - auch in der Türkei. Bestehende Gesetze werden nicht angewandt und die Regierung tue nichts für die Opfer, kritisieren Frauenrechtlerinnen. Von Pelin Ünker und Daniel Derya Bellut

Von Pelin Ünker & Daniel Derya Bellut

Soziale Isolation und Quarantäne - das sind die Mittel, auf die auch die türkische Regierung setzt, um die Corona-Krise zu bewältigen. Die Bevölkerung soll das Haus möglichst nicht verlassen und für alle über 65 Jahren und unter 20 Jahren gilt eine Ausgangssperre. So sind auch türkische Männer in diesen Tagen besonders viel zuhause im Kreis der Familie - und diese Situation ist nach Ansicht von Frauenrechtsaktivistinnen ein Nährboden für häusliche Gewalt.

Seit es Ausgangsbeschränkungen wegen des Coronavirus gibt, wird in vielen Ländern vermehrt Gewalt gegen Frauen registriert - darunter in China, Italien, Spanien, Deutschland oder Kanada. In der Türkei gibt es zwar noch keine offiziellen Zahlen, doch Frauenorganisationen sehen eine Zunahme an Gewalt gegen Frauen.

Notfall-Hotlines laufen heiß

"Es gehen deutlich mehr Anrufe bei unseren Notfall-Hotlines ein", sagt Gülsüm Kav, Vorsitzende des Vereins "Wir werden Frauenmorde stoppen". Denn Frauen und Kinder, die zuhause Gewalt erleben, könnten den Gewalttätern während der Quarantäne nicht entkommen.

Das erkläre andererseits auch, dass in manchen Ländern wie Italien die Anrufe bei den Hotlines stark zurückgingen: In den ersten drei Märzwochen sei die Zahl der Anrufe im Vergleich zum Vorjahr um 55 Prozent gesunken. Im Bericht eines italienischen Parlamentsausschusses heißt es, dieser Rückgang sei nicht auf eine Abnahme häuslicher Gewalt zurückzuführen - er sei eher ein Zeichen dafür, dass die Opfer durch die gemeinsame Isolation dem häuslichen Aggressor ausgeliefert seien und nicht ungehört telefonieren könnten.

Gülsüm Kav, Vorsitzende des Vereins "Wir werden Frauenmorde stoppen"; Foto: DW
Anlass zur Besorgnis: Angesichts der Corona-Krise häufen sich die Fälle häuslicher Gewalt – auch in der Türkei. "Es gehen deutlich mehr Anrufe bei unseren Notfall-Hotlines ein", sagt Gülsüm Kav, Vorsitzende des Vereins "Wir werden Frauenmorde stoppen".

In der Türkei sei das eigene Heim der Ort, an dem Frauen der meisten Gewalt ausgesetzt seien, stellt Selin Nakipoglu fest, Anwältin und Mitglied der Frauenplattform TCK 103. "60 Prozent der Frauenmorde resultieren aus häuslicher Gewalt." Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt ein Bericht der türkischen Polizei, der dokumentierte, dass die häufigsten Schauplätze von Frauenmorden, nämlich 72,8 Prozent, Wohnungen, Siedlungen und verlassene Wohnstätten gewesen seien. Laut des Vereins "Wir werden Frauenmorde stoppen" wurden vom 11. bis 31. März diesen Jahres 21 Frauenmorde registriert.

Kreative Lösungen gegen Gewalttäter - in anderen Ländern

Aktivistin Gülsüm Kav verweist auf Lösungsansätze in anderen Ländern. In Frankreich nahmen mit der Ausgangssperre die Fälle häuslicher Gewalt um 30 Prozent zu. Die französische Regierung verfügte daraufhin, dass betroffene Frauen über die nächstgelegene Apotheke die Polizei informieren können. Falls der Gewalttäter die Frau begleitet, kann sie mit einem geheimen Codewort eine Notsituation andeuten. Ähnliche Maßnahmen gelten auch in Spanien. Die französische Regierung kündigte zudem an, bis zu 20.000 Zimmer in Hotels für Betroffene zu reservieren, in französischen Einkaufszentren wurden 20 Beratungsstellen eingerichtet.

Auch der kanadische Premierminister Justin Trudeau engagiert sich gegen häusliche Gewalt in der Corona-Krise, er verabschiedete ein Unterstützungspaket in Höhe von insgesamt 50 Millionen US-Dollar. Das Geld soll an Frauenhäuser, Zentren gegen sexualisierte Übergriffe und Kinderheime fließen. In Australien wird für Opfer häuslicher, familiärer und sexualisierter Gewalt sogar ein Paket von 92 Millionen US-Dollar erwartet.

Selin Nakipoglu; Foto: privat
In der Türkei sei das eigene Heim der Ort, an dem Frauen der meisten Gewalt ausgesetzt seien, stellt die Anwältin Selin Nakipoglu fest. "60 Prozent der Frauenmorde resultieren aus häuslicher Gewalt."

In der Türkei sieht das bisher anders aus. "Obwohl wir das schon seit einiger Zeit fordern, wurde noch kein Notfallpaket wie in diesen Ländern angekündigt", so Gülsüm Kav. "Wir bekommen keine Erklärung dafür, warum neben den Maßnahmen gegen das Coronavirus nicht auch Schritte eingeleitet wurden, um die Frauen zu schützen."

Türkei: Anti-Gewalt-Gesetze nicht angewandt

Frauenrechtsgruppen setzen dabei auf die Istanbul-Konvention, ein Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt aus dem Jahr 2014. Die Unterzeichnerländer haben sich verpflichtet, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen. Die Türkei ratifizierte das Übereinkommen vor fünf Jahren und ließ es als Gesetz zur Vorbeugung von Gewalt gegen Frauen und zum Schutz der Familie rechtlich verankern.

Doch in der Praxis, sagen Kritikerinnen und Kritiker, werden die Rechtsnormen der Istanbul-Konvention nicht angewandt und die vorgesehenen Hilfsangebote und Schutzmaßnahmen für Frauen nicht realisiert.

Gülsüm Kav hofft außerdem auf das türkische Gesetz 6284 aus dem Jahr 2012. Es wurde zusammen mit Frauenrechtsorganisationen verfasst. Es soll Frauen vor Gewalt schützen und finanzielle Leistungen oder Schutzunterkünfte für Betroffene bereitstellen. Opfer können auch Kontaktverbote gegen Täter verhängen lassen. Doch auch dieses Gesetz, so bemängeln Frauenorganisationen, werde kaum angewandt. Viele Aktivistinnen fordern nun, dass die türkische Justiz gerade jetzt - in Zeiten der Corona-Pandemie - das Gesetz 6284 endlich zur Rechtsprechung nutzt.

Pelin Ünker und Daniel Derya Bellut

© Deutsche Welle 2020