Schwierige Suche nach Migranten

Rund ein Zehntel der Menschen, die der verheerenden Flut in Libyen zum Opfer fielen, stammen aus anderen Ländern. Einige davon arbeiteten im Land, für andere war es nur ein Zwischenstopp.
Rund ein Zehntel der Menschen, die der verheerenden Flut in Libyen zum Opfer fielen, stammen aus anderen Ländern. Einige davon arbeiteten im Land, für andere war es nur ein Zwischenstopp.

Rund ein Zehntel der Menschen, die der verheerenden Flut in Libyen zum Opfer fielen, stammen aus anderen Ländern. Einige davon arbeiteten im Land, für andere war es nur ein Zwischenstopp. Von Islam Alatrash aus Libyen und Cathrin Schaer

Von Islam Alatrash & Cathrin Schaer

Fast zwei Wochen sind vergangen, seit verheerende Überschwemmungen den Osten Libyens heimsuchten, doch Aisha al-Imam hat noch immer nichts von ihrem Ältesten gehört. Er wollte in zwei Monaten heiraten und war nach Libyen gegangen, um auf dem Bau Geld für die Hochzeitsfeier zu verdienen, erzählt sie der Deutschen Welle (DW) unter Tränen in einem Telefongespräch.

"Der Verlust ist für uns unfassbar", sagt die Frau aus der Provinz Bani Suwaif in Mittelägypten. "Es ist für das Dorf nur schwer zu ertragen. Hier gibt es keinen einzigen Haushalt, der keinen Verlust erlitten hat."

Bani Suwaif zählt zu den ärmsten Regionen Ägyptens, etwa 60 Prozent der Bevölkerung leben hier unter der Armutsgrenze. Von den rund 250 ägyptischen Todesopfern, die von den libyschen Behörden bereits identifiziert wurden, stammt etwa die Hälfte aus dem Dorf Nazlet el-Sharif in der Region Bani Suwaif. Die verzweifelte Mutter hat nur einen Wunsch, die Leiche ihres Sohnes zu sehen. "Mir bleibt nur die Trauer", sagt Al-Imam.

Die ägyptische Gemeinschaft von Darna, der libyschen Küstenstadt, die nach dem Bruch von zwei Dämmen am härtesten von den Überschwemmungen der vergangenen Woche betroffen wurde, zählte etwa 2000 Personen, bestätigt Tarek al-Kharraz, Sprecher des libyschen Innenministeriums, dem der Osten des Landes untersteht. Ein großer Teil dieser Menschen wird noch vermisst, die Identifizierung weiterer Opfer steht noch aus, fügt er hinzu.

91% der Migranten in Libyen stammten im August diesen Jahres aus Afrika südlich der Sahara und Nordafrika berichtet die IOM (Foto: MAHMUD TURKIA/AFP)
Nach Schätzungen der bei den Vereinten Nationen für Migration zuständigen Internationalen Organisation für Migration (IOM) lebten vor den durch Sturm "Daniel“ verursachten Überschwemmungen mehr als 230.000 Migrantinnen und Migranten im Osten Libyens. Aufgrund widersprüchlicher Angaben verschiedener Organisationen und Behörden kam es zu einiger Verwirrung bei der Zählung der Todesopfer, letzten Zahlen zufolge wird jedoch von bislang etwa 4000 ausgegangen. Mehr als 500 davon sind keine Libyer.

Etwa 10 Prozent der Opfer stammen aus dem Ausland

Nicht nur Ägypter sind betroffen. Nach Schätzungen der bei den Vereinten Nationen für Migration zuständigen Internationalen Organisation für Migration (IOM) lebten vor den durch Sturm "Daniel“ verursachten Überschwemmungen mehr als 230.000 Migrantinnen und Migranten im Osten Libyens. Aufgrund widersprüchlicher Angaben verschiedener Organisationen und Behörden kam es zu einiger Verwirrung bei der Zählung der Todesopfer, letzten Zahlen zufolge wird jedoch von bislang etwa 4000 ausgegangen. Mehr als 500 davon sind keine Libyer.

Genaue Zahlen sind auch hier schwer zu bekommen. Laut der sudanesischen Behörde für im Ausland arbeitende Sudanesinnen und Sudanesen stammen 276 der Toten aus dem Sudan. Die in Großbritannien ansässige Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, die gewöhnlich unter anderem die Kriegstoten in Syrien zählt, berichtet von mehr als 110 toten Landsleuten.

Außerdem wurden die Leichen von zehn Personen aus Bangladesch identifiziert. Staatsangehörige anderer Länder werden noch vermisst und es ist davon auszugehen, dass im Laufe der anhaltenden Bergungsarbeiten neben den libyschen Opfern weitere nicht-libysche Tote identifiziert werden. Von etwa 10.000 Menschen fehlt noch jede Spur und die Hoffnung, Überlebende zu finden, ist in dieser Woche weiter geschwunden.

Migrantinnen und Migranten zählen nicht nur zu den Todesopfern, auch unter den Menschen, die durch die Überschwemmungen obdachlos wurden, sind viele von ihnen. Zahlen der IOM zufolge waren mindestens 40.000 Menschen gezwungen, ihre Wohnungen zu verlassen.

Von denen, die Sturm "Daniel“ am 10. September obdachlos machte, beteiligen sich viele an der Suche nach Vermissten, doch mehrere Tausend sind in Städten und Dörfern weiter östlich untergekommen, während sich einige Hundert auf den Weg in den Westen des Landes gemacht haben, berichtet die IOM.

Die Mehrzahl der Menschen, deren Häuser zerstört wurden, ist bei Verwandten untergekommen, erzählt ein Sprecher der IOM der DW. Ob diese Personen aus Libyen stammen oder nicht, wurde bei der Zählung nicht berücksichtigt.

Die Mitarbeitenden der IOM kooperieren mit den Botschaften verschiedener Herkunftsländer, einschließlich der Vertretungen Somalias, des Libanon, des Sudan und Ägyptens, berichtet der Sprecher. Es sei jedoch zu früh für Aussagen darüber, wie sich die Überschwemmung auf Eingewanderte in Libyen ausgewirkt habe. "Wir stecken noch immer in der Phase einer rein humanitären Notfallmaßnahme" erklärt er.

Wütende Proteste in Derna gegen die lokalen Behörden (Foto: Zohra Bensemra/REUTERS)
Protest in der Stadt Darna gegen Verantwortliche in der Kommune: "Den Migranten in den betroffenen Städten wird voraussichtlich größere Fremdenfeindlichkeit entgegenschlagen, während die libyschen Gemeinden mit dem Wiederaufbau beschäftigt sind,“ schrieben Forscher des in Südafrika ansässigen Institute for Security Studies in einem letzte Woche veröffentlichten Bericht. "Die Identität toter Migranten wird seltener festzustellen sein und ihre Überreste werden seltener zur Bestattung in die Heimatländer rückgeführt werden."

Was zieht die Migranten nach Libyen?

Libyen ist das Ziel vieler Migrantinnen und Migranten aus Afrika südlich der Sahara und dem Nahen Osten. Vielen bietet die Ölwirtschaft des Landes Arbeit und ein Auskommen, während für andere das Land an der Mittelmeerküste nur ein Zwischenstopp auf dem Weg nach Europa ist, wo sie hoffen, Asyl zu beantragen und sich niederzulassen zu können.

Nur wenige von ihnen sind offiziell bei den libyschen Behörden gemeldet. Der Flüchtlingshilfe der UN in Darna sind lediglich etwa 1000 Asylsuchende und Flüchtlinge bekannt, vermutlich befanden sich jedoch während der Flutkatastrophe deutlich mehr in der Stadt. Die IOM geht zum Beispiel davon aus, dass etwa 8000 ausländische Staatsangehörige in Darna lebten.

Die meisten dieser Menschen stammten Angaben der IOM zufolge aus Ägypten, dem Tschad, dem Sudan oder dem Niger, hauptsächlich junge Männer zwischen 18 und 30 Jahren, die versuchten, Geld zu verdienen und an ihre Familien in der Heimat zu schicken. Viele haben illegal gearbeitet, was angesichts der chaotischen Regierungsverhältnisse im Land recht einfach ist. Seit 2014 ist Libyen in zwei Teile gespalten, mit rivalisierenden Regierungen im Osten und Westen des Landes. Auch aus Syrien, Bangladesch und Pakistan kamen Menschen nach Libyen.

Schon vor den Überschwemmungen äußerte sich Human Rights Watch besorgt über den Umgang mit Eingewanderten in Libyen. In der Vergangenheit dokumentierte die Organisation unmenschliche Bedingungen in Haftanstalten, die von Überbelegung bis hin zu Folter reichten. Seit den Überschwemmungen hat sich die Lage weiter verschlechtert.

"Irregulär Eingewanderte sind besonders schutzlos, denn ihnen fehlen die Existenzgrundlage, die Mittel und die Unterstützung innerhalb einer Gemeinschaft, die es ihnen erlauben, ihre Widerstandsfähigkeit zu stärken", schrieben Forscher des in Südafrika ansässigen Institute for Security Studies in einem letzte Woche veröffentlichten Bericht.

"Den Migranten in den betroffenen Städten wird voraussichtlich größere Fremdenfeindlichkeit entgegenschlagen, während die libyschen Gemeinden mit dem Wiederaufbau beschäftigt sind. Die Identität toter Migranten wird seltener festzustellen sein und ihre Überreste werden seltener zur Bestattung in die Heimatländer rückgeführt werden."

 

— Sada / صدى (@SadaJournal) September 16, 2023

 

Fehlende Kommunikation behindert die Suche

"Human Rights Watch ist sehr besorgt über das Wohlergehen von Migranten und Asylbewerbern in Libyen (im Allgemeinen) und insbesondere die Lage derjeniger, die von den Überschwemmungen im Osten Libyens betroffen sind", erklärt Hanan Salah, die für Human Rights Watch Libyen beobachtet.

"Die Bedingungen in den Städten und Dörfern, die vom Sturm getroffen wurden, sind katastrophal. Wir sind jedoch besorgt, dass Migranten und Asylbewerber, die in Libyen bereits zuvor unter extrem schlechten Bedingungen lebten, keinen Zugang zu grundlegenden Versorgungsleistungen erhalten, einschließlich Unterkunft, sauberem Wasser, ausreichenden Lebensmitteln und Gesundheitsversorgung."

Wo sich die Zugewanderten befinden, ob sie obdachlos sind, verletzt oder Schlimmeres, sei zudem sehr schwer festzustellen, fügt Salah hinzu. Mangelnde Kommunikationsmöglichkeiten könnten auch bedeuten, dass sie "Schwierigkeiten haben, ihre Familien und andere nahestehende Personen zu informieren", sagt sie gegenüber der DW. Die Seiten auf lokalen sozialen Medienplattformen sind Libyern zufolge voll mit den Namen von Vermissten, deren Familien nach ihnen suchen.

Der 27-jährige Mohammed Abdel-Rabah aus Syrien zählt sich selbst zu den Glücklichen. Er kam im vergangenen Jahr nach Darna und wurde lebendig unter Trümmern gefunden. Nun befindet er sich in einem Krankenhaus in Bengasi, wo seine Verletzungen behandelt werden. Der DW berichtet er am Telefon, wie er von den Fluten davongetragen wurde. Er konnte sich an ein Stück Holz klammern und wurde zum Glück an einer Stelle angeschwemmt, an der das Wasser nicht sehr tief war. "In diesen schrecklichen Momenten wurde ich Zeuge des Todes", sagt er. "Leichen lagen neben mir, über mir und unter mir."

Bevor er davongerissen wurde, sah er Dinge, die kein Mensch jemals vergessen würde, berichtet er. "Vom Dach meines Gebäudes aus sah ich Kinder, die schrien und mit den Armen ruderten, während das Wasser sie ins Meer trug. Ich betete zu Gott, dass er sie schnell sterben ließ, damit ihr Schmerz und ihre Schreie enden würden. Sie werden mich für immer verfolgen."

Islam Alatrash & Cathrin Schaer

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