"Das Beben wird ein Wendepunkt sein"

Unmittelbar nach dem Erdbeben kam es zu einer großen Solidarität in der marokkanischen Gesellschaft. Gleichzeitig traten auch gravierende Mängel in den staatlichen Institutionen zutage. Welche Lehren sich daraus ziehen lassen, beschreibt der marokkanische Publizist Ali Anouzla in seinem Essay.
Unmittelbar nach dem Erdbeben kam es zu einer großen Solidarität in der marokkanischen Gesellschaft. Gleichzeitig traten auch gravierende Mängel in den staatlichen Institutionen zutage. Welche Lehren sich daraus ziehen lassen, beschreibt der marokkanische Publizist Ali Anouzla in seinem Essay.

Unmittelbar nach dem Erdbeben kam es zu einer großen Solidarität in der marokkanischen Gesellschaft. Gleichzeitig traten auch gravierende Mängel in den staatlichen Institutionen zutage. Welche Lehren sich daraus ziehen lassen, beschreibt der marokkanische Publizist Ali Anouzla in seinem Essay.

Von Ali Anouzla

Noch immer werden in Marokko die Toten unter den Erdbebenopfern beerdigt. Noch immer werden die Überlebenden der Katastrophe versorgt. Doch wenn sich die von Schmerz und Trauer aufgewühlten Gemüter beruhigt haben und der Schock über die immensen Schäden abgeklungen ist, dann ist es an der Zeit, nüchtern zu beurteilen, wie der marokkanische Staat mit der größten Katastrophe in der modernen Geschichte des Landes umgegangen ist. 

Die Kritik an den schleppend angelaufenen Hilfseinsätzen, die sich in einigen Regionen um Tage verzögerten, wurde überlagert vom politischen Streit über die Hilfsangebote aus dem Ausland. Es ging um marokkanischen Stolz, verletzte Souveränität und wenig überzeugende Interpretationen dieser beiden Aspekte. Vielleicht waren die Diskussionen auch gewollt, um Kritik am staatlichen Handeln zu überdecken.

Tiefergehende sachliche Analysen fehlten völlig. Vielleicht werden sie noch kommen, wenn die körperlichen und seelischen Wunden verheilt sind und das Leid der Menschen vor Ort wieder in Vergessenheit geraten ist, so wie ihr Leben in Armut und Vernachlässigung jahrzehntelang vergessen war. 

Es geht hier weniger darum, die Arbeit jener Frauen und Männer zu bewerten, die ihr Leben riskiert haben, um die Opfer zu retten. Es geht auch nicht um individuelle und in der menschlichen Natur liegende Fehler einiger "Influencer“, denen es vorrangig darum ging, die Aufmerksamkeit ihrer Anhänger zu steigern.

Eine weinende Frau nach dem Erdbeben, Marokko, Foto: Fadel Senna/AFP/Getty Images
Land der zwei Gesichter: In den großen Städten an der Küste zeigt sich Marokko mit einer modernen Infrastruktur. In den abgelegenen Bergdörfern jedoch ist davon nicht viel zu sehen. "Die erste Lehre aus dieser Tragödie besteht vielleicht darin, dass sie vielen Marokkanern vor Augen geführt hat, wie große Teile der Bevölkerung ein vergessenes Leben in Armut und Verzweiflung führen“, schreibt Ali Anouzla.

Die Katastrophe dauert an

Was in Marokko geleistet wurde, ist nach allen Maßstäben großartig. Die marokkanische Gesellschaft hat in einer schwierigen Zeit, in der ihr Zusammenhalt auf eine ernsthafte Probe gestellt werde, Solidarität und Brüderlichkeit bewiesen. 

Es ist noch zu früh, um einen ausführlichen Essay zu schreiben, der das Geschehene im Detail und mit der gebotenen Objektivität kritisch betrachtet. Denn es liegt in der Natur von Kritik, sachlich auf die Fehler im Umgang mit der Katastrophe hinzuweisen, ohne dabei emotional zu werden und in eine mit übertriebenem Patriotismus aufgeladene Sprache zu verfallen.

Trotzdem können wir die ersten Lehren aus dieser großen Katastrophe ziehen. Es ist eine Katastrophe, die für all jene noch immer andauert, deren Wunden nach wie vor versorgt werden müssen.

Die Katastrophe dauert auch für jene weiter an, die um ihre Toten trauern und die ganz sicher noch viele Wochen, Monate oder gar Jahre von diesem Schicksalsschlag gezeichnet sein werden, während sie auf den Wiederaufbau ihrer vom Erdbeben zerstörten Häuser warten. Die tiefen seelischen Wunden werden alle Überlebenden ihr Leben lang verfolgen. 

Die erste Lehre aus dieser Tragödie besteht vielleicht darin, dass sie vielen Marokkanern vor Augen geführt hat, wie große Teile der Bevölkerung ein vergessenes Leben in Armut und Verzweiflung führen. Das geologische Ereignis des Erdbebens wurde durch die Reibung tektonischer Platten und tiefe Risse in der Erdkruste verursacht, die von Wissenschaftlern und Experten nicht vorhergesagt werden konnten.

Gleichzeitig kann man das Erdbeben auch als ein gesellschaftliches Warnsignal angesichts der tiefen Risse innerhalb der marokkanischen Gesellschaft verstehen. Die Reibung entlang dieses Risses könnte sich in einem gewaltigen sozialen Beben entladen, das die gegenwärtige oberflächliche Stabilität im Lanad erschüttern würde. Denn diese vermeintliche Stabilität verdeckt den Blick auf die großen sozialen Unterschiede, die offensichtliche Ungleichheit bei der Verteilung von Ressourcen und die kaum vorhandene soziale Gerechtigkeit. 

Marokko hat die Zahl der ausändischen Helfer nach dem Erdbeben begrenzt; Foto:Ximena Borrazas/SOPA/ZUMA/dpa
Rettungsarbeiten nach dem verheerenden Erdbeben: Marokko hat Hilfsangebote von Ländern wie zum Beispiel Frankreich aus politischen Gründen zurückgewiesen. "Die Kritik an den schleppend angelaufenen Hilfseinsätzen, die sich in einigen Regionen um Tage verzögerten, wurde überlagert vom politischen Streit über die Hilfsangebote aus dem Ausland“, schreibt Ali Anouzla. "Es ging um marokkanischen Stolz, verletzte Souveränität und wenig überzeugende Interpretationen dieser beiden Aspekte. Vielleicht waren diese Diskussionen auch gewollt, um Kritik am staatlichen Handeln zu überdecken.“

Das Volk rettet sich selbst

Die zweite große Lehre aus dem Erdbeben ist die komplettte Abwesenheit der Politik. Damit meine ich nicht, dass die politische Diskussion im Moment der Krise zum Erliegen kam, weil der Schwerpunkt auf der Rettung von Menschenleben und der Versorgung der Verletzten lag. Ich meine damit, dass die politischen Akteure während der gesamten Krise und bis heute durch Abwesenheit glänzen.

In den ersten Stunden und Tagen nach der Katastrophe schienen Parteien, Gewerkschaften und selbst die offiziellen Verbände der Zivilgesellschaft überhaupt nicht zu existieren. Der Staat und die Sicherheitsapparate haben in den letzten Jahren eine politische Aushöhlung betrieben, indem sie Freiheiten beschnitten und jegliche oppositionellen oder auch nur abweichenden Stimmen zum Schweigen gebracht haben. 

Aber die Solidarität unter den Menschen, die wir vom ersten Moment des Erdbebens an gesehen haben, sind aus einer großen Spontaneität heraus entstanden. Die Marokkanerinnen und Marokkaner reagierten nicht auf ein Zeichen oder einen Aufruf von wem auch immer.

Sie folgten ausschließlich ihrem eigenen Gewissen, das ähnlich wie eine biologische Uhr funktioniert und niemanden braucht, der es aufweckt. In den staatlichen Medien wird oft darauf hingewiesen, dass Marokko ein Staat der Institutionen sei.

Die Katastrophe hat jedoch gezeigt, dass hier eine große Leere herrscht und dass die sogenannten Institutionen, angefangen vom Parlament bis zu den ernannten Ratsgremien, lediglich Fassaden sind, die nichts zur Bewältigung der Krise beigetragen haben. Im Gegensatz dazu haben die beiden großen traditionellen Institutionen, die Armee und das Königshaus, bewiesen, dass man sich in Krisenzeiten auf sie verlassen kann. 

Überlebende in einem Bergdorf bei Amizmi. Marokko;Foto: Jan Philip Scholz/DW
Nicht nur tektonische, auch soziale Gräben: Man könne das Erdbeben auch als ein gesellschaftliches Warnsignal angesichts der tiefen Risse innerhalb der marokkanischen Gesellschaft verstehen, schreibt Ali Anouzla. „Die Reibung entlang dieses Risses könnte sich in einem gewaltigen sozialen Erdbeben entladen, das die gegenwärtige oberflächliche Stabilität erschüttern würde. Denn diese vermeintliche Stabilität verdeckt den Blick auf die großen sozialen Unterschiede, die offensichtliche Ungleichheit bei der Verteilung der Ressourcen und die kaum vorhandene soziale Gerechtigkeit.“ 

Kein Trost durch die Politik

Die dritte Lektion betrifft das marokkanische Volk, das den Opfern zu Hilfe eilte. Hier hat das Volk sich selbst geholfen, ohne viel Aufhebens und ohne leere Beteuerungen. Denn die einfachen Leute, die ihre wenigen Habseligkeiten mit den Opfern teilten, wollten ihre Landsleute retten und nichts anderes. Sie verfolgten keine versteckten Ziele. Wer nichts zu geben hatte, begnügte sich mit Gebeten und Tränen. 

Von der ersten Stunde an halfen die Marokkaner in der Katastrophe mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln und Möglichkeiten. Sie beteiligten sich an der Bergung und Versorgung der Verletzten, sie spendeten Blut und sorgten für Nahrungsmittel.

Damit haben sie das durch die Katastrophe ausgelöste Leid der Betroffenen erheblich gelindert und dazu beigetragen, den Verlust von Menschenleben zu begrenzen. Denn das Ausmaß der Schäden vor Ort wäre noch viel größer und schrecklicher gewesen, hätte die Bevölkerung nicht eingegriffen und die große Lücke gefüllt, die der Staat in der ersten Zeit nach dem Erdbeben hinterlassen hat. 

Zu den unerklärlichen und paradoxen Folgen dieser Krise gehört auch, dass sich kein einziger marokkanischer Verantwortlicher, auf welcher Ebene auch immer, an das Volk gewandt hat, um Trost und Beileid zu spenden und es darin zu bestärken, standhaft in dieser großen Krise zu sein, so wie es in vielen Ländern in einer derartigen Krisensituation geschieht.

Dort gehen dann Führungspersönlichkeiten und Repräsentanten hinaus und wenden sich an ihr Volk, um es zu trösten und zu ermutigen. Das ist in Marokko nicht geschehen, was paradox ist und sich kaum erklären lässt. 

Auf sich allein gestellt

Eine weitere, wenn auch nicht die letzte Lektion, die noch wenig Beachtung gefunden hat, besteht darin, dass viele Opfer sich selbst oder der Hilfe ihrer Verwandten und Landsleute überlassen wurden. Trotz ihres Ärgers über die verspäteten Rettungsmaßnahmen zu Beginn der Katastrophe haben sie ihre Wut unterdrückt.

Sie haben weder protestiert noch Kritik an den staatlichen Institutionen geäußert. Dies geschah weniger aus Angst vor negativen Konsequenzen ihres Tuns, denn in solchen Situationen obsiegt die Wut über die Angst, sondern weil diese einfachen Menschen seit Jahren und Jahrzehnten marginalisiert in den Bergen leben und daran gewohnt waren, völlig auf sich allein gestellt zu sein. Deshalb klagten sie nicht über den Staat, sondern flehten zum Himmel um die Gnade und Hilfe ihres Schöpfers. Aber keiner von ihnen rief den Staat oder seine Institutionen und Vertreter um Hilfe an. 

 

 

 

Das Beben als Wendepunkt?

Dies ist nicht die letzte Lektion, denn das geologische Erdbeben in Marokko wird in den kommenden Jahren und Jahrzehnten weitere soziale und politische Folgen haben. Es wird ein Wendepunkt sein, wie es viele große Wendepunkte gibt, die die Geschichte der menschlichen Ideen und die Erfahrungen der Völker geprägt haben. 

Zum Schluss möchte ich etwas weiter ausholen und einen Vergleich wagen. Das verheerende Erdbeben von Lissabon 1755 war damals bis nach Marokko zu spüren. Es hat viele Städte entlang der portugiesischen Küste komplett zerstört. Gleichzeitig hat es aber auch die Ideen der europäischen Aufklärung befeuert, Europa und der Welt eine Zeit des Aufschwungs beschert und die Ideen großer Philosophen geprägt.

So hat uns etwa Voltaire mit seinem Werk "Candide ou l'optimisme" (1759) gelehrt, dass aus großem menschlichen Leid auch jene Hoffnung erwachsen kann, die Nationen, Völker und Kulturen weiterbringt.

Hoffentlich bietet das Erdbeben in Marokko den Anlass, nicht nur die Opfer zu begraben, sondern auch die sozialen Unterschiede, die das Land gespalten haben. Hoffentlich führt diese Tragödie dazu, die Spaltung in ein Volk der Parteien und Gewerkschaften und ein Volk der marginalisierten und schweigenden Mehrheit überall im Land zu beenden. Wir brauchen kein zerstörerisches Erdbeben, das unsere Augen öffnet, sondern ein politisches Beben, damit wir den Blick auf diese schweigende Mehrheit richten und uns ihrer annehmen. 

Ali Anouzla  

© Qantara.de 2023  

Aus dem Arabischen übersetzt von Daniel Falk 

Ali Anouzla ist marokkanischer Autor und Journalist sowie Chefredakteur der Website "Lakome". Er hat mehrere marokkanische Zeitungen gegründet und redaktionell geleitet. 2014 erhielt er den Preis "Leaders for Democracy" der amerikanischen Organisation POMED (Project on Middle East Democracy).