Das ganze Land hilft 

Das verheerende Erdbeben in Marokko hat zu einer Welle der Solidarität mit den Opfern geführt. Viele brechen auf eigene Faust ins Katastrophengebiet auf und versuchen zu helfen. Doch der Wiederaufbau wird lange dauern.
Das verheerende Erdbeben in Marokko hat zu einer Welle der Solidarität mit den Opfern geführt. Viele brechen auf eigene Faust ins Katastrophengebiet auf und versuchen zu helfen. Doch der Wiederaufbau wird lange dauern.

Das verheerende Erdbeben in Marokko hat zu einer Welle der Solidarität mit den Opfern geführt. Viele brechen auf eigene Faust ins Katastrophengebiet auf und versuchen zu helfen. Doch der Wiederaufbau wird lange dauern. Von Hans-Christian Rößler aus Amizmi 

Von Hans-Christian Rößler

Die Karawane nach Süden nimmt kein Ende. Seit Tagen fahren vollgepackte Autos und Lastwagen in Richtung Amizmiz und weiter ins Atlasgebirge. Auf die Dächer haben sie Matratzen übereinander geschnallt, drinnen stapeln sich Säcke, Decken, Wasserflaschen. An der Motorhaube vieler Fahrzeuge klebt mit Panzertape die rote marokkanische Nationalflagge mit dem grünen Stern, manchmal auch im Fenster ein Bild von König Mohammed VI..



An einer Kreuzung sitzt einer der berühmtesten Komiker Marokkos und bereitet umsonst Frühstück für die Leute zu, die zum Helfen in den Süden fahren. Die schlimmste Naturkatastrophe seit mehr als sechs Jahrzehnten hat zu einer Welle nationaler Solidarität geführt. Nachdem vor einer Woche die Erde gebebt hatte, haben die Marokkaner schneller und beherzter reagiert als der Staatsapparat: Ohne abzuwarten, luden sie ein, was in ihre Fahrzeuge passt, und fuhren los. 

Das Unglück mobilisiert Marokko 

Aus dem ganzen Land machten sie sich auf den Weg. Nummernschilder aus Rabat, Casablanca und dem tiefen Süden sind zu sehen, dazwischen Kennzeichen aus Frankreich und Spanien, wo viele Marokkaner leben. "Wir sind gestern in Tanger aufgebrochen. Unsere Verwandten haben alles verloren, aber Alhamdulillah (Gott sei gepriesen) sind sie am Leben“, sagt ein Familienvater, in dessen vollgestopftem alten Peugeot für die Kinder auf der Rückbank fast kein Platz mehr ist.



Das Unglück eint und mobilisiert Marokko. Mehr als 2900 Personen sind ums Leben gekommen, mehr als 5600 wurden verletzt, mehr als 300.000 hat das Beben getroffen.

Ein Mann, der Frau und Tochter im Erdbeben verloren hat in den Überresten seines zerstörten Hauses, Marokko, 14. September 2023 (Foto: AP)
Große Hilfsbereitschaft: Die schlimmste Naturkatastrophe seit mehr als sechs Jahrzehnten hat zu einer Welle nationaler Solidarität geführt. Nachdem vor einer Woche die Erde gebebt hatte, haben die Marokkaner schneller und beherzter reagiert als der Staatsapparat: Ohne abzuwarten, luden sie ein, was in ihre Fahrzeuge passt, und fuhren los. 



"Wir konnten nicht einfach weiter Urlaub in Casablanca machen. Wir mussten etwas tun“, sagt Zakia Mkhayfi. Sie wohnt eigentlich in Frankfurt und war nur in Marokko zu Besuch, woher ihre Familie stammt. Sie ist mit ihrem Mann unterwegs ins Atlasgebirge, um ein Dorf zu finden, das ihre Spenden am dringendsten braucht. Warme Kleidung und Decken, denn bald setzt der erste Regen ein, dann beginnt der Winter, der bitterkalt werden kann.

"Wir haben ein Paypal-Konto eingerichtet. Es sind mehr als 5000 Euro zusammengekommen, mit denen wir hier einkaufen“, sagt die Deutsch-Marokkanerin. Andere hätten in Deutschland schon Lastwagen beladen und auf den Weg gebracht, auch in Spanien und Frankreich. Alle hielten zusammen. 

Privatkliniken schickten Personal und Fahrzeuge 

Kaum funktionierte das Internet wieder, ermittelten marokkanische Organisationen, Unternehmen und Familien über Whatsapp, Instagram und Facebook den Bedarf und koordinierten Lieferungen. Zeitweise waren so viele Privatfahrzeuge unterwegs, dass professionelle Rettungsmannschaften und Militärtransporter Schwierigkeiten hatten, durchzukommen.

Privatkliniken aus dem ganzen Land schickten Ambulanzfahrzeuge und medizinisches Personal. Auf der Landstraße bildeten sich Staus. Viele Bergsträßchen sind von herabgestürzten Felsen blockiert, einige Bergdörfer waren am Freitag immer noch unerreichbar. Hubschrauber werfen Hilfslieferungen aus der Luft ab, Mulis übernehmen die letzten Kilometer. 

Spätestens seit König Mohammed VI. am Dienstag in der nahen Stadt Marrakesch in einem Krankenhaus Verletzte besucht und Blut gespendet hatte, läuft auch der staatliche Apparat auf Hochtouren. Militär und Katastrophenschutz bekommen das anfängliche Chaos der spontanen Solidarität langsam in den Griff. In den Tagen nach dem Beben hatten viele Einwohner aus Plastikplanen und Decken Notunterkünfte gebaut, um sich vor den kalten Nachttemperaturen und der sengenden Sonne zu schützen.

Die Tür eines zerstörten Hauses inmitten der Trümmer in Imi N'tala, in den Randbezirken von Marrakesh, Marokko (Foto: AP/dpa)
Situation very different to the quake in Turkey: in Morocco's Atlas Mountains, simple houses made of wood and mud collapsed, burying people underneath. "Food and water are not the problem. Sanitation will become crucial when the autumn rains set in. And especially shelter for the winter," says Oliver Hochedez, head of Malteser International's emergency relief department. It is a huge task, one that will be impossible to accomplish before the first snow falls



Mittlerweile stehen an den Ortsrändern neue gelbe und blaue Zelte des staatlichen Zivilschutzes. Im oberen Teil von Amizmiz, wo das Beben ganze Straßenzüge zusammenstürzen ließ, stehen sie auf dem Marktplatz und in Olivenhainen. Die Armee hat ein Lager aus Mannschaftszelten für tausend Obdachlose eingerichtet – samt Feldküche und Apotheke. Uniformierte Soldaten nehmen weinende Kinder an die Hand, um mit ihnen ihre Familien zu suchen. Es gibt ein kleines Feldlazarett, Banken haben mobile Filialen in Marsch gesetzt. 

Die wenigen Habseligkeiten vieler Familien passen in ein paar große bunte Einkaufstaschen. Mit leerem Blick stehen sie vor den Trümmern ihrer Häuser, aus denen Matratzen ragen, neben den roten Scherben eines traditionellen Tajine-Topfs. Über Facebook habe sich seine siebenköpfige Familie bemerkbar gemacht, sagt ein Mann und zeigt den kleinen Spalt unter einem Betonträger, durch den sich auch seine alte Mutter ins Freie gezwängt hatte.

Die Suchmannschaften haben noch nicht aufgegeben, bergen aber seit Tagen nur noch Tote. Am Ortseingang von Amizmiz in einem Neubaugebiet haben Spanier und Briten ihre Zelte aufgeschlagen. Daneben parken zwei wuchtige rote Spezialfahrzeuge einer Rettungsmannschaft aus Qatar. In einem kleinen blauen UN-Zelt koordiniert die marokkanische Armee den Einsatz mit den Profis aus den vier anderen Ländern. 

Auf dem Gelände wäre noch genug Platz für weitere Helfer. Aber die Abstimmung läuft noch nicht reibungslos, nicht einmal mit einer angesehenen Organisation wie dem Roten Kreuz. Aus Deutschland sollte am Donnerstag der erste Hilfstransport nach Marokko starten. Doch das Flugzeug, das Hilfsgüter, die der regionale Partner vom Roten Halbmond erbeten hatte, von Leipzig nach Marrakesch bringen sollte, hob nicht ab. Es wurden "kurzfristig neue Regularien und Vorschriften bekannt gegeben. Wir arbeiten mit Hochdruck daran, die kurzfristig entstandene Verzögerung zu beseitigen“, teilte das Deutsche Rote Kreuz mit. 

"In einigen Dörfern blieb kein einziges Haus verschont“ 

Die Menschen brauchen schnell Hilfe, schon jetzt wird es nachts in den Bergen empfindlich kalt. „In einigen Dörfern blieb kein einziges Haus verschont“, sagt Oliver Hochedez in Marrakesch. Er leitet die Nothilfeabteilung von Malteser International, dem Hilfswerk des Malteserordens, seit Montag ist er mit einem Kollegen auf Erkundungsmission – in einem unwegsamen Berggebiet mit unzähligen Dörfern, in denen manchmal nicht einmal 60 Personen leben.

Die Lage sei ganz anders als beim Beben in der Türkei, das vor allem Großstädte mit moderneren Bauten traf. Im Atlasgebirge stürzten die einfachen Häuser aus Holz und Lehm zusammen und begruben die Menschen unter sich. 

"Wasser und Nahrungsmittel sind nicht das Problem. Sanitäre Anlagen werden wichtiger, wenn es bald zu regnen beginnt. Und besonders Unterkünfte für den Winter“, sagt Hochedez. Die Aufgabe ist immens, sie wird schon jetzt absehbar nicht zu schaffen sein, bevor der erste Schnee fällt. Das Königshaus veröffentlichte am Donnerstag aktuelle Zahlen: 50.000 Häuser sind demnach zerstört oder beschädigt. 

Hans-Christian Rößler

© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2023