"Wir müssen Antisemitismus und Islamfeindlichkeit gemeinsam bekämpfen"

Ein Migrant mit einer Wollmütze in den deutschen Nationalfarben Rot, Gold und Schwarz
Ein Migrant mit einer Mütze in den Farben Deutschlands (Foto: dapd)

Deutschland war lange Vorbild für seinen Umgang mit dem Holocaust. Doch jetzt benutzt es seine eigene Vergangenheitsbewältigung, um Minderheiten auszugrenzen, sagt die türkische Ethnologin Esra Özyürek im Gespräch mit Qantara.de.

Von Claudia Mende

Frau Özyürek, Bundespräsident Steinmeier hat vor einigen Tagen an Menschen mit palästinensischen und arabischen Wurzeln appelliert, sich von der Terrormiliz Hamas zu distanzieren. "Sprechen Sie für sich selbst. Erteilen Sie dem Terror eine klare Absage," sagte er. Wie würden Sie diesen Appell einordnen?

Esra Özyürek: Man muss diesen Appell zusammen sehen mit der Vorstellung, Palästinenser, Araber oder Muslime wären anders als die Mehrheitsgesellschaft und ihre Werte würden sich von denen der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden. Antisemitismus bildet den Kern dieser Differenz. Seit Jahren schon haben wir es mit der Idee eines neuen Antisemitismus zu tun, der mit dem Menschen aus dem Nahen Osten in Verbindung gebracht wird. 

Die Vorstellung, Migranten seien angeblich sexistisch und homophob, gibt es ja schon lange, aber die Frage des Antisemitismus ist zentral für die deutsche Identität und der Umgang mit dem Thema macht Deutschland nach 1945 aus. Die Idee, Antisemitismus unter Muslimen sei anders  als der Antisemitismus der Mehrheitsgesellschaft ist etwa ab dem Jahr 2000 aufgekommen, aber in den letzten Jahren hat diese Vorstellung nochmal ganz andere Dimensionen erfahren. 

Ich muss sagen, eine Äußerung wie die von Steinmeier, hätte ich (vom höchsten Repräsentanten des Landes, Anm. der Red.) nicht für möglich gehalten. Genauso beunruhigend ist es, dass im Parlament offen diskutiert wurde, ob Migranten, die antisemitisch auffallen oder sich gegen das Existenzrecht Israels äußern, die Staatsbürgerschaft entzogen werden kann.

Eine Frau legt weiße Rosen nieder am Mahnmal Gleis 13 am Berliner Bahnhof Grunewald
"Die Frage des Antisemitismus ist zentral für die deutsche Identität": Eine Frau legt weiße Rosen nieder am Mahnmal Gleis 13, Berlin, Bahnhof Grunewald. (Foto: IMAGO/IPON)

"Das ist gegen unsere gemeinsamen Werte“

Ein CDU-Politiker hat in der Debatte gefordert, "die deutsche Staatsbürgerschaft dürfe nur erhalten, wer sich ausdrücklich zum Existenzrecht Israels bekenne, und wenn jemand mit doppelter Staatsangehörigkeit mit antisemitischen Handlungen auffällt, müsse ihm die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen werden können“. 

Özyürek: Das sind einschneidende Forderungen, die die Werte gefährden, die wir nach dem Zweiten Weltkrieg verankert haben: Eine Gruppe von Menschen als essentiell anders zu kennzeichnen und ihnen mit dem Entzug der Staatsbürgerschaft zu drohen. Es war nach 1945 Konsens, dass es so etwas in einer Demokratie nicht gibt. Deshalb finde ich es sehr beunruhigend, dass solche Forderungen gestellt werden, selbst wenn das im Namen einer guten Absicht geschieht.

Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Vorschläge wie der Entzug der Staatsbürgerschaft wegen antisemitischer Äußerungen jemals Gesetz werden. Dazu sind die rechtlichen Hürden zu hoch, das wissen auch die Politiker. Aber welche Funktion haben solche Forderungen dann?

Özyürek: Sie sollen, wie wir das auf Englisch nennen, für einen "chilling effect“ sorgen. Solche Forderungen schaffen eine beängstigende Situation für Migranten, von denen viele nicht genau wissen, wie die Gesetzgebungsprozesse im Parlament ablaufen. Sie bekommen aber sehr wohl mit, dass solche Fragen öffentlich diskutiert werden und deswegen werden solche Forderungen dazu benutzt, um Menschen einzuschüchtern. 

Selbst wenn die entsprechenden Gesetze nie verabschiedet werden, zirkulieren die Forderungen in der politischen Sphäre und sie machen etwas mit der Gesellschaft. Oft schlagen Politiker etwas vor, um dann zu sehen, wie weit sie gehen können und die Grenzen auszuloten. 

Solidarität mit Palästinensern bei einer Demonstration in Düsseldorf
Solidarität mit Palästinensern bei einer Demonstration in Düsseldorf. Für Kritiker der israelischen Politik werden die Räume enger. (Foto: Christoph Reichwein/dpa/picture alliance)

"Wir brauchen Raum für Israelkritik“

Wo ziehen Sie denn die Linie zwischen legitimer Kritik an der israelischen Regierung und Antisemitismus?

Özyürek: Manchmal ist es einfacher, diese Frage anhand von anderen Ländern zu diskutieren. Indiens Präsident Narendra Modi hat zum Beispiel Kritik an Indien als anti-indisch verurteilt und hält sie für strafbar. Erdogan bezeichnet jede Kritik an der Türkei als islamophob. Ich bin gegen solche Zuschreibungen. 

Ich habe eine andere Perspektive auf die Türkei als alle Regierungen dort und ich will meine Meinung äußern dürfen. In Indien scheint mir, dass Modis Politik nicht in die richtige Richtung geht. Wieso sollte diese Kritik anti-indisch sein? Juden in Israel kritisieren ihre Regierung hart, in Deutschland gilt die gleiche Kritik als antisemitisch, das ist schwierig. Es sollte möglich sein, über solche Themen zu sprechen. Wir brauchen diesen Raum.

Aber es gibt ja Antisemitismus unter Migranten. Wie kann man ihn denn wirksam bekämpfen?

Özyürek: Für mich macht es Sinn, verschiedene Formen von Rassismus zusammen zu bekämpfen und zwar in der ganzen Gesellschaft. Ich finde es bedrohlich, wenn der Kampf gegen eine Form des Rassismus – den Antisemitismus – dazu benutzt wird, andere Minderheiten zu marginalisieren und verschiedene Minderheiten gegeneinander auszuspielen. Es gibt Antisemitismus und es gibt Islamophobie. 

Ich sage nicht, dass beide Phänomene gleich sind, sie haben eine unterschiedliche Geschichte, man kann nicht vergleichen, was Juden und was Muslimen passiert ist. Trotzdem kann man Antisemitismus nicht isoliert bekämpfen, ohne zugleich gegen Islamophobie vorzugehen.

Man kann nicht einer Gruppe in der Gesellschaft sagen, geht weg oder nehmt euch alleine des Problems an oder ihnen ständig sagen, ihr seid schlecht und anders, seid ihr überhaupt Menschen? 

Dass sich Menschen integrieren und zu unseren gemeinsamen Werten finden, indem wir sie ausgrenzen und bestrafen, halte ich für unrealistisch. Es ist viel realistischer zu sagen: Das sind unsere Werte, jeder wird respektiert, wir schätzen Verschiedenheit, wir sind gegen Diskriminierung und Hassverbrechen auf allen Seiten. Wenn man anfängt, Diskriminierung nur in manchen Fällen zu ahnden, funktioniert das nicht.

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Und was ist mit dem Anschlag von Hanau?

Sie meinen, es sei nicht hilfreich, Migranten immer wieder als Antisemiten hervorzuheben.

Özyürek: Was sagt das aus, wenn man wie Steinmeier fordert, dass Arabischstämmige sich von der Hamas distanzieren sollen? Wie weit reicht das zurück? Ein arabischer oder türkischer Hintergrund verschwindet nie, egal in der wievielten Generation man in Deutschland lebt. Außerdem erwartet man von Muslimen immer wieder, dass sie sich (von Terrorattacken, Anm. der Red.) distanzieren, das nimmt kein Ende. Aber was ist mit den weißen Deutschen, die islamophob sind? Niemand verlangt von weißen Deutschen, sich vom rechtsextremen Anschlag in Hanau zu distanzieren.

In den letzten Jahren gab es viele Programme gegen Antisemitismus speziell für junge Migranten. Haben sie überhaupt etwas gebracht?

Özyürek: Ich habe bei diesen Programmen durchaus junge Migranten getroffen, die durch die vielen Gespräche und Begegnungen eher einen Platz in der Gesellschaft gefunden haben. So gesehen haben die Programme sicher etwas gebracht. Junge Menschen bekamen die Chance, etwas über die deutsche Gesellschaft zu lernen, sie haben Auschwitz besucht und darüber reflektiert.

Aber ich finde manche Inhalte problematisch. So etwa wird sehr große Aufmerksamkeit auf die Geschichte des Muftis von Jerusalem, Amir Husseini, gelegt. Sicher spielt er eine ungute Rolle, aber der Großmufti ist nicht Hitler, er hat niemanden persönlich umgebracht, außerdem waren nicht alle Araber Anhänger der Nazis, es gab auch welche, die auf Seiten der Alliierten standen. So schafft man ein passendes Narrativ für Arabischstämmige, die dann Reue zeigen sollen, um sich als gute Bürger zu erweisen. So integriert man aber nicht, so grenzt man aus.

Die türkische Soziologin Esra Özyürek
"Ich finde es bedrohlich, wenn der Kampf gegen eine Form des Rassismus – den Antisemitismus – dazu benutzt wird, andere Minderheiten zu marginalisieren und verschiedene Minderheiten gegeneinander auszuspielen", sagt die türkische Soziologin Esra Özyürek (Foto: privat)

Die deutsche Gesellschaft ist in den letzten Jahrzehnten viel diverser geworden und es wird darum gerungen, wie diese Vielfalt in das Holocaust-Gedenken integriert werden kann. 

Özyürek:  Im traditionellen Holocaust-Gedenken ging es ganz stark um die persönliche Verantwortung. So hat die 68er-Generation darüber gesprochen, was ihre Eltern während der NS-Zeit getan haben. Jetzt haben wir etwa ein Viertel der Gesellschaft, deren Vorfahren zu der Zeit gar nicht in Deutschland waren und dem kann diese Form der Holocaust-Erinnerung nicht gerecht werden.

Aber das muss nicht heißen, dass wir unterschiedliche Formen des Gedenkens und der Erinnerung für verschiedene Gruppen in der Gesellschaft brauchen. Idealerweise müsste der Zugang zum Verbrechen des Holocaust die Gesellschaft zusammenbringen. Es geht ja um die gemeinsamen Werte, die wir aus der Bewältigung der Vergangenheit gewonnen haben und die für uns alle gelten.

Deutschland war lange Zeit mit seiner Vergangenheitsbewältigung ein Vorbild für Liberale wie mich in der ganzen Welt. Jetzt scheint mir das zu zerfallen und man benutzt diese Vergangenheitsbewältigung, um einen Teil der Gesellschaft auszuschließen. Das finde ich sehr enttäuschend. 

Ich sage das nicht, weil ich Deutschland unbedingt kritisieren will, sondern weil es einen weltweiten Nachhall hat. Wir können nicht mehr zu unseren Regierungen etwa in der Türkei, wo der Genozid an den Armeniern bis heute verschwiegen wird, gehen und ihnen sagen, ihr müsst die Dinge offenlegen so wie Deutschland. Es kann nicht Sinn der Sache sein, dass Vergangenheitsbewältigung zu einem Instrument wird, um Menschen zu bestrafen, die man herausdrängen oder loswerden will.

Die Fragen stellte Claudia Mende.

© Qantara.de 2023 

Esra Özyürek hat die Sultan Qaboos-Professur für Abrahamic Faiths and Shared Values an der Faculty of Divinity, University of Cambridge, inne. Sie studierte zunächst Soziologie an der Bogazici Universität in Istanbul, dann Anthropologie an der Universität Michigan, Ann Arbor, wo sie auch promovierte. Von ihr sind unter anderem erschienen: “Being German, Becoming Muslim: Race, Religion and Conversion in the New Europe” (2014), und “Subcontractors of Guilt: Holocaust Memory and Muslim Belonging in Post-War Germany” (2023).

 

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